Spanien: Schlechte Zeiten für Gerechtigkeit

Protest für Freilassung der Gefangenen in Pamplona. Auf dem Banner steht: "Zwei Jahre Misere fördert das Beste in dir zutage, Freiheit für die aus Altsasua." Foto: Ralf Streck

Juristen, Politiker und Aktivisten sind sich einig, dass angesichts der Vorgänge in der spanischen Justiz nur die Hoffnung auf Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bleiben

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"Wenn man uns in einigen Jahren recht geben wird, ist es längst zu spät", hallt es über den Platz in der baskischen Stadt Pamplona. In Iruña, so der baskische Name, haben sich erneut zahllose Menschen versammelt, um gegen die Inhaftierung von sieben jungen Basken zu protestieren, die ebenfalls mit aller Gewalt zu Terroristen gestempelt werden sollen. Ainara Urkijo verliest einen Brief von sieben Freunden aus ihrer Kleinstadt Altsasua, die zum Teil seit zwei Jahren ohne rechtskräftiges Urteil in spanischen Gefängnissen sitzen.

Auch die junge Frau ist wegen der Kneipen-Rangelei mit zwei Mitgliedern der paramilitärischen Guardia Civil vor zwei Jahren erstinstanzlich am Nationalen Gerichtshof verurteilt worden. Die einzige angeklagte Frau erhielt aber Haftverschonung und mit zwei Jahren auch eine deutlich geringere Strafe. Ihre Freunde bekamen zwischen neun und zwölf Jahre aufgebraten und es könnte noch dicker kommen, wie Isabel Bel Pozueta im untenstehenden Interview erklärt, da die Staatsanwaltschaft weiter am Terrorismus-Vorwurf festhält und Strafen bis zu 62 Jahren fordert.

Wie die Gefangenen und ihre Angehörigen verlieren immer mehr Menschen wegen immer neuer Justizskandale die Hoffnung in die Justiz im Land. Es ist kein Zufall, dass am Montag sogar Richter und Staatsanwälte nicht nur für mehr Lohn und bessere Ausstattung der Gerichte gestreikt haben, sondern auch für eine unabhängige Justiz.

Dass es daran in Spanien mangelt, war Tenor auf dem zweitägigen Kongress, der in Pamplona zum zweiten Jahrestag der Verhaftungen in Altsasua organisiert wurde.

"Romanhafte" Erzählungen, die "nicht von Tatsachen gestützt werden"

Wie die gefangenen jungen Menschen äußerte sich auf einem hochrangig besetzten Podium auch Garbiñe Biurrun. Die Richterin am Obersten Gerichtshof im Baskenland meint auch, dass es wohl erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sein wird, der das Unrecht geraderücken wird.

Sie hofft aber weiter auf "neuen Lebenssaft in der Justiz, um mit solchen Fällen Schluss zu machen". Wie viele Kolleginnen und Kollegen hält auch sie die Vorwürfe für völlig überzogen. Sie verweist darauf, dass der politisierte Nationale Gerichtshof "sehr zugänglich" für "politische Interessen" sei. Die Vereinigung "Richter für Demokratie", der sie angehört, fordert auch immer wieder die Abschaffung des "Sondergerichts", das mit dem Fall betraut ist.

Die Professorin Soledad Barber sprach davon, dass die spanische Justiz nicht nur im Fall Altsasua "romanhafte" Erzählungen aufgebaut habe, die "nicht von Tatsachen gestützt werden". Die Rechtsexpertin stellte bei der Analyse des Verfahrens gegen die jungen Leute aus Altsasua "verschiedene Anomalien" fest. Sie streicht vor allem die unzulässige Anwendung von strafverschärfenden Umständen heraus, mit denen die harten Urteile begründet werden.

Auch ihre Kollegin Olga Rodríguez arbeitete massive Verletzungen von Rechtsgrundsätzen heraus und wies auf etliche "Ungereimtheiten und Widersprüche" in einem Verfahren in einem Ausnahmezustand hin. "Delikte müssen eigentlich vor einem normalen Gericht verhandelt werden, das am nächsten Liegende, und das ist hier in Pamplona und nicht in Madrid."

Ähnliches gilt für die Anwendung der Untersuchungshaft, die im Fall der jungen Leute sogar von vier auf sechs Jahre ausgeweitet wurde. Die Untersuchungshaft ist "auch eine Ausnahmemaßnahme" und das Gesetz schreibt das am "wenigsten invasive" Vorgehen vor.

So argumentiert die Justiz jedenfalls im Fall einer Gruppenvergewaltigung in Pamplona. Die fünf Männer, darunter ein Guardia Civil und ein Militär, blieben bis zum Verfahren auf freiem Fuß. Obwohl sie zu neun Jahren Haft verurteilt wurden, sind die fünf Männer aus dem südspanischen Sevilla weiterhin in Freiheit, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Und gegen die Männer aus Andalusien wurde auch vor einem ordentlichen Gericht verhandelt.

Hoffnung auf Druck aus Europa

Mit Blick auf die Wirkung, die es im Land haben dürfte, wenn Straßburg auch dieses Urteil irgendwann kassiert, ist Rodríguez wenig optimistisch. Sie meint, dass die "Erfindung" in der spanischen Gesellschaft weiterbestehen werde, die längst von diesem Diskurs durchtränkt sei. "Da ist es egal, was in Europa in einigen Jahren festgestellt wird."

Das sagte sie mit Blick drauf, dass ein Gang zum EGMR erst möglich ist, wenn alle Rechtsmittel in Spanien ausgeschöpft sind. Zuvor muss erneut der Nationale Gerichtshof entscheiden, dann der Oberste Gerichtshof und danach das Verfassungsgericht. Derweil könnten sich mit der neu geschaffenen Rechtsprechung solche Vorgänge zudem landesweit ausbreiten.

Möglich ist, dass die Betroffenen ihre Strafe sogar abgesessen haben, bevor in Straßburg entschieden wird. So war es im Fall von baskischen Politikern. Mehr als sechs Jahre hatten Arnaldo Otegi, Chef der linksnationalistischen Partei EH Bildu (Baskenland vereinen), und vier Mitstreiter als imaginäre Mitglieder der Untergrundorganisation ETA abgesessen. Seit zweieinhalb Jahren wieder in Freiheit, kassierte der EGMR gerade das Urteil, weil sie kein faires Verfahren hatten.

Die Anwältin der Altsasua-Gefangenen kennt das Problem mit Straßburg, wo Spanien immer wieder auch wegen Folter verurteilt wird. Amaia Izko hatte es aber 2012 geschafft, die Freilassung von dutzenden Basken durchzusetzen, deren Strafen über die Parot-Doktrin willkürlich verlängert worden waren.

Sie glaubte eigentlich, die spanische Justiz könne nicht noch tiefer sinken, doch "im Fall Altsasua war es der Fall", sagte sie gegenüber Telepolis. Die Ausweitung des Terrorismusbegriffs, mit dem nun sogar gegen friedliche Straßenblockaden in Katalonien ermittelt wird, sei seit vielen Jahren in Spanien zu beobachten.

Die Reform im Jahr 2015, die sogar von der UNO kritisiert wurde, sei dabei nur ein neuer Höhepunkt. Es sei eine politische Frage und sie hofft auf Druck aus Europa, um die Freiheit der sieben jungen Leute zu erreichen.

Dafür will sich auch Maite Mola im Europaparlament einsetzen. "Ihr habt meine vollständige Unterstützung", sagte die Vizepräsidentin der Linksfraktion (EL) den Angehörigen auf dem Kongress. "Altsasua ist ein klarer und brutaler Angriff auf die Menschenrechte", erklärte die Kommunistin.

Sie hofft, dass die Linke geeint auch andere Vorgänge auf die Tagesordnung setzt, wie die Freilassung des inhaftierten Katalanen. Das sagte sie den beiden Parlamentariern der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), die aus Solidarität mit den Altsasua-Gefangenen angereist waren.

Auch Parteichef von Gabriel Rufián und Joan Tardá sitzt wegen einer erfundenen Rebellion seit mehr als einem Jahr im Gefängnis, während die ERC-Generalsekretärin ins Schweizer Exil gehen musste.

Die beiden Parlamentarier blicken, angesichts des Schweigens in vielen europäischen Ländern zu den Vorgängen in Katalonien, wenig hoffnungsvoll nach Europa. "Man muss sich nur das Kräfteverhältnis im Europaparlament anschauen", erklärte Tardá. Er sprach von Spanien als einer "low cost" Demokratie, in der die "Demokratie" vor allem durch "Abwesenheit glänzt".

Das gelte aber nicht allein für Spanien, unterstreicht der ERC-Sprecher im spanischen Parlament. Für Rufián war wichtig zu bekräftigen, dass man sich das Lächeln nicht nehmen lassen dürfe, "denn sie wollen uns aggressiv und verärgert sehen. Den Gefallen dürfe man "den Faschisten" aber nicht tun. "Kerkermeister, ihr habt uns unsere Angehörigen, Freunde und Kollegen geraubt, aber früher oder später werdet ihr davon die Rechnung vom Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg erhalten", ist er überzeugt.