Wahl in Österreich: FPÖ von allen überschätzt

In den großen Medien wurde der ältesten rechtspopulistischen Partei durchweg ein erfolgreiches Abschneiden vorhergesagt

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Eine krachende Niederlage erlitt die FPÖ bei den österreichischen Nationalratswahlen vom 29.9.2019. Nach dem vorläufigen amtlichen Ergebnis, d.h. nach Auszählung aller Wahllokale und fast aller Briefwahlstimmen, erhielt sie nur mehr 16,2 %. Das entspricht einem Minus von 10%. Ein Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler hat sich dieses Mal von der Partei abgewandt.

Das Resultat ist in mancher Hinsicht bedeutsam. Die FPÖ ist die älteste sogenannte rechtspopulistische Partei Europas. Ihr anhaltender Aufstieg, der sie zweimal in die Bundesregierung führte, galt vielen Nachahmern als Blaupause. Le Pen, Salvini, Gauland, Wilders und Farage haben sich große Mühe gegeben, das Modell der selbsternannten Freiheitlichen zu verstehen und ihrerseits anzuwenden.

Das schwarz-braune Bündnis mit der ÖVP, dessen Farbgebung aus konjunkturellen Gründen erst in schwarz-blau und dann in türkis-blau modifiziert wurde, hat einflussreiche Freunde in der Welt und vor allem in Deutschland, wo die Alpenrepublik gern als politisches Versuchslabor betrachtet wird. Nicht zuletzt ist es für Ungarn bedenklich, dass die Orbanisierung im Nachbarland einen herben Rückschlag erlitten hat. Jetzt kriegt nicht einmal Philippa Strache, Tierschutzbeauftragte der FPÖ und Ehefrau des ehemaligen Parteichefs Heinz-Christian, ein Mandat.

Genügend Anlässe also, den Wahlabend im ORF mitzuverfolgen, eine gute Flasche zu öffnen und den Abend befreit ausklingen zu lassen. Bei den deutschen Leitmedien stellte sich allerdings keine Champagnerlaune ein. Denn sie hatten sich, was das Abschneiden der FPÖ betrifft, samt und sonders verkalkuliert. Wie konnte es zu diesem kollektiven Irrtum kommen?

Einheitliche Meinung: Die Ibiza-Affäre wird sich kaum niederschlagen

Stephan Löwenstein, Wiener Korrespondent der FAZ, besuchte Mitte September einen Parteitag der FPÖ, auf dem Norbert Hofer mit 98% Zustimmung zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde. Er erkannte: "Damit ist endgültig ein Schlussstrich unter die Ära des lange amtierenden Vorsitzenden Heinz-Christian Strache gezogen, der im Mai zurückgetreten ist, nachdem das sogenannte Ibiza-Video bekanntgeworden war." Diese Feststellung, von der FAZ im Vorspann des Artikels hervorgehoben - "Damit ist nun auch ein Schlussstrich unter die Ära Strache gezogen" - verblüfft, ist doch die Ibiza-Affäre bisher nicht einmal zur Hälfte aufgeklärt.

Nadine Graf, Hospitantin in der FAZ Onlineredaktion, sagte der FPÖ unter Berufung auf nicht näher genannte Meinungsumfragen 20% voraus. "Überraschend gering" seien ihre Verluste schon bei der EU-Wahl am 26. Mai gewesen. In gleich zwei Artikeln wiederholte die FAZ am Wahltag die 20%-Zahl für die Rechtspartei. "Trotz des Ibiza-Skandals von Heinz-Christian Strache könnte es wieder zu einer Koalition aus ÖVP und FPÖ kommen." Man kann nicht herauslesen, ob es sich bei dem Konjunktiv um eine Hoffnung oder um eine Befürchtung handelt.

Allerdings hatte Christian Geinitz, Wirtschaftskorrespondent in Wien, am Vortag einen "hochdekorierten Ökonomieprofessor" aufgetrieben, um seinen Lesern die Vorzüge von Türkis-blau zu erklären. Es habe "richtige Ansätze zur Austeritätspolitik" gegeben. Seit dem Ende der Regierung Kurz/Strache kühle sich die Konjunktur ab. Das macht dem Fachmann Sorgen. "Der Schwung der vergangenen Jahre ... sei mit dem Bruch der Koalition im Mai zu einem jähen Ende gekommen." Und noch einmal: "In der Wirtschaft herrschte eine positive Stimmung, man war der Ansicht, dass sich endlich etwas zum Guten verändert." Das müsse man anerkennen, findet der Ökonom und gibt damit die Stimmung in der wirtschaftsnahen FAZ ganz gut wieder.

Springers Die Welt wagte am 6.9. eine kühne Aussage. Silke Mülherr, Ressortleiterin für Außenpolitik, meinte, die Rechtspopulisten der FPÖ lägen "in den Umfragen auf dem zweiten Platz" hinter der ÖVP. Wer diese unappetitlichen Umfragen veranstaltete, verriet sie nicht. Der Spiegel sah die FPÖ am Vortag der Wahl ebenfalls bei 20% "trotz der Ibiza-Affäre, trotz der (...) Vorwürfe, Strache habe über Jahre hinweg erhebliche Summen für private Ausgaben über die Partei abgerechnet". Hasnain Kazim hatte einen ähnlichen Wissensstand wie die FAZ: die Ibiza-Affäre scheine "kaum Wirkung zu zeigen: Vieles spricht für eine Wiederwahl von Sebastian Kurz und seiner Koalition mit der rechten FPÖ." Er gibt der FPÖ 19 bis 26% und vermutet, dass "genau dieses Bündnis (zwischen ÖVP und FPÖ) nach der Wahl am Sonntag fortgesetzt wird".

Welche Aussichten entdeckte die Süddeutsche Zeitung für die FPÖ? Natürlich 20%. Andere Umfragen hat es anscheinend nicht gegeben, obwohl wir nicht einmal diese genauer kennen. Die SZ hat für den Parteitag, dem die FAZ einen Schlussstrich bescheinigte, die einfühlsame Überschrift einer "Wiederauferstehung" gefunden. "Hofer kann Harmonie". Andererseits hätten die Delegierten die rassistischen Ausfälle des ehemaligen Innenministers und aktuellen Parteivizes Herbert Kickl bejubelt. Das Führungsduo habe es verstanden, die Partei "schnell bei rund 20 Prozent zu stabilisieren".

"Sie waren vorgewarnt", berichtet Oliver Das Gupta über das Entsetzen der Freiheitlichen nach dem Bekanntwerden der Wahlergebnisse. Aber nicht von ihm. Während die Österreicher zu den Urnen gingen, präsentierte die SZ "das blaue Musterdorf" Nenzing im Vorarlberg. Das Abendlicht, der Sportverein, das Festzelt, die gut gebräunten Hähnchen im Grill, die Biergläser, der Nusslikör, die Männer und Frauen, die sich kennen und duzen. Heiler kann die Alpenwelt kaum dargestellt werden. Dass die "sprichwörtlichen kleinen Leute" in der 6000 Einwohner zählenden Gemeinde die FPÖ wählen, passt für Das Gupta ins Bild. Doch das Klischee ist falsch. Nenzing ist gerade kein Muster für Vorarlberg, das schon bei der Präsidentenwahl 2016 mehrheitlich für Van der Bellen und nicht für Hofer gestimmt hatte. Ungewollt ist der Artikel eine Rufschädigung der Provinz.

In der taz konnte Nina Horaczek von der Wiener Wochenzeitung Falter ihre Wasserstandsmeldung abgeben. "Trotz aller Skandale ist die Beliebtheit von ÖVP und FPÖ ungebrochen." Straches Fans hätten ihm die Ibiza-Affäre kaum übel genommen, "ganz im Gegenteil". Denn "die FPÖ-Anhänger scheinen vieles, wenn nicht alles zu verzeihen". Nach der Wahl sieht es für die taz anders aus. Jetzt ist die FPÖ "abgestürzt" und ihr Ergebnis "desaströs". Das Ibiza-Video und die Spesenaffäre hätten viele Wähler davon abgehalten, ihr Kreuz bei der Partei zu machen. Haben wir uns verschätzt? Vielleicht merkt es die Redaktion ja noch. Denn die 20% geisterten auch durch die Tageszeitung.

Die Zeit mochte nichts Eigenes erfinden, wenn sich alle anderen so einig sind. "Die rechte FPÖ, bisheriger Koalitionspartner von Kurz, lag in Umfragen zuletzt bei 20 Prozent." Eingangs eines Interviews mit einer Politikwissenschaftlerin stellte die Wochenzeitung fest: "Am Sonntag wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Die rechtspopulistische FPÖ wird erneut stark abschneiden - auch wenn ihr nach zahlreichen Skandalen Verluste drohen. Um eine Erklärung bemüht, behauptete die Expertin, in Österreich stelle eigentlich kaum noch jemand die Frage, wie rechts die FPÖ ist.

Ganz anders klingt das am 30. September. "Die FPÖ ist die große Verliererin", schreibt die Wiener Journalistin Anneliese Rohrer jetzt. Tiefer gehe es für die Partei kaum noch. 16 bis 17% seien der harte Kern ihres Anhangs. Rohrer denkt nicht daran zu reflektieren, ob an den bisherigen politik- und sozialwissenschaftlichen Analysen etwas falsch gewesen sein könnte. Stattdessen warnt sie, der Rechtspopulismus sei noch lange nicht am Ende (das hat auch niemand behauptet). Es sei grundfalsch, ihm mit Ausgrenzung oder Empörung zu begegnen. Hilfreich sei allein eine sachbezogene Auseinandersetzung. Der Gedanke, dass diese behutsame Sachlichkeit dazu beiträgt, die Frage, wie rechts die FPÖ ist, immer weniger zu stellen, kommt ihr nicht.

Den "kleinen Leuten" ist doch nicht alles egal

Die Auswahl ist selbstverständlich unvollständig - es könnten Dutzende ähnlicher Zitate hinzugefügt werden. Sie zeigen, dass der bürgerliche Mainstream zu einer einheitlichen Sprachregelung gefunden hat. Es kommt darauf an, die Mythen zu erschüttern - zerstören lassen sie sich ja nicht -, die in diesen Klischees enthalten sind, aber von dem österreichischen Wahlergebnis nicht bestätigt wurden.

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Glaube, das rechtsradikale Führungspersonal könne sich alles erlauben, ohne von den Wählerinnen und Wählern dafür bestraft zu werden. Nicht einmal die krassesten Enthüllungen könnten daran etwas ändern, weil es - hier kommt der zweite Mythos - den sprichwörtlichen kleinen Leuten egal sei. Die seien nun mal so stumpf, denkt man in den Redaktionsstuben, schreibt es aber nicht so offen.

Nun ist die FPÖ aber doch empfindlich bestraft worden. Den kleinen Leuten war nicht egal, dass Strache in Ibiza mit einer vermeintlichen Oligarchennichte dealte und dass ihm die Partei eine teure Wohnung und üppige Spesen finanzierte, was ihm neben seinen amtlichen Einkünften immer noch nicht reichte. Umgekehrt ist die Stumpfheit eher im Milieu der Bauunternehmer, Glücksspielmagnaten und Milliardärswitwen zu finden, die es nicht störte, wenn Strache in ihren Revieren jagte.

Und wie wird es Höckes AfD in Thüringen ergehen?

Dieser Befund lenkt den Blick zwangsläufig auf die Mitte Europas, sein grünes Herz, wie man in Thüringen stolz sagt, wo die nächste Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus am 27. Oktober bevorsteht. Hier kennen wir immerhin die Namen der Umfrageinstitute und es sind auch zwei verschiedene (Infratest dimap und INSA), wie es sich gehört. Sie ermitteln derzeit 28 bis 29% für Die Linke des amtierenden Ministerpräsident Bodo Ramelow und 24 bis 25% für die AfD mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Höcke. Das würde bedeuten, dass jeder vierte Thüringer und jede vierte Thüringerin gewillt ist, für einen Mann zu stimmen, der nach einem aktuellen Gerichtsurteil als Faschist bezeichnet werden kann, nachdem schon lange klar war, dass er in seinen Reden und Texten faschistische Inhalte vertritt.

Kann das wirklich sein? Oder wird die AfD wieder einmal zu hoch taxiert, wie es mit der FPÖ in Österreich und übrigens auch mit Le Pens Rassemblement National bei der letzten Europawahl der Fall war? Möglich wäre doch, dass es auch unter den Wählern und vor allem Wählerinnen der AfD viele gibt, die durchschaut haben, dass ihre Stimme bloß dazu benutzt werden soll, Höckes Führerkarriere nach historischem Vorbild in seiner Partei zu starten. Möglich wäre auch eine Scham darüber, dass der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gerade diesem Landesverband Geld spendete.

Darum wird Thüringen nicht hinter dem österreichischen Katholizismus zurückstehen wollen und Höcke bleibt unter 20%. Das ist die Meinung eines gebürtigen Thüringers.

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