Indien: Die Reichen und Gutausgebildeten verlassen das sinkende Schiff

Ob als Tagelöhner, als Feldarbeiter oder auf der Müllhalde - 90 Prozent der Inder arbeiten im "informellen Sektor". Foto: Gilbert Kolonko

Die Umweltzerstörungen nehmen zu genauso wie die Ungleichheit und die Dollar-Millionäre - immer mehr von ihnen kaufen sich ausländische Pässe

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der neueste Wohlstandsbericht von Credit Suisse Global bestätigt erneut, wer vom 20-jährigen Wirtschaftswachstum in Indien am meisten profitiert hat: Während sich das gesamte Vermögen in Indien vom Jahr 2000 bis 2018 auf 6 Billionen Dollar verfünffachte, verneunfachte sich die Zahl der indischen Dollar-Millionäre von 39.000 auf 343.000.

Dazu passt eine Studie von Oxfam: Zwischen 2006 und 2015 stieg das Einkommen der Arbeiterinnen und Arbeiter in Indien jährlich um durchschnittlich zwei Prozent - wurde also von der Inflation "aufgefressen". Das der Millionäre stieg jährlich um zwölf Prozent. Im Jahr 2017 gingen 73 Prozent des erwirtschafteten Wohlstands an das reiche Ein-Prozent des Landes.

Der Ungleichheitsbericht 2019 der South Asia Alliance for Eradication (SAAPE) kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Die einkommensschwachen zehn Prozent der indischen Landbevölkerung besitzen pro Kopf im Schnitt Vermögenswerte von 342 US-Dollar. Die oberen zehn Prozent 77.591. In den Städten ist der Kontrast noch stärker. Dort besitzen die unteren zehn Prozent im Schnitt Vermögenswerte von vier US Dollar pro Kopf, während es bei den oberen 10 Prozent 197.763 Dollar sind.

SAAPE stellte fest, dass dies nicht nur für Indien gilt: Im Jahr 2010 waren die einkommensschwachen fünf Prozent von Bangladesch noch mit 0,78 Prozent am Wohlstand des Landes beteiligt. Heute sind es nur noch 0,23 Prozent. Dazu verloren 69,5 Prozent der ländlichen Bewohner Bangladeschs in den letzten zehn Jahren ihren Grund und Boden. Einer der Hauptgründe sei Landraub.

In früheren Artikeln auf Telepolis wurde aufgezeigt, wie die Besitzer der Garnelenfarmen an diesen "Raubzügen" beteiligt sind und wie der Staat mit Hilfe einflussreicher Gruppen Land für seine Sonderwirtschaftszonen organisiert (Bangladesch: Der Mensch frisst sich selber auf). So ist Bangladesch das Land mit der stärksten Wachstumsrate der Superreichen. Indien liegt in dieser Rangliste auf Platz vier.

Wer die Zeche zahlt

Sushovan Dhar, führender Mitautor des South Asia inequality report 2019, hält den Millionärs-Boom nicht für ein Zeichen einer florierenden Wirtschaft, "sondern für ein Symptom für eine stärkere Polarisierung des Wohlstands".

Und diese Divergenz nimmt immer mehr zu. Obwohl Indien historisch gesehen die größte Zahl der Armen in der Welt beherbergt hat, steht dieses Phänomen im Gegensatz zu der höchsten Zahl von Dollarmillionären und Milliardären, die es heute produziert.

Das Fehlen eines gerechten Zugangs zu Ressourcen, Arbeitsplätzen und menschlicher Entwicklung ist allzu allgegenwärtig. Diejenigen, die hart arbeiten, Nahrung für das Land anbauen, Infrastruktur aufbauen und in Fabriken arbeiten, haben Mühe, die Ausbildung ihres Kindes zu finanzieren, Medikamente für Familienmitglieder zu kaufen und zwei Mahlzeiten am Tag zuzubereiten.

Sushovan Dhar

Abschließend sagt Dhar gegenüber Telepolis, dass die wachsende Kluft die Demokratie untergräbt und ein Symptom für die Machtübernahme der Elite sei.

Die soziale Ungleichheit ist in Indien beinahe überall zu sehen. Bild: Gilbert Kolonko

Die Zeche für den Millionärsboom zahlen auch in Indien die Ärmsten. Durch einen kontinuierlichen Abbau der Arbeitnehmerrechte durch die Modi-Regierung und ihrer Vorgänger. Mittlerweile sind 90 Prozent der indischen Arbeiterinnen und Arbeiter im prekären informellen Sektor beschäftigt - ohne Kranken-Rentenversicherung oder anderen sozialen Absicherungen.

50 Prozent ihres Einkommens geben die Ärmsten für Nahrung aus. Laut einer WHO-Studie haben 68 Prozent der Inder keinen und nur geringen Zugang zu medizinischer Versorgung. Geringer Arbeitsschutz macht nicht nur die Arbeiter in den chromverseuchten Ledergerbereien krank und in einem frühen Alter erwerbslos. Die ungefilterten Abwässer der Billigproduktion fürs In- und Ausland verschmutzen die Flüsse.

Umweltschutz als Wettbewerbsnachteil

Ein nicht funktionierendes staatliches Abwasser-System ebenso. Die Wasserexpertin Chandni Sooad, Direktorin von Waterneer in Delhi, und ihre Kollegen sehen technisch kein Problem, verdreckte Flüsse wie den Ganges in vier bis fünf Jahren zu reinigen, doch selbst die Bauherren der Smart-Citys für die obere Mittelklasse sparen an einer Wasserreinigungsanlage. Die Wirtschaft Indiens sieht Umweltschutz überwiegend als reinen Wettbewerbsnachteil. Wie dann angeblich moderne Industrieparks aussehen, wurde auf Telepolis am Beispiel Kolkata aufgezeigt.

Die Folgen der apokalyptisch anmutenden Umweltzerstörungen haben ebenfalls verstärkt die Armen zu tragen: 70 Prozent alles Oberflächen Wassers (Seen, Flüsse, Kanäle) in Indien sind verseucht. 21 indischen Städten soll im nächsten Jahr das Grundwasser ausgehen. Seit diesem Jahr liegen nicht mehr 14 der meist verschmutzten Orte der Erde in Indien, sondern sogar 15. Für das Jahr 2017 wurde angegeben, dass 1,24 Millionen Inder an den Folgen von Luftverschmutzungen gestorben sind.

Diejenigen, die sich keine stromfressenden Luftfilter leisten können, trifft es am meisten: So ist die Lebenserwartung in Delhis wegen der Schadstoffbelastung um 10 Jahre geringer als im Landesdurchschnitt.

Dazu wachsen Kinder in der Hauptstadt Indiens mit kleineren Lungen heran als ihre Altersgenossen im Westen.

70 Prozent des Oberflächenwassers in Indiens ist verseucht. Foto: Gilbert Kolonko

Es verwundert also nicht, dass schon 31 Millionen Inder ausgewandert sind. Vorwiegend die "schlauen" Köpfe, wie eine Studie aufzeigt: So sind die Inder in den Vereinigten Staaten die ethnische Gruppe mit dem höchsten pro Kopf Einkommen des Landes: Mit 100.000 US-Dollar im Jahr, lassen sie auch die "Weißen" hinter sich.

Das Abwerben der Köpfe, auch Ostdeutschland kennt das

Die sehr wohlhabenden Inder umgehen die oft langwierigen Einbürgerungsprozeduren, indem sie sich einen zweiten Pass kaufen - vorwiegend in Malta, Zypern, Antigua und Barbuda und Grenada. In Deutschland hat sich laut Statista die Anzahl der hier lebenden Inder zwischen 2010 und 2018 verdreifacht, auf 124.095 Menschen. Sollte der ansteigende Trend der Zuwanderung aus Indien anhalten, dürfte die Millionengrenze in 15 Jahren erreicht sein.

Da im letzten Jahr ein Drittel aller 27.000 "Blauen Karten", die in Deutschland an Fachkräfte außerhalb der EU vergeben wurden, an Inder gingen, ist sogar zu erwarten, dass "die Million" weit früher erreicht werden wird.

Die Wirtschaft und damit auch die wirtschaftsfreundlichen Parteien CDU, FDP und AfD werden sich freuen - sie setzen ja auf weniger Staat, mehr Private und eine Lockerung des Arbeitnehmerschutzes: Hochqualifizierte Fachkräfte, für die eine 60-Stundenwoche normal sind. In Indien kommen sie vermehrt von Privatschulen, auf denen verstärkt das gelehrt wird, was die Wirtschaft braucht - Gewerkschaften gehören nicht dazu.

Nicht dazu gehört auch, sich für Chancengleichheit einzusetzen, in dem gesellschaftliche Gruppen unterstützt werden, die sich zum Beispiel für mehr Investitionen für freizugängliche Bildung einsetzen. Wie das ist, wenn einem die "schlauesten" Köpfe abgeworben werden, müssten die Bewohner in den ländlichen Gebieten Ost-Deutschlands eigentlich am besten wissen.