"Es geht darum, dass möglichst viele aus der Grundsicherung herauskommen"

Kerstin Tack. Bild: Deutscher Bundestag/Achim Melde

Kerstin Tack, Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion für Arbeit und Soziales, über die Debatte um Kinderarmut, den Streit um das Kooperationsverbot und die Arbeit der Großen Koalition.

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Frau Tack, fast jedes sechste Kind in Deutschland ist von Armut bedroht. Hat die SPD das Thema in den vergangenen Jahren vernachlässigt?

Kerstin Tack: Nein. Wir wissen seit Langem, dass besonders Kinder von Alleinerziehenden armutsgefährdet sind. Für diese Gruppe haben wir in der vergangenen Legislatur eine ganze Menge bewegt, ich denke da zum Beispiel an die Reform zum Unterhaltsvorschuss.

Kann man von einer erfolgreichen Sozialpolitik sprechen, wenn - trotz wachsender Konjunktur - die Zahl der Kinder, die in Armut leben, nicht sinkt?

Kerstin Tack: Unser Kurs ist richtig, aber wir sind natürlich noch längst nicht am Ziel. Gerade bei den Alleinerziehenden haben wir eine ganze Fülle an Maßnahmen, die wir in diesem Jahr umsetzen werden. Sie sollen zum Beispiel künftig auch dann einen Kinderzuschlag erhalten, wenn sie für ihre Kinder Unterhaltszahlungen oder einen Unterhaltsvorschuss erhalten. Durch die Verbesserungen im Bildungs- und Teilhabepaket tragen wir außerdem dazu bei, dass alle Kinder die gleichen Chancen haben - und zwar unabhängig vom Einkommen der Eltern.

Und was ist mit jenen Kindern, deren Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen?

Kerstin Tack: Eins ist doch klar: All diese Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern arm sind. Deshalb kommen wir nicht darum herum, uns der Situation im Ganzen zu stellen. Einzelne Maßnahmen sind hilfreich, lösen aber nicht das Grundproblem. Es geht darum, dass möglichst viele aus der Grundsicherung herauskommen.

Halten Sie es für sinnvoll, dass das Kindergeld auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird?

Kerstin Tack: Grundsätzlich finde ich es richtig, dass eigenes Einkommen und Vermögen eingebracht wird, bevor die Solidargemeinschaft durch Steuern unterstützt. Aber klar ist, dass niemand wegen der eigenen Kinder arm werden darf. Und Kinder, die unter schwierigeren Bedingungen aufwachsen, sollen die gleichen Chancen im Leben haben wie alle anderen auch. Was wir deshalb brauchen, sind angemessene Leistungen einer Kindergrundsicherung und eine gute und umfassende Unterstützungsinfrastruktur vor Ort.

Wann kommt die Kindergrundsicherung?

Ich bin dafür. Die SPD diskutiert schon lange mit der Wohlfahrtspflege, wie man eine solche Kindergrundsicherung umsetzen und ausgestalten könnte. Im Dezember hat Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann auf der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister ein Grobkonzept vorgestellt. Eine Mehrheit der Ländervertreter sprach sich in Münster dafür aus, dieses Konzept weiterzuentwickeln. Ich bin deshalb guter Hoffnung, dass wir hier bald zu Ergebnissen kommen.

Grüne und Linkspartei fordern die Einführung der Kindergrundsicherung bereits seit Jahren.

Kerstin Tack: Als Opposition ist es immer leicht, Dinge zu fordern, die man selbst nicht umsetzen muss. Sozialgesetzgebung funktioniert aber nicht nach dem "Wünsch-dir-was"-Prinzip, sondern ist eine äußerst komplexe Angelegenheit. Dort einfach einzugreifen, ohne sich vorher Gedanken darüber gemacht zu haben, wie Kinder mit so einer Grundsicherung am besten unterstützt werden können, halte ich für fahrlässig: So läuft man Gefahr, gerade diejenigen, die eine solche Unterstützung besonders dringend brauchen, außen vor zu lassen. Deshalb diskutieren wir das Thema nicht nur mit Fachleuten, sondern der ganzen Partei.

"Wir können nicht all unsere Ideen umsetzen"

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagt, Kinderarmut sei ein Skandal und jedes einzelne Schickzahl zähle ...

Kerstin Tack: ... Da hat er recht!

Seit Ende 2013 stehen SPD-Politiker an der Spitze des Ministeriums für Arbeit und Soziales.

Kerstin Tack: Richtig, aber da gibt es ja immer noch einen Koalitionspartner. Angesichts der Tatsache, dass die Damen und Herren der Union uns das Leben äußerst schwer machen, haben wir in der Sozialpolitik eine Menge erreicht.

Sie sind mit den Ergebnissen zufrieden?

Kerstin Tack: Weitgehend. Aber noch mal: Wir können nicht all unsere Ideen umsetzen. Klar ist aber auch: Wir als SPD arbeiten am Thema soziale Gerechtigkeit wie keine andere Partei in Deutschland. Und wir werden die Situation für Alleinerziehende und generell für diejenigen, die Hilfe brauchen, weiter verbessern.

Sie sagen, Sie könnten nicht all Ihre Ziele umsetzen. Was genau sind denn Ihre Ziele?

Kerstin Tack: Wir wollen so viele Kinder wie möglich aus der Situation herausholen.

Wäre es aus Ihrer Sicht ein Erfolg, wenn am Ende der Legislaturperiode 30 Prozent der Alleinerziehenden armutsgefährdet wären?

Kerstin Tack: Das Thema eignet sich nicht für Zahlenspiele. Und wir sollten auch nicht in Legislaturperioden denken, sondern Schritt für Schritt Ergebnisse liefern.

Deshalb die Frage nach dem Ziel. Sie sagen ja, die SPD wolle Gas geben, aber die Union stehe auf der Bremse.

Kerstin Tack: Es geht uns nicht nur um das Materielle, sondern - ganz wichtig - um die gesellschaftliche Teilhabe. Wir wollen den Betroffenen mehr Chancen ermöglichen. Dabei brauchen wir Maßnahmen, die sofort greifen, und andere, die langfristig greifen.

Zum Beispiel?

Kerstin Tack: Wir als SPD haben immer gesagt, dass es uns nicht nur darum geht, den Familien möglichst viel Geld zu geben, sondern auch für eine gute Infrastruktur zu sorgen. Den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Schulen, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, halte ich daher für enorm wichtig. Es erschüttert mich immer wieder, wenn Eltern mir erzählen, wie sie in ihrem Alltag versuchen, das Betreuungsproblem in den Griff zu kriegen. Diesen teils unmenschlichen Druck wollen wir den Familien nehmen. Es gibt viele Alleinerziehende, die aufgrund der fehlenden Betreuung ihres Kindes nicht in der Lage sind, ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

"Wir müssen die sozialen Berufe unbedingt attraktiver machen"

Bereits heute fehlen tausende Erzieher, laut aktuellem Bildungsbericht werden es bis zum Jahr 2025 mehr als 300.000 sein. Wie wollen Sie den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung umsetzen?

Kerstin Tack: Ich selbst bin Erzieherin und kenne die Situation. Wir wissen, dass es hier Probleme gibt. Deshalb wollen wir die Ausbildung zur Erzieherin und Sozialassistentin gern umbauen, ja sie in eine duale Ausbildung umwandeln, sodass Azubis mit einer angemessenen Vergütung rechnen können. Zudem muss das Schulgeld dringend weg.

Liegt es aus Ihrer Sicht lediglich an der Bezahlung?

Kerstin Tack: Das ist zumindest ein entscheidender Faktor, weshalb sich so wenige Menschen für die Arbeit in einem sozialen Beruf entscheiden. Das Gehalt schreckt viele Interessenten ab. Wir müssen diese Berufe unbedingt attraktiver machen. Deshalb arbeiten wir ja auch an einer Fachkräfteoffensive speziell für Erzieherinnen und Erzieher in der frühkindlichen Bildung und in Ganztagsschulen. Hier werden wir ordentlich investieren, im kommenden Jahr etwa 40 Millionen Euro.

Der Städte- und Gemeindebund sagt, eine Ganztagsbetreuung in Grundschulen sei "kaum erfüllbar". Die Kommunen könnten dies inhaltlich, organisatorisch, personell und finanziell nicht leisten.

Kerstin Tack: Das ist großer Unfug. Bei mir in Hannover haben wir schon die Hälfte aller Grundschüler, ja fast zwei Drittel, im Ganztagsbereich. Das ist eine immense Kraftanstrengung gewesen.

Es gibt Bundesländer, in denen noch nicht einmal 20 Prozent der Grundschulen auf einen verbindlichen Ganztagsbetrieb umgestellt haben.

Kerstin Tack: Dass es nicht überall reibungslos läuft, ist klar. In einigen Regionen gibt es Nachholbedarf, in anderen sieht es dagegen schon jetzt vorbildlich aus. Das braucht seine Zeit. Wichtig ist, dass wir gemeinsam ein Ziel ansteuern. Wir wollen den Kommunen helfen. Die meisten von ihnen haben sich ja schon auf den Weg gemacht.

"Das Kooperationsverbot muss aufgebohrt werden"

Nach wie vor ist Bildungspolitik Ländersache.

Kerstin Tack: Wir als SPD haben viele Jahre dafür gestritten, das Grundgesetz so zu ändern, dass der Bund endlich in den Ausbau und die Sanierung von Schulen investieren kann. Aber eben auch in den Ganztagsbetrieb und die Sozialarbeit. Dazu haben wir erst kürzlich im Bundestag beschlossen, das Kooperationsverbot zu lockern. Seien Sie sicher, wir werden unsere Vorhaben konsequent umsetzen.

Für eine Grundgesetzänderung ist bekanntlich eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat nötig. Die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Sachsen haben sich zuletzt klar gegen eine Lockerung des Kooperationsverbotes ausgesprochen. Frau Tack, war nicht absehbar, dass die Ministerpräsidenten sich schwertun mit derlei weitreichenden Änderungen?

Kerstin Tack: Natürlich steht es den Ländern zu, sich im Vermittlungsausschuss noch einmal über die Details der Grundgesetzänderung zu beraten. Aber klar ist auch: Wir wollen, dass Bund und Länder in Sachen Bildung miteinander kooperieren, nicht konkurrieren. Das Kooperationsverbot muss aufgebohrt werden.

Das heißt?

Kerstin Tack: Was die Länder, die Sie nennen, vorgeschlagen haben, ist, dass der Bund Steuergelder weitergibt und hofft, dass die Länder dieses Geld richtig verwenden. Wir aber wollen gezielt in die Ausstattung der Länder finanzieren, und dazu brauchen wir eine verfassungsrechtliche Grundlage. Deshalb nun die zusätzlichen Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern als Ganzes in Frage zu stellen, wie es die von Ihnen genannten Länder tun, halte ich für falsch.

Ihre Parteigenossin, die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig, sagt, der vorliegende Plan sei für keine Landesregierung zustimmungsfähig. Sollten der SPD-Bundestagsfraktion solche Kommentare nicht zu denken geben?

Kerstin Tack: Nein, denn Manuela Schwesig hat auch ganz klar gesagt, dass die Lockerung des Kooperationsverbotes richtig ist und nicht zur Debatte steht. Dass die Länder in Details der Finanzierung Beratungsbedarf haben und dazu den Vermittlungsausschuss anrufen, ist doch völlig legitim.

Frau Tack, Ihr Koalitionspartner hat vor Kurzem eine neue Parteivorsitzende gewählt. Sind Sie erleichtert, dass die bisherige CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer die Wahl gewonnen hat?

Kerstin Tack: Ich bin darüber weder erleichtert noch bin ich deshalb beunruhigt. Es geht jetzt darum, dass wir in der Großen Koalition trotz aller Unterschiede konstruktiv und verlässlich zusammenarbeiten können. Annegret Kramp-Karrenbauer hat nun die Aufgabe, die Rahmenbedingungen seitens der Union dafür zu schaffen.

Ginge es Alleinerziehenden in Deutschland heute besser - und wäre die Zahl der Kinder, die in Armut leben geringer - , wenn die SPD bei der Bundestagswahl 2013 auf ein rot-rot-grünes Bündnis gesetzt hätte?

Kerstin Tack: Ich bin keine Freundin von "Hätte-Wäre-Könnte"-Diskussionen, das bringt uns nicht weiter. Wir müssen uns jetzt darum kümmern, dass sich die Situation Alleinerziehender in Deutschland verbessert. Es darf nicht sein, dass es immer noch mit einem erheblichen Armutsrisiko verbunden ist, Kinder alleine zu erziehen. Deshalb müssen wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf viel mehr stärken und Familienfreundlichkeit in allen Bereichen weiter ausbauen. Im Herbst 2018 haben wir zum Beispiel das Gesetz zur Brückenteilzeit und zum Rückkehrrecht aus Teilzeit in Vollzeit beschlossen - Ende des Jahres :das Gute-Kita-Gesetz. Beide werden dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Angesichts des Wechsels an der CDU-Spitze und der Diskussionen innerhalb der SPD über den künftigen Kurs: Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die SPD noch vor Ende der Legislatur aus der Koalition aussteigt?

Kerstin Tack: Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass es nach zwei Jahren eine Halbzeitbilanz geben wird, einen politischen Kassensturz sozusagen. Dann ist der Zeitpunkt, um über das Fortbestehen der Koalition zu diskutieren - nicht jetzt.