Das dynamische Lokale

Head Canon: Medien im epikritischen Zeitalter. Teil 5

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Teil 4: New York Times lesen in Magdeburg: Leib, Stadt und Medien

V.1 Die Fremdheit des Eigenen

Räume sind für die Konstruktion kultureller Identität bedeutsam. Als Orte schaffen Räume Kontext für soziale Interaktion, bei der wir den jeweiligen körperlich-leiblichen Identitäten eines Menschen den Status einer Person zuweisen (oder auch aberkennen), im Sinne Jan Assmanns Verständnis "personal[er] Ich-Identität".1 Als Nicht-Orte, wie Augé sie versteht2, sind Räume immerhin noch als symbolische Repräsentationen am Aufbau von Identität beteiligt. Die von Augé angeführten Hinweisschilder entlang von Autobahnen, die auf Städte und Sehenswürdigkeiten hinweisen, die entlang dieser Autobahnen liegen, die man aber eher nicht besuchen wird3, sind ein Beispiel für "kulturelle Formationen"4 im Sinne Assmanns.

Eine dritte Kategorie neben Ort und Nicht-Ort spielt ebenfalls hinein: der abwesende Raum, der weit entfernte, gerade oder nicht mehr zugängliche Raum. Das klassische Beispiel lieferte Jan Assmann mit seiner kulturwissenschaftlichen Interpretation des biblischen Exodus.5 Ägypten einerseits, "das gelobte Land" andererseits sind während des Exodus abwesende Räume. Seine Identität gewinnt das Volk durch Bezugnahme auf diese abwesenden Räume ebenso wie in dem Bund mit einem ortlosen Gott.6 Vor diesem Hintergrund erhält ein jüngeres Beispiel eine merkwürdige Wendung.

In ihrem Buch über das Vergessen schreibt Aleida Assmann über eine Straßenbahnlinie durch Jerusalem, an der mehrere historische Stätten der Palästinenser liegen, die in Folge des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 von den dort lebenden Arabern 'verlassen' oder aus denen die Araber 'vertrieben' wurden (je nach Perspektive). Während dieses als "Nabka" (Unglück) oder "palästinensischer Exodus" bekannten Ereignisses wurden Erinnerungsorte unsichtbar, d.h. nunmehr verlassene oder verschwundene Orte konnten für die Palästinenser nach der Nabka keine Erinnerungsfunktion mehr erfüllen. Für die Israelis wiederum behinderten diese Orte nicht weiter den Aufbau eigener Erinnerung.7 Aleida Assmann konstatiert, dass es in der Region seitdem drei zentrale Narrative für den Aufbau kollektiver Identität gibt, dass aber beide Seiten (Palästinenser und Israelis) jeweils nur zwei dieser Narrative teilen. 8 Während für die Israelis der Holocaust und der Unabhängigkeitskrieg entscheidend seien, so seien für die Palästinenser der Unabhängigkeitskrieg und die Nabka von Bedeutung.9 Alle drei Ereignisse waren gekennzeichnet durch den Verlust und den Gewinn von durch Orte repräsentierten kulturellen Formationen.

Magdeburg Ende des 19. Jahrunderts. Bild: Library of Congress

Ein anderes Beispiel ist die Geschichte der Stadt Magdeburg, die von mehreren einschneidenden Umbrüchen geprägt war. Im Mai 1631, während des Dreißigjährigen Krieges, wurden bei einer Belagerung und später Plünderung durch kaiserliche Soldaten ca. 20.000 Einwohner getötet; weitere mussten die Stadt verlassen. 1639 lebten nicht einmal mehr 500 Menschen in der Stadt. Erst im 19. Jahrhundert hatte sich Magdeburg von diesem Niedergang erholt. Die zweite große Zerstörung erfolgte durch den britischen Luftangriff am 16. Januar 1945, bei der ca. 90% der Innenstadt zerstört wurden. In der DDR wurde die Stadt im Sinne sozialistischen Städtebaus wiederaufgebaut. Der dritte große Umbruch geschah ab 1990, bei dem (wie auch in anderen Städten Ostdeutschlands) viele DDR-Bauten rückgebaut oder durch neue Gebäude ersetzt wurden, und wo ältere Gebäude, die in der DDR verfallen waren, instandgesetzt wurden. Im Laufe dieser Umbrüche verwandelte sich das Stadtbild massiv, womit immer der Verlust bestehender kultureller Formationen, die Schaffung neuer kultureller Formationen und zuletzt die Rekonstruktion früherer kultureller Formationen einhergingen. So war der Breite Weg bis 1945 wegen vieler barocker Gebäude als "Prachtstraße" bekannt, bis die Gebäude als kulturelle Formationen (in ihrem Verweis nicht nur auf Baustile und Epochen, sondern auch auf Alltagskultur) zerstört wurden. Die Reste der Katharinenkirche im Nordabschnitt der Straße wurden in der DDR gesprengt, sodass jegliche kulturelle Formationen, die auf die Vorkriegszeit hindeuteten, verschwunden waren. Erst so konnte sich das von der DDR verfolgte Ideal sozialistischer Städteplanung entfalten, was nun andere kulturelle Formationen und Verweise schuf - das "Haus des Lehrers" (heute Katharinenturm) am früheren Ort der Katharinenkirche; sozialistischer Klassizismus und schmucklose Plattenbauten; weite Aufmarschplätze. Dass der Verlust kultureller Formationen auch den Verlust von Erinnerung und damit Identität bedeutete, wurde in Kauf genommen. Zwar wurde in den "16 Grundsätzen des Städtebaus" (1950) die "Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur"10 zugestanden, doch da Städte als "Ausdruck des politischen Lebens und nationalen Bewußtseins des Volkes"11 verstanden wurden, war die Schaffung neuer kultureller Formationen nur konsequent. Die neuen Formationen stellten die neue politische Situation dar12:

Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut.

Architektur musste hier Verweis auf politische Werte sein ("monumentalsten Gebäuden") und den Ausdruck dieser Werte durch menschliches Handeln fördern ("Aufmärsche", "Volksfeiern"). Eine barocke, prachtvolle Einkaufsstraße hatte hier ebenso wenig Platz wie besondere Sorge um religiöse Bauwerke. Nach dem Ende der DDR wandelte sich das Bild erneut. Wieder wurden kulturelle Formationen ersetzt. Am früheren Aufmarschplatz entstanden Einkaufszentren. Industrie- und Hafenanlagen am Elbufer wichen grünen Promenaden. Historische Gebäude wurden restauriert. Nachbildungen zerstörter Formationen wurden gebaut, wie das Portal der Katharinenkirche. Diese Vorgänge sind Spuren der Suche nach Identität.

Der Punkt dieser Beispiele ist folgender: Ein Raum (eine Stadt, ein Land) erscheint zu einem Zeitpunkt 'so und nicht anders', weil er Ausdruck der momentanen (gewünschten und tatsächlichen) Kultur und Politik ist. Der Raum ist Sammelpunkt kultureller Formationen, die kanonische Funktion haben. Sie wirken wie gesetzt, fest, unveränderlich, und bis zu einem gewissen Maß bauen wir unser Alltagshandeln auf dieser Verbindlichkeit auf. Das täglich erlebte Lokale scheint einem möglichst statischem Ideal folgend.

Die Folge ist aber, dass unerwartete Abweichungen Irritation auslösen, vielleicht auch Widerwillen und Abwehr. Man wünscht den 'eigenen' Ort möglichst unverändert. Doch der Phänomenologe Bernhard Waldenfels weist in seinem Band "Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen" (2009) darauf hin, dass das Fremde immer schon im vertrauten Lokalen mitgedacht ist: "Der Raum, den wir bewohnen, ist kein pures Eigenheim."13 Sobald wir einen Ort als 'eigen', als 'unser', definieren, müssen wir davon ausgehen, dass das nur unsere Innenperspektive ist. Schon um diesen Ort zu beschreiben, muss es Fremde von außerhalb des Ortes geben, "sei es, daß sie eingelassen, abgewehrt oder ferngehalten werden."14 Zu ergänzen wäre, dass das nicht nur 'den Fremden' im Sinne des fremden Menschen von außerhalb betrifft, sondern dass Fremdheitswahrnehmung auch von innen heraus entstehen kann - neue Wertvorstellungen, die irritieren; neue Lebensmodelle, die abgelehnt werden; Menschen, die nicht von außen kommen, aber trotzdem 'fremde', d.h. ungewohnte, das Hergebrachte in Frage stellende, Vorstellungen entwickeln und damit womöglich selbst zu Fremden werden, usw.

Solche Veränderungen von Ort und Standpunkt führt oft zu Abwehr, denn die eigene Identität klammert sich an Orte und Werte. Doch "Abwehrmaßnahmen verhindern nicht, daß wir einander aus-gesetzt [sic!] sind, ob wir es wollen oder nicht."15 Man kann versuchen, Fremde durch Grenzen fernzuhalten und man kann fremde Wertvorstellungen oder neue Lebensmodelle zu verhindern versuchen, doch damit sind sie nicht aus der Welt, und nicht einmal aus dem Blickfeld. Darum schaffen Aktivitäten, mit denen Orte vor fremden Menschen und fremden Werten geschützt werden sollen, höchstens kurzfristig Erleichterung für jene Individuen, die die inhärente Fremdheit jedes 'Eigenen' nicht sehen, oder, wenn sie sie sehen, sie verleugnen. Dieser blinde Fleck - dieses Nichterkennen oder Nicht-wahrhaben-wollen, dass ein lebendiges Eigenes nur als Dynamik mit dem Fremden im eigenen Ort bzw. mit fremden Standpunkten möglich ist - ist eine der Ursachen für überzogenen Nationalismus, Rassismus und Freund-Feind-Denken.