Breitscheidplatz: Getarnte Tatort-Untersuchungen?

Bild Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0

Polizei nimmt im März 2019 am Anschlagsort in Berlin Untersuchungen und Vermessungen vor und wiegelt gleichzeitig ab - Untersuchungsausschüsse wissen von nichts

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Gibt es über zwei Jahre nach dem Weihnachtsmarktanschlag immer noch Untersuchungen am Tatort, von denen außer der Polizei niemand weiß?

Am 12. März 2019 machte ein Bürger in Berlin Beobachtungen, die das nahelegen. In einem Bus fuhr er am Breitscheidplatz vorbei, wo am 19. Dezember 2016 der tödliche Anschlag mit einem Sattelschlepper verübt wurde. Die Polizei hatte die Zufahrtsstraßen abgesperrt, nur Linienbusse durften passieren. Schätzungsweise 15 bis 20 Polizeibeamte hätten sich auf dem Platz aufgehalten, und zwar vor allem an jenen zwei Stellen, wo der LKW auf den Markt gefahren und wo er zum Stehen gekommen war.

In der Wahrnehmung des Bürgers führte die Polizei "umfangreiche Vermessungsarbeiten" durch. Er sah Beamte mit Messlatten. Der Einfahrtsbereich sowie die Verkehrsinsel dort seien vermessen worden. Die Position des LKW sei mit einfarbigen Markierungstellern markiert gewesen.

Der Zeuge, der seine Beobachtungen der Telepolis-Redaktion mitteilte, erinnert sich, dass es ziemlich genau 10:40 Uhr war, als er am Breitscheidplatz vorbei kam. Auf der Rückfahrt gegen 12 Uhr seien die Straßen wieder frei und keine Polizei mehr vor Ort gewesen.

Ein auffälliges Szenario, zu dem man plausible amtliche Stellungnahmen erwarten dürfte. Doch dem ist nicht so. Das Bundeskriminalamt (BKA), das im Auftrag der Bundesanwaltschaft (BAW) die Ermittlungen zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz führt, verneint, aktuell "irgendwelche Vermessungen" vorgenommen oder "Tatort-Ermittlungen" durchgeführt zu haben. Die BAW in Karlsruhe will sich "prinzipiell" nicht zu Ermittlungen zu dem Anschlag äußern, also "weder bestätigen noch dementieren", dass sie etwas mit den Polizeimaßnahmen zu tun hat und dass es sich um Tatort-Ermittlungen gehandelt haben kann. Diese Haltung ist neu, denn vor einigen Wochen hat die Behörde Fragen zum Anschlag noch beantwortet.

Bleibt die Berliner Polizei. Sie bestätigt in der Tat, dass an jenem 12. März Beamte auf dem Breitscheidplatz im Einsatz waren und Markierungen und Vermessungen vorgenommen haben. Das hätte aber nichts mit dem Anschlag zu tun gehabt. Es habe sich um "Übungen mit Verkehrsunfallskizzen" gehandelt, wie sie jede Woche irgendwo durchgeführt würden. Man fahre dann Drohnen hoch und fotografiere die Unfallskizzen. Verantwortlich sei die Abteilung Kriminaltechnik des LKA. Dass diese Übungen ausgerechnet dort stattfanden, wo der LKW auf den Platz fuhr und wo er zum Stehen kam, sei "Zufall", so eine Sprecherin des Polizeipräsidiums.

Schwer zu glauben nach all den Manipulationen und Vertuschungsversuchen innerhalb des Berliner LKA im Komplex Amri, aber auch bei anderen Sicherheitsbehörden, wie man es Woche für Woche in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen erleben muss.

Was aber soll verschleiert werden, falls es sich doch um Tatort-Untersuchungen gehandelt hat? Standen diese Vermessungen womöglich in Zusammenhang mit den jüngsten Veröffentlichungen um Videos vom Tatgeschehen, aufgenommen vom Dach eines Hochhauses?

Was zeige die Videos vom Tatgeschehen?

Im März 2018 hatte das ARD-Magazin Kontraste eine wenige Sekunden lange Videosequenz ausgestrahlt, die zeigt, wie der LKW auf den Platz rast, und die endet, als er zum Stehen kommt. Aufgenommen wurde das Video von einer Kamera auf dem Europacenter am Breitscheidplatz. Darüber hinaus war eine zweite Sequenz in Umlauf, auf der man noch sieht, wie der Fahrer aussteigt. Seither stellte sich die Frage, wie lang das Urmaterial ist, was darauf zu sehen ist und wer es besitzt?

Ende Februar 2019 berichtete das Magazin Focus, es gebe einen "unter Verschluss gehaltenen Film", der nicht nur zeige, wie der Fahrer aussteige und "das Weite suche", sondern auch, dass eine zweite Person einem Mann "mit einem Kantholz an den Kopf schlägt", um dem Flüchtenden den Weg frei zu machen.

Erst jetzt erfuhr man, dass auch die Kontraste-Redaktion eine längere Aufnahme vorliegen hat, die man aber "dem Publikum nicht zumuten" wollte, weil man "heftige Dinge" darauf sehe. Um was für "heftige Dinge" es sich handelt, haben die Journalisten der Öffentlichkeit bisher nicht mitgeteilt.

Auch unter Betroffenen und Augenzeugen des Anschlages gibt es Stimmen, die das Video sehen wollen. Schließlich hätten sie die "heftigen Dinge" damals selber miterlebt, Tote und Verletzte. Ein Video könne sie nicht mehr schocken. Inzwischen ist bekannt, dass die Aufnahmen, die vom Europacenter herab gemacht wurden und dem BKA vorliegen, insgesamt etwa elf Minuten lang sind. Außerdem gibt es mindestens ein zweites Video, das ein Gast aus einem Hotel am Breitscheidplatz heraus drehte.

Immer wieder wird die Echtheit des Videos vom Europacenter in Zweifel gezogen, vor allem von Anschlagsleugnern, die größtenteils anonym im Internet unterwegs sind.

Standen die Vermessungen auf dem Breitscheidplatz vielleicht im Zusammenhang mit Echtheitsprüfungen des Videos?

Der Amri-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat inzwischen eine Fassung des Tatvideos erhalten. Es soll sich aber nur um die zweitkürzeste Version handeln, auf der man noch den Fahrer aussteigen sieht, nicht einmal um die Fassung, die Kontraste vorliegt, schon gar nicht um die elf Minuten lange.

Und auch von aktuellen Vermessungen und Tatort-Untersuchungen weiß man weder im Amri-Ausschuss des Bundestages noch dem von Berlin etwas.

Im Abgeordnetenhaus musste bei der jüngsten Sitzung wieder darum gerungen werden, dass Zeugenvernehmungen grundsätzlich öffentlich erfolgen. Zunächst beriet das Gremium intern eine dreiviertel Stunde, ob es überhaupt einen öffentlichen Teil geben soll. Vom Landeskriminalamt (LKA) waren zwei Kommissare als Zeugen geladen, die einen Großteil ihrer Aussagen nur hinter verschlossenen Türen machen wollten. Der eine ist zuständig für die V-Personen (VP), sprich: Spitzel, die im Bereich Organisierte Kriminalität (OK) eingesetzt werden. Der andere für dasselbe beim Staatsschutz, der politisch-motivierte Kriminalität verfolgt, wozu der radikale Islamismus zählt.

Von Interesse sind die beiden Bereiche, weil es Überschneidungen gibt und weil sich auch der mutmaßliche Attentäter vom Breitscheidplatz, Anis Amri, in beiden Milieus bewegt hatte. Er war Drogendealer und besuchte radikale Moscheen. In beiden Bereichen soll es auch V-Personen im Umfeld Amris gegeben haben, mindestens drei, wie der Leiter des LKA bestätigt hat. Außerdem hatte der Berliner Verfassungsschutz mindestens einen Spitzel, der sich in Amris Umfeld bewegte.

Die beiden Kriminalbeamten gaben im öffentlichen Teil der Sitzung nur allgemeine Auskünfte, wie die, dass Übernahmen und Spitzelsteuerungen stattfinden, wenn sich eine Zielperson zum Beispiel nach ihren Drogengeschäften (OK-Bereich) in eine Moschee begibt (Islamismusbereich) oder umgekehrt. Immer wenn es drohte, konkreter oder systematischer zu werden, verwiesen die Zeugen auf den folgenden nicht-öffentlichen Teil der Sitzung.

Seit wann werden V-Personen (VP) im Bereich Islamismus eingesetzt? Wie werden V-Personen gewonnen?

Wie wird die Anordnung, eine V-Person einzusetzen, umgesetzt?

Was wurde veranlasst, nachdem im Februar 2016 Bildmaterial zu Amri geliefert worden war?

Wo werden die Erkenntnisse über das islamistische Spektrum zusammengeführt?

Welche Überschneidungen zwischen Organisierter Kriminalität (OK) und Islamismus gab es im Fall Amri?

Wenn es zu Überschneidungen kommt, wechseln dann auch die Quellen die Bereiche?

Gehört zu einem VP-Einsatz auch die Beobachtung von Gefährdern? Gibt es V-Personen, die in OK oder Islamismus verstrickt sind?

Gibt es V-Personen in Gefängnissen?

In welcher Form wird mit den Nachrichtendiensten kooperiert? Welche Informationen spielten im Verbotsverfahren der Fussilet-Moschee eine Rolle?

Welche Aufträge gab es nach dem Anschlag für Quellen?

Werden durch die Konzentration auf islamistischen Extremismus in den Bereichen Links- und Rechtsextremismus keine V-Personen mehr eingesetzt?

Für alle diese Fragen galt: Antworten nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Diese Sitzungen dauerten länger als die öffentlichen. Immerhin markieren die Fragen das Gelände, in dem sich Amri und seine Komplizen bewegten.

Einsatz von V-Leuten

Den Einsatz von V-Personen muss in Berlin die Polizeipräsidentin anordnen. Das ist eine Konsequenz aus dem Anschlag und geht auf eine Verfügung des Staatssekretärs in der Innenverwaltung zurück. Das heißt: Die Entscheidungskompetenz wurde um drei Hierarchieebenen angehoben. Vor dem Anschlag hatten die Dezernatsleiter diese Kompetenz inne. Kann man daraus schließen, dass mit dem VP-Wesen etwas nicht in Ordnung gewesen sein muss?

Wie definiert sich "Umfeld"? Seit das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das eine V-Person in der Berliner Fussilet-Moschee führte, bestreitet, dass diese Moschee, in der Amri ein- und ausging, zum "Umfeld" des möglichen Attentäters zu zählen ist, stellen Abgeordnete in den Ausschüssen den verschiedensten Zeugen immer wieder diese Frage. Die Antwort des LKA-Beamten aus dem OK-Bereich war eindeutig: Wenn eine Zielperson regelmäßig ein Café aufsuche, dort Kontakt zu Leuten unterhalte und den Wirt kenne, könne man dieses Café zu ihrem Umfeld rechnen. Damit widerspricht er der Darstellung des BfV.

Beide LKA-Beamten erklärten, den Namen Anis Amri erst nach dem Anschlag gehört zu haben. Der Staatsschützer musste allerdings einräumen, dass seine Abteilung den Namen Amri spätestens ab Februar 2016 sehr wohl kannte. Der OK-Ermittler ließ offen, ob nur er den Namen nicht kannte, andere Kollegen aber möglicherweise doch. Grauzonen, die Raum für unterschiedliche Interpretationen bieten.

Wie unterschiedlich und widersprüchlich die Schlussfolgerungen sein können, zeigte sich in der Presserunde mit den Sprechern der Parteien. Für Stephan Standfuß (CDU) und Frank Zimmermann (SPD), der in den öffentlichen Runden keine einzige Frage stellte, hat sich bestätigt, dass die V-Leute des LKA nicht vor dem Anschlag mit Amri zu tun hatten, sondern ihn erst danach auf Bildern wieder erkannt hätten. Eine ziemlich freihändige Interpretation, weil ein Wiedererkennen ja voraussetzt, dass man jemanden gekannt hat. Außerdem widerspricht sie den Ausführungen des LKA-Chefs, der von drei Quellen "im Umfeld Amris" sprach. Für Niklas Schrader (Linke) dagegen liegt noch vieles von Amris Umfeld im Dunkeln. Sowohl was Quellen und V-Personen über Amri selber, als auch was sie über dessen Kontaktpersonen wussten. Der Grund sei, so der Abgeordnete, dass der Ausschuss noch keine Akten zu den V-Personen geliefert bekommen habe. Das mache die Untersuchung schwierig.

Aktenherausgabe umstritten

Dem Berliner Amri-Ausschuss werden aber noch von anderer Seite Akten vorenthalten. Man erfährt, dass sich das Bundesinnenministerium geweigert habe, Unterlagen zu übermitteln, weil der Ausschuss als Einrichtung eines Bundeslandes dazu nicht befugt sei. Das betrifft vor allem Akten des BKA, aber auch des Generalbundesanwaltes (GBA), für den wiederum das Bundesjustizministerium zuständig ist. GBA und BKA sind die Ermittlungsinstanz im Falle Breitscheidplatz-Anschlag. Ohne deren Akten kann der Ausschuss den Anschlag aber nicht untersuchen. Das ist ein Eingriff in die Befugnisse eines Parlamentes. Organe der Exekutive stellen sich eigenmächtig über Organe der Legislative.

Das Spiel ist bekannt, aber rechtlich fragwürdig, auch weil es sich bei dem Terroranschlag von 2016 um ein Ereignis von überragendem öffentlichen Interesse handelt. Im Juli 2017 trat der Leiter der Abteilung Terrorismus der Bundesanwaltschaft im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin auf und stand den Abgeordneten Rede und Antwort. Die Einladung, sagte Thomas Beck damals wörtlich, sei für ihn persönlich und seine Behörde "eine Ehre". Davon scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein.

Deshalb erscheint auch die Begründung für die Aktenverweigerung, die das Seehofer-Ministerium abgibt, vorgeschoben. Auch dem Bundestagsausschuss, der demnach doch befugt sein müsste, enthält das Ministerium ebenfalls Beweismittel vor: Zeugen, wie V-Leute des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) oder gar V-Mann-Führer des BfV.

Dagegen läuft eine Klage der drei kleinen Fraktionen FDP, Bündnisgrüne und Linke vor dem Bundesverfassungsgericht. Es ist die zweite. Über eine erste Klage hat jetzt der Bundesgerichtshof entschieden und den drei kleinen Fraktionen Recht gegeben. Dabei geht es um die Frage, ob der Ausschuss beantragen kann, von der Bundesregierung diejenigen Akten des BfV und des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Falle Amri beizuziehen, die auch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages bereits im Januar 2017 bekommen hat. Das ist innerhalb des Ausschusses umstritten. Die zwei größeren Fraktionen Union und SPD, die die Regierung tragen, waren der Meinung, ein solcher Beweisbeschluss sei unzulässig, weil er gegen die Geheimhaltung verstoße.

Der BGH sieht das nun anders und hat eine erstaunliche Entscheidung getroffen: Der Beweisbeschluss sei nicht nur zulässig, sondern der Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag Breitscheidplatz sei geradezu verpflichtet, von der Bundesregierung die nämlichen Akten beizuziehen. Er habe die Beweiserhebung aber nicht selbst angeordnet, so der 3. Strafsenat in Karlsruhe weiter, weil er davon ausgehe, dass sich der Ausschuss an Recht und Gesetz halte und die Entscheidung des Senates befolgen werde. Sprich: dass er beschließt, die Dokumente zu verlangen.

Ob der Ausschuss die Akten allerdings vollständig erhält, bleibt fraglich, denn das BGH-Urteil beinhaltet noch eine zwiespältige Komponente. Es sichert der Regierung zugleich das Recht zu, "einzelne geheimhaltungsbedürftige Unterlagen nicht herauszugeben". Damit relativiert das Gericht sein eigenes Urteil.