Identitäre: "Großer Austausch" am Ende?

Die Identitäre Bewegung in Österreich befindet sich wegen des Christchurch-Attentäters in Kalamitäten, eine Bildmontage von Martin Sellner gibt zu denken

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Die österreichische Polizei und das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung durchsuchten die Wohnung Martin Sellners, Sprecher der Identitären im deutschsprachigen Raum. Die Wiener Politik diskutiert über eine Auflösung des Vereins. Sellner beklagt ausbleibende Unterstützung von Patrioten.

Die Identitäre Bewegung in Österreich (IBÖ) befindet sich in einigen Kalamitäten. Auslöser der aktuellen Ereignisse ist eine Spende über 1500 Euro, die Sellner Anfang 2018 erhielt. Als Absender trägt sie den Namen des Mannes, der beschuldigt wird, am 15. März das Attentat auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch verübt zu haben; es besteht kaum Zweifel daran, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Staatsanwaltschaft Graz nahm dies zum Anlass, ein Verfahren wegen des Verdachts der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung gegen Sellner zu eröffnen. Am 25. März wurde seine Wiener Wohnung durchsucht; alle Datenträger wurden beschlagnahmt.

Überdies wurde bekannt, dass der mutmaßliche Täter von Christchurch, ein australischer Nazi, Ende letzten Jahres nach Europa reiste. Auf seiner Route durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien besuchte er auch zweimal Österreich. Der Verdacht ist bislang unbestätigt, aber doch recht naheliegend, dass er dabei Gespräche mit Gleichgesinnten suchte und möglicherweise Kontakte knüpfen konnte - auch in der Alpenrepublik.

Österreichs Bundeskanzler Kurz (ÖVP) forderte daher die Aufdeckung von "Machenschaften im Hintergrund", Vizekanzler Strache und Innenminister Kickl (beide FPÖ) versprachen, alle Verbindungen des Australiers nach Österreich lückenlos aufzuklären. Sellner hält die Ermittlungen gegen seine Person für "völlig überzogen"; die sich anschließende Debatte über eine Auflösung der Identitären sei mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar. Von den Freiheitlichen der FPÖ ist er besonders enttäuscht.

Er habe nicht ahnen können, dass der ihm unbekannte Spender ein Attentat vorbereitete; deshalb habe er ihm wie jedem anderen Wohltäter eine Dankes-Mail geschickt. Er habe mit dem Mann nichts zu tun, versichert Sellner und äußert sogar die Vermutung, die "unverhältnismäßig hohe" und somit auffällige Spende sei in der Absicht getätigt worden, ihn und die Identitären "in die Sache reinzuziehen".

Allerdings kann eine ideologische Verbindung zwischen dem Attentat in Neuseeland und den Identitären nicht hinweggeredet werden. Unmittelbar bevor er sein Massaker startete, bei dem er 50 Menschen, darunter Frauen und Kinder, erschoss, stellte der Täter ein sogenanntes Manifest ins Netz, für das er die Überschrift "The Great Replacement" wählte, in deutscher Übersetzung "Der große Austausch". Das ist nun gerade das Kernstück der identitären Propaganda.

Die Identitären sehen Österreich, Deutschland und Europa einer "Invasion" nahöstlicher und afrikanischer Migranten ausgesetzt. Da diese Familien eine höhere Geburtenrate aufwiesen als europäische Familien, werde sich die Bevölkerung in Europa in absehbarer Zeit völlig anders zusammensetzen. Der "große Austausch" sei schon im Gang und werde von Angela Merkel und ihren Gönnern aus Gründen irgendeines privaten Vorteils bewusst vorangetrieben. Diese Konstruktion eines angeblich weltweiten Geschehens teilte der Mörder von Christchurch, der dementsprechend Frau Merkel an die Spitze seiner Todfeinde setzte. Das beschauliche Neuseeland wählte er als Tatort aus, um zu demonstrieren, dass Migranten nicht einmal dort eine Perspektive hätten.

Zu ihrer Rechtfertigung könnten die Identitären einwenden, dass man sie nicht dafür in Haft nehmen kann, wenn ein Irrer in Down Under den "großen Austausch" wörtlich nimmt. Doch dieser Begriff hat tatsächlich eine gewalttätige Konnotation. Gewalttätig ist er erstens durch die hetzerische Unterstellung, Flüchtlinge kämen nicht nach Europa, weil sie keinen anderen Weg sehen, Krieg, Gewalt und Not zu entkommen, sondern sie kämen mit der heimtückischen Verabredung, Europa "umzuvolken". Die Flucht wird von den Identitären als ein nicht-erklärter Krieg des Südens gegen den Norden behandelt. Dieser angebliche Kriegszustand ist, zweitens, eine Rechtfertigung für eigene kriegerische Handlungen, zumal die europäischen Regierungen in diesem Wahnbild Teil der feindlichen Verschwörung sind.

Wenn es Identitäre gibt, die nach aufrichtiger eigener Überzeugung keine Nazis sind, so gibt ihnen das fürchterliche Geschehen von Christchurch einen äußerst gravierenden Anlass, ihre bisherige Wortwahl und ihre bisherige Politik kritisch zu überdenken. Sellner ist davon allerdings weit entfernt. Er argumentiert umgekehrt: Weil die Gesellschaft zu wenig (?!) über den "großen Austausch" debattiere, würden sogenannte verzweifelte Kämpfer auf eigene Faust handeln. Die Identitären seien ein Angebot zu "friedlichem Widerstand", aber wenn man dieses Angebot diskriminiere oder verbiete, dürfe man sich über eine Zunahme des Terrorismus nicht wundern.

Solche erpresserischen Ansagen sind bei Rechten über die Ländergrenzen hinweg beliebt: Jetzt Trump - oder Bürgerkrieg, jetzt Brexit - oder Bürgerkrieg, jetzt AfD - oder Volksaufstand, Marsch auf Berlin, Tag X. Die Warnungen gehen in Drohungen über und die Drohungen üben auf jene, die sie ausstoßen, oftmals deutliche Faszination aus.

Daran muss man unwillkürlich denken, wenn man beispielsweise Sellners Twitter-Seite besucht. Dort hat er ein Bild montiert, das den Blick aus dem Hintergrund eines Flugzeugcockpits auf den Rücken zweier Piloten und von dort durch die Cockpitscheiben zeigt. Das Flugzeug fliegt in niedriger Höhe die Skyline der Hochhäuser einer Großstadt an.

Was will Sellner damit sagen, welche Botschaft soll die Montage senden? Ist es eine Szene aus einem Science-Fiction-Film? Ein Computerspiel ähnlich dem Microsoft Flight Simulator? Möchte der Identitäre seine Begeisterung für Technik und Digitalisierung demonstrieren?

Klar ist, wie ein Nutzer aus New York oder aus Frankfurt oder aus einer anderen luftverkehrsgeplagten Stadt auf die Grafik reagieren würde. Flugzeuge auf einer solchen Position und in einer solchen Höhe würden sofort jeden Alarm auslösen. Das heißt, dass das Bild eine Assoziation zu 9/11 auslöst.

Die ist nicht zwingend, aber möglich. Wer sie hat, dem fällt auch auf, dass die futuristisch gestalteten Piloten nicht an Mohammed Atta und seine Kumpane von 2001 erinnern. Sie entsprechen eher der roboterartigen Kriegerästhetik, mit der sich die Mörder von Utoya und Christchurch inszenierten.

Das hat Sellner bestimmt nicht gewollt. Er hat dieses Bild sicherlich ganz harmlos und gewaltfrei gemeint. Angesichts der komplizierten Gemengelage, in der er sich gerade befindet, und der vielen "Missverständnisse" um seine Person wäre es aber dringend angeraten, ein anderes Design zu wählen.

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