Die Erfindung der katalanischen Rebellion durch die "unabhängige" spanische Justiz

Demonstration am Donnerstag zum angeblichen Jahrestag der Rebellion in Barcelona. Bild: CDR

Vor einem Jahr fiel der Startschuss mit der Belagerung des katalanischen Wirtschaftsministeriums für das Märchen einer "gewaltsamen Erhebung" in Katalonien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Laura Masvidal ist die Frau des ehemaligen Innenministers Joaquim Forn, der seit fast einem Jahr wegen einer angeblichen "gewaltsamen Erhebung" der Katalanen gegen Spanien im Knast sitzt, die vor einem Jahr gestartet sein soll. Er wird im Herbst mit weiteren Politikern und Führungspersönlichkeiten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung wegen "Rebellion" angeklagt, obwohl die Vorwürfe längst wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen sind.

Masvidal ist eine der Frauen und Männer, die den Angehörigen der politischen Gefangen seit den Vorgängen vor genau einem Jahr in Katalonien ein Gesicht geben. Sie klagt im Telepolis-Gespräch die "Märchen" an, mit denen versucht wird, Mitglieder der ehemaligen katalanischen Regierung, die ehemalige Parlamentspräsidentin und die beiden Aktivisten Jordi Cuixart und Jordi Sànchez für bis zu 30 Jahre hinter Gitter zu bringen. Sie spricht auch von ihren tiefgreifenden persönlichen Veränderungen, von zunehmenden "Spannungen" und davon, dass "lange und dunkle Jahre" bevorstehen können.

Ausgangspunkt der spanischen Gewalt-Phantasien, auf der das gesamt Anklagekonstrukt basiert - oder das "Komplott zur Inhaftierung", wie französische Medien es nennen - ist der 20. September 2017. An diesem Tag stürmten spanische Paramilitärs diverse katalanische Ministerien auf der Suche nach Material für das bevorstehende Referendum am 1. Oktober und nahmen 14 Personen fest. Ohne jede richterliche Genehmigung drangen spanische Sicherheitskräfte auch in den Sitz der linksradikalen CUP in Barcelona ein, denn die Regierung hatte die Devise ausgegeben, dass das Referendum "mit allen Mitteln" verhindert werde.

Auf den Vorgängen am Wirtschaftsministerium, woran am Donnerstag viele Menschen auf verschiedenen Protesten in Katalonien erinnert und die Freiheit der politischen Gefangenen gefordert haben, hat der Ermittlungsrichter Pablo Llarena seine "Rebellion" aufgebaut. Sein Problem ist, dass es die dafür notwendige "öffentliche gewaltsame Erhebung" nicht gab, wie mit Rebellion eine Art "Putsch" definiert ist. Er rekurriert auf die Vorgänge vor einem Jahr am Wirtschaftsministerium, wo 50.000 Menschen gegen die Razzia demonstriert hatten. Llarena hatte gegenüber der deutschen Justiz deshalb von einem "gewalttätigen Fanatismus" der Demonstranten gesprochen, weil fünf Jeeps der Guardia Civil an diesem Tag zu Bruch gingen.

Die Fahrzeuge waren vor dem Ministerium geparkt und brachen schlicht unter der Last der vielen Menschen zusammen, die auf die Wagen geklettert waren. Darunter befanden sich auch viele Journalisten, die von dem erhöhten Standort einen besseren Blick über die Menge erheischen wollten, wie auch in einem Dokumentarfilm belegt wurde. Dazu kommt, dass die Beschädigung von Sachen in Spanien nicht als Gewalt definiert ist, sondern nur ein "Angriff auf Menschen". Und bewiesen ist per Videos auch, dass die "Anführer" des "Aufruhrs", der später von Llarena zur "Rebellion" ausgeweitet wurde, von diesen Jeeps herab die Menge in der Nacht aufgefordert haben, die "Versammlung ruhig aufzulösen", um der im Ministerium eingeschlossenen Guardia Civil den Abzug zu ermöglichen.

Schon damit war das Märchen des Richters zerstört, an dem er bis heute festhält, dass Jordi Cuixart und Jordi Sànchez die "Kontrolle niemals benutzt haben, um die Versammlung aufzulösen". Damit wird weiter die Inhaftierung der beiden Präsidenten der großen zivilgesellschaftlichen Organisationen begründet. Die "Jordis" waren die ersten politischen Gefangenen und sitzen die längste Zeit. Die Argumentation des Richters geht dann so weiter. Da sie die Versammlung nicht aufgelöst hätten, hätten sie die Beamten bei ihren Ermittlungen "genötigt und verhindert", dass sie die "richterlichen Anordnungen umsetzen". Daran ist alles gelogen, schließlich wurden weder die Durchsuchungen noch die Festnahmen verhindert und zur Auflösung aufgerufen.

Groteske Anklagen

Llarena weiß, dass die Vorgänge am Ministerium keinesfalls ausreichen, damit ihm jemand sein Rebellions-Märchen abkauft. Deshalb fabulierte Llarena das "Risiko" herbei, dass es nach den Vorkommnissen am 20. September "bei späteren Mobilisierungen zu einer instrumentalisierten Gewalt zur Erreichung der Unabhängigkeit" kommen könne. Konkret sei "eine Eskalation der Gewalt für den Tag des Referendums zu erwarten" gewesen: "Trotzdem hat die autonome Regierung Kataloniens entschieden, das Referendum stattfinden zu lassen, und die Kräfte der autonomen Polizei verpflichtet sicherzustellen, dass die Befürworter des Abspaltungsprozesses an der Wahl teilnehmen können."

Bewiesen ist aber längst, dass es diese Gewalt von Seiten der Unabhängigkeit nicht gab. Zudem ist auch der Verweis auf die Regionalpolizei falsch, denn die Mossos d'Esquadra haben friedlich am 1. Oktober mehr Wahllokale geschlossen als die spanischen Sicherheitskräfte mit brutaler Gewalt. Die gab es bisher stets nur von Seiten spanischer Sicherheitskräfte und im weiteren Verlauf von Faschisten in den Reihen der Unionisten.

Beim Referendum sollte von Guardia Civil und Nationalpolizei offensichtlich in einer "gut geplanten militärähnlichen Operation aus", wie internationale Beobachter festgehalten haben, erst die Gewalt provoziert werden, von der Llarena spricht. Er nimmt deshalb sogar die etwa 1000 verletzten Menschen der Polizeibrutalität als Beleg für seine "Rebellion". Dass einem Bürger in Katalonien mit illegalen Gummigeschossen das Augenlicht weggeschossen wird - dafür wird das Opfer Roger Español nun angeklagt - und die Prügel, die friedliche Wähler bezogen haben, ist für die spanische Justiz bis heute ein Beleg für eine Art Putsch der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung.

Dass unvoreingenommene Juristen der spanischen Justiz diese Märchen nicht abkaufen, ist inzwischen auch bekannt. In Spanien sprechen führende Juristen von "grotesken" Anklagen, deutsche Richter konnten nicht einmal ausreichend Gewalt für einen Landfriedensbruch feststellen, weshalb die Auslieferung vom ehemaligen Regierungschef Carles Puigdemont wegen Rebellion oder Aufruhr abgelehnt wurde. Auch Belgien, Großbritannien und die Schweiz wollen katalanische Exilierte nicht an Spanien ausliefern.

Jordi Turull (links) und der inhaftierte Ex-Innenminster Joaquim Forn auf dem Weg zu einer Demo vor einem Jahr. Bild: R. Streck

Spanische Richter über die Unabhängigkeitsbewegung

All dies stört die spanische Justiz nicht an, die offensichtlich ein massives Problem mit der Unparteilichkeit hat. Was nicht passt, wird gegen "Nazis", "Putschisten", "Vergewaltiger" passend gemacht. Mit diesen Worten äußern sich Richter in einem Chat über die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, den die spanische Zeitung eldiario.es veröffentlicht hat. Es ist höchst verstörend, wenn die, die über die Vorgänge zu Gericht sitzen sollen, schreiben: "Mit Putschisten wird weder verhandelt noch gesprochen."

Der Chat belegt erneut auch, dass die Vorwürfe und Ermittlungen sogar deutlich vor dem 20. September gestartet wurden, obwohl offiziell das Märchen von Llarena auf diesen Vorgängen aufbaut. Es muss verstören, wenn ein Richter sogar schon zuvor eine demokratisch gewählte Regierung, die zudem absolut friedlich vorgeht, mit dem "Nazi-Regime" gleichsetzt. Dabei sprechen Richter im Nazi-Stil vom "infektiösen Virus".

Ein anderer ruft klar zur Unterdrückung der Bewegung auf: "Der Staatsstreich wird mit Siegern und Besiegten abgeschlossen oder er wird nicht abgeschlossen", lässt ein Richter den vom Diktator als Nachfolger bestimmten König und die paramilitärische Guardia Civil hochleben. Einer spricht sogar davon, dass die Unabhängigkeitsbewegung "ein Blutbad" gewollt habe. Ferner der Realität kann man kaum liegen, denn Spanien hatte Katalonien mit einem Blutbad gedroht. Viel spricht dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel das Schlimmste mit einem Anruf an den ehemaligen Regierungschef Rajoy am Referendumstag verhindert hat, weshalb das brutale Vorgehen am Nachmittag plötzlich abgebrochen wurde.