Türkei: Weitere Schritte zum totalitären Staat

Foto: Wassilis Aswestopoulos

Nach der Wahl wird deutlich, dass Erdogan den Umbau des Staates zügig vorantreibt

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Wenige Tage nach der Wahl am 24. Juni wird deutlich, dass Erdogan den Umbau zu einem totalitären System zügig vorantreibt. Neben der Jagd auf die Demokratische Partei der Völker (HDP) rückt jetzt auch die kemalistische CHP ins Visier. Über 18.000 Beamte werden entlassen, ihre Namen über die Medien veröffentlicht. Über regierungsnahe Medien und Soziale Medien wird auch die Hetzjagd auf in Deutschland lebende Journalisten, Politiker und Wissenschaftler verstärkt.

Wahlmanipulationen und Merkwürdigkeiten

Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätten Erdogan und seine AKP die Mehrheit höchstwahrscheinlich verfehlt, lautet der Verdacht, der aus Berichten und Videoaufnahmen in den sozialen Medien über Wahlmanipulationen hervorgeht. In Urfa wurden beispielsweise stapelweise Wahlscheine für Erdogan und die AKP oder MHP abgestempelt und der Vorgang gefilmt.

In einer kurdischen Stadt wurden Stimmzettel für die HDP neben einer Mülltonne fotografiert. Andernorts stehen Polizei und Militärs bewaffnet neben Wahlurnen obwohl dies verboten ist. In Diyarbakir wurden 552 HDP-Stimmen der Vatan-Parti von Perincek gutgeschrieben.

Es gab massive Behinderungen für die internationalen Wahlbeobachter. Viele konnten ihre Einsatzorte erst gar nicht erreichen, weil sie festgenommen wurden. Andere wurden schon an der Grenze abgewiesen. Diejenigen, die es zum Einsatzort geschafft haben, wurden teilweise bedroht, in Nebenräume abgeschoben, an der Auszählung der Stimmen nicht beteiligt.

Die französische Senatorin Christine Prunaud wurde kurzzeitig mit ihrer gesamten Delegation festgenommen. Das alles erinnere an Chile unter Pinochet, empörte sich die Senatorin.

Im Gesamtergebnis und vor allem in den kurdischen Gebieten tauchte eine Merkwürdigkeit auf, der kaum Beachtung geschenkt wurde. Obwohl die HDP trotz aller Manipulationen in fast allen kurdischen Provinzen erneut die Mehrheit erreicht hat, konnte die faschistische MHP ihren Stimmenanteil teilweise mehr als verdoppeln - und das in einer Region, wo die MHP noch nie eine Rolle gespielt hat und von der dortigen Bevölkerung gehasst wird.

In Diyarbakir soll die MHP laut den Deutsch-Kurdischen Nachrichten 94% mehr Stimmen bekommen haben als bei den vorherigen Wahlen. In Bingöl sollen es gar 255% gewesen sein. Es ist schwer vorstellbar, dass die Kurden eine faschistische Partei wählen, die sich die Vernichtung der Kurden auf die Fahnen geschrieben hat.

Somit drängt sich der Verdacht auf, dass dort massenweise MHP Stimmen eingeschmuggelt wurden. Die Filmaufnahme aus Urfa bestätigt dies indirekt, denn dort ist zu sehen, wie mehrere Wahlzettel einmal mit Erdogan und dann mit der MHP abgestempelt wurden. Zu erklären wäre dies mit der Taktik, den gefakten Stimmanteil der AKP nicht zu hoch anzusetzen und über das Bündnis mit der MHP trotzdem die Stimmenanteile der HDP oder CHP zu drücken.

Massenentlassungen am letzten Tag des Ausnahmezustandes

An diesem Montag soll der Ausnahmezustand offiziell beendet werden. Am Sonntag erließ Erdogan noch schnell ein letztes Dekret. Mehr als 18.500 Beamte wurden fristlos entlassen, darunter 9.000 Polizisten und 6.000 Militärangehörige Ihnen wird, wie soll es auch anders sein, "Terrorunterstützung" vorgeworfen.

Das Amtsblatt veröffentlichte seitenlang alle Namen der Betroffenen mit Angabe der Stadt, der Funktion und der zugehörigen Behörde. Mittlerweile wurden mehr als 130.000 Personen aus dem öffentlichen Dienst entlassen.

Alle diese Personen dürfen in Zukunft nie wieder im öffentlichen Dienst tätig werden. Sie dürfen auch nie wieder in der Privatwirtschaft in ihrem Beruf arbeiten, bzw. dort eine Führungsaufgabe übernehmen. Sie haben keine Rentenansprüche mehr, müssen, falls sie in einer staatlich geförderten Unterkunft wohnen, diese innerhalb von 15 Tagen verlassen. Sie werden keine gesonderten Kündigungen erhalten, und gegen ihre Entlassung ist jeglicher Rechtsweg ausgeschlossen. Mit der Veröffentlichung ihrer Namen sind auch ihre Reisepässe annulliert. Sie dürfen das Land nicht mehr verlassen.

Kamil Taylan

Je nachdem, aus welchem Bereich die Gelisteten kommen, erlöschen auch Akademische Grade, Flugscheine und Schiffspatente. Das letzte Dekret umfasst auch noch die Schließung von zwölf Vereinen, drei Zeitungen und einem Fernsehsender, deren Eigentum an den türkischen Staat geht.

Druck auf die Opposition wächst nach der Wahl

Leyla Güven, seit Anfang des Jahres in Diyarbakir inhaftiert, wurde als HDP-Abgeordnete ins türkische Parlament gewählt. Ihrem Antrag auf Haftentlassung gab das Gericht statt. Der Gerichtsbeschluss wurde jedoch wenige Stunden später von einem AKP-Staatsanwalt einkassiert.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu drohte der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan in einem Telefonat mit dem Tod. In dem Telefonat machte er die HDP für den Tod eines AKP-Wahlhelfers in der Provinz Ağrı verantwortlich:

Wir werden euch schon zurechtweisen. Von nun an habt ihr kein Recht mehr auf Leben. Für den Tod seid ihr verantwortlich. Verschwindet von hier. Geht zur CHP oder nach Europa.

Innenminister Süleyman Soylu

Die HDP-Politikerin Buldan wies die Anschuldigungen zurück und kritisierte stattdessen die türkischen Behörden: Wie in Suruc seien auch in Ağrı anstelle der Täter Oppositionelle zur Verantwortung gezogen worden. Bei den Auseinandersetzungen in Suruc (siehe Türkei-Wahl: Manipulation und Einschüchterung) sei Menschen im Krankenhaus die Kehle durchgeschnitten worden.

"Doch nicht die Schuldigen, sondern unser Kandidat für das Parlament wurde verhaftet", kritisierte Buldan.

Gegen 16 Teilnehmer einer HDP-Wahlkampfveranstaltung im Istanbuler Stadtteil Bakirköy wurde Anklage wegen "Terrorpropaganda" erhoben. Ihr Vergehen: Sie hatten das Victory-Zeichen gezeigt. Dieser Gruß gilt jetzt als "Siegeszeichen der Terrororganisation PKK".

In Edirne wurde die berühmte kurdische Sängerin Hozan Cane verhaftet und Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation erlassen. Cane, die deutsche Staatsbürgerin ist, befand sich in der Provinz, um sich am Wahlkampf der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu beteiligen. Die Begründung ist an Absurdität nicht zu überbieten: Die Schauspielerin hätte in einer Szene aus dem Spielfilm "74th Genocide Shingal" eine Waffe getragen.

Hozan Cane spielt in dem Film die Hauptrolle und schrieb das Drehbuch für den Film. Der Film handelt vom Genozid an den Eziden im Şengal durch den IS im Jahr 2014.

Der abgesetzte kurdische DBP-Bürgermeister von Siirt, Tuncer Bakirhan, wurde zu zehn Jahren und 15 Tagen Haft verurteilt. Sein Vergehen: Er ist gewählter Bürgermeister der falschen Partei.