"Nicht alles, was wir diagnostizieren, ist eine Krankheit im engeren Sinn"

Teil zwei des Gesprächs mit Ludger Tebartz van Elst über die Zunahme der psychiatrischen Diagnosen und das Problem der Stigmatisierung

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Ludger Tebartz van Elst ist Professor für Psychiatrie und stellvertretender ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Im ersten Teil des Gesprächs ging es um den Krankheitsbegriff und die Rolle sozialer Normen in der Psychiatrie.

Öffnen wir jetzt den sozialen Fokus noch etwas weiter: Psychische Störungen werden immer häufiger diagnostiziert. Es werden auch immer mehr Medikamente verschrieben. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Ludger Tebartz van Elst: Ich sehe das so, dass eine Psychiatrisierung der Gesellschaft stattfindet. Ich denke aber, dass sich die wenigsten Menschen und im Endeffekt auch die wenigsten Ärzte über die theoretischen Hintergründe psychiatrischer Störungen Gedanken machen.

Was bedeutet das überhaupt, so eine Diagnose zu bekommen?

Ludger Tebartz van Elst: Diese Diagnosen legen nahe, dass wir es hier mit Krankheiten zu tun haben. Streng genommen ist das aber nicht so. Darüber haben wir bereits gesprochen. In der Praxis verwendet ein Arzt so eine Diagnose vielleicht dafür, um einen Patienten von der Arbeit zu befreien - und das ist auch in Ordnung. Dafür braucht der Arzt irgendeinen Namen, irgendeinen Grund, der gesellschaftlich akzeptiert ist, und dann schreibt er vielleicht "Depression" auf.

Denken Sie beispielsweise an jemanden, der nach einem Trauerfall einen Durchhänger hat. Darum will ihn der Arzt von der Arbeit freistellen. Wenn der Arzt sich besser auskennt, dann schreibt er "akute Belastungsreaktion" auf, die hat auch einen ICD-Code. Das oder vor allem auch Kategorien wie "Depressionen" erscheinen vielen aber wie eine Krankheit. Dabei ist so eine Reaktion nach dem Tod des Partners oder des eigenen Kindes ein Stück weit psychologisch völlig normal.

Nur wenige Zeitgenossen machen sich aber darüber Gedanken, was das in den Köpfen der Menschen bewirkt. Viele unserer psychiatrischen Begriffe funktionieren in der Praxis wie Krankheitsbegriffe. Das kann zu Missverständnissen führen.

Woran denken Sie konkret?

Ludger Tebartz van Elst: Noch vor 30 Jahren waren Depressionen so stigmatisiert, dass ein Hausarzt das nicht so ohne Weiteres für eine Krankschreibung verwendet hätte, sondern eher so etwas wie Rückenschmerzen. Heute ist das anders und dann heißt es auf einmal: "Die Depressionen nehmen zu!" Das liegt daran, dass der Begriff heute so entstigmatisiert ist und dann beispielsweise für normale Trauerreaktionen verwendet wird, ohne im eigentlichen Sinn eine Krankheit zu bezeichnen.

Wenn man sich darüber nun philosophisch Gedanken macht, dann kommt man auf die Idee, dass etwas wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Anm. S. Schleim) oder Autismus auch eine Normvariante sein könnte. Was so eine Diagnose beschreibt, kann eine Krankheit sein, kann jedoch auch bloß eine Variante des menschlichen Lebens sein. Das ist vielen aber nicht klar.

Wenn ich Sie richtig verstehe, haben sich also Ihrer Meinung nach nicht so sehr die Menschen und ihre Probleme verändert, sondern eher, wie wir darüber denken, was wir als psychiatrisches Problem ansehen?

Ludger Tebartz van Elst: Ja - und das kann eine Krankheit im engeren Sinne sein, wenn sich dahinter etwa eine Reaktion des Immunsystems verbirgt, die zu einer Gehirnentzündung führt. Das ist eines meiner Forschungsthemen. So eine Erkrankung des Gehirns kann sich dann wie eine Depression äußern.

Entscheidend ist, ob es hier einen engen Zusammenhang zwischen der Entzündung und den depressiven Symptomen gibt. Es kann aber beispielsweise auch um eine normale psychologische Trauerreaktion gehen, die mit Freudlosigkeit, einer Antriebsstörung, Interessenverlust und einer Schlafstörung auftritt.

Wenn wir jetzt den Anstieg der Diagnosen so erklären, dann erschließt sich mir aber noch nicht, warum heute zur Behandlung psychischer Störungen so viel mehr Medikamente verschrieben werden, als noch vor zehn bis zwanzig Jahren.

Ludger Tebartz van Elst: Denken wir an das Beispiel ADHS. Das nenne ich eine "Strukturdiagnose", denn damit wird ein relativ stabiles Muster an Persönlichkeitseigenschaften beschrieben. Auch die ADHS kann eine Krankheit im engeren Sinne sein, wenn sie etwa als Folge einer Gehirnentzündung oder eines genetischen Defekts auftritt, zum Beispiel beim Fragilen-X-Syndrom. Man kann sie aber auch als eine Normvariante auffassen, die mit verschiedenen Genen zusammenhängt, so wie eben auch die Körpergröße.

Früher sagte ich noch: Für Strukturdiagnosen keine Medikamente! Da passt man sich besser an, so wie sich besonders große oder besonders kleine Menschen eben auch anpassen. Heute denke ich aber, dass man ein Medikament wie Ritalin als Hilfsmittel sehen kann, wie etwa eine Brille für Kurz- oder Weitsichtige.

Würden Sie die Analogie mit der Brille noch etwas ausführlicher erklären?

Ludger Tebartz van Elst: Im Mittelalter sind Strukturmerkmale einer Person, die wir heute unter dem Begriff der ADHS zusammenfassen, wahrscheinlich weniger als störend aufgefallen. Vielleicht sind sie für die Kämpfer sogar von Vorteil gewesen.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Brille: Als Bauer ist damals Weitsichtigkeit kein Problem gewesen. Man konnte dann eben keine Bücher lesen. Das wollte man aber auch gar nicht. Heute ist das anders. Meinen Lebensweg als Professor - ich bin ursprünglich ja Bauernsohn - hätte mir das völlig versperrt, hätte ich nicht das Hilfsmittel Brille auf der Nase.

Die psychopharmakologischen Substanzen können Sie jetzt kritisch "Lifestyle-Medikamente" nennen. Das ist auch nicht immer ganz falsch. So könnte man die Brille aber auch verstehen. Beim Einen ist das Auge eben etwas länger, beim Anderen etwas kürzer.

Ich bin weder völlig für, noch völlig gegen die Medikamente. Ich schaue mir im Einzelfall an, wie jemand mit seinen Strukturmerkmalen in seinem Leben funktioniert. Wenn die Probleme so gravierend sind und Stimulanzien wie Ritalin dem Menschen helfen, dann sehe ich das wie die Verwendung einer Brille. Wenn die Medikamente helfen, heißt das aber nicht zwingend, dass derjenige krank ist. Das ist sehr komplex und die Grenze zwischen "gesund" und "krank" ist hier fließend.

Sie führen zum Vergleich das Mittelalter an. Bei den Medikamenten ist es aber doch so, dass es in den letzten zehn, zwanzig, dreißig Jahren einen erheblichen Anstieg gegeben hat. Spiegelt das keinen gesellschaftlichen Wandel wider? Und wird dann nicht zu viel von den Mitteln verschrieben?

Ludger Tebartz van Elst: Bleiben wir beim Ritalin. Da gibt es innerhalb der letzten zwanzig Jahre tatsächlich einen dramatischen Anstieg. Es scheint aber so, als sei der Höhepunkt nun erreicht. Ist das zu viel oder zu wenig?

Ich kenne Fälle, in denen Eltern das Medikament bei ihren Kindern einsetzen und ihnen damit im Grunde vermitteln: Du bist nicht gut so, wie du bist, und wir wollen unbedingt, dass du jetzt das Abitur schaffst. Das kann negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes haben. Ich kenne aber auch Fälle, in denen die Folgen insgesamt sehr positiv sind. Das hängt vom Einzelfall ab und es ist schwer, hierzu etwas Grundsätzliches zu sagen.

Mein Brillenbeispiel hat zwei Seiten: Einerseits lässt es den Griff zu den Medikamenten als selbstverständlicher erscheinen. Andererseits fällt damit aber das Problem der Nebenwirkungen unter den Tisch.

Die Brille lässt sich einfach absetzen, wenn ich damit nicht gut sehen kann. Wenn ich aber Ritalin nehme, dann kann ich mich vielleicht besser konzentrieren; möglicherweise fällt mir aber nicht auf, dass ich mich deshalb schleichend schlechter fühle und vielleicht sogar eine depressive Symptomatik entwickle. Das ist möglich und von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Für die Praxis ist für Sie also maßgeblich, ob das Mittel einem Menschen hilft oder nicht…

Ludger Tebartz van Elst: Genau.

…und die theoretischen Fragen, wo eine Störung anfängt, wo sie aufhört, die sind für die Patienten gar nicht relevant?

Ludger Tebartz van Elst: Dem stimme ich nicht ganz zu. Deshalb habe ich beispielsweise mein Buch "Autismus und ADHS: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit" insbesondere auch für Patienten und ihre Angehörigen geschrieben.

Für das Selbstbild und das Selbstwertgefühl der Betroffenen ist es meiner Meinung nach extrem wichtig, die psychische Störung in der Komplexität zu verstehen, wie ich es hier darstelle. Nur wenn man das möglichst wissenschaftlich macht, wirkt das optimal auf die Lebensplanung zurück. Denn mit der Störung gehen oft andere Probleme einher und die richtige Verwendung der Begriffe spielt dann eine große Rolle für das Verständnis des Lebensschicksals. Das gilt noch mehr für schwere Diagnosen wie "Schizophrenie", die zu einer Selbststigmatisierung führen können.

Über Ihren Ansatz zur Schizophrenie würde ich gleich noch im Detail sprechen. Bleiben wir beim Stichwort "Stigmatisierung". Hier hat das biologische Paradigma in der Psychiatrie, das doch seit mehreren Jahrzehnten dominant ist, Abhilfe versprochen: Wenn man psychische Störungen als Gehirnstörungen oder genetische Störungen auffasst, dann verschwindet das Stigma. Das ist nach meinem Eindruck aber nicht eingetroffen. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen werden auch heute noch oft ausgegrenzt.

Ludger Tebartz van Elst: Das stimmt. Ich denke, dass das etwas damit zu tun hat, wie wir über Genetik denken. Ich habe das auch an mir selbst bemerkt.

Die Psychiatrie fand ich immer schon interessant. Aber als Bauernsohn vom Dorf hatte ich auch meine Berührungsängste, da man früher noch sagte: "Psychiater sind doch genauso verrückt wie ihre Patienten!" Darum ging ich erst in die Neurologie. In der Psychiatrie redete man viel über Genetik und das erinnerte mich an das Dritte Reich und die Eugenik. Davon hielt ich mich fern.

Die Zunahme des Wissens über beispielsweise die Schizophrenie führte leider teilweise auch zu einer Abnahme der Toleranz, weil sie meiner Meinung nach mit einem verkehrten Verständnis der Genetik einherging. Man hörte und las überall, das sei familiär, das sei genetisch und daher auch eine Erbkrankheit. Dieses Denken wurzelt im 19. Jahrhundert und führte zu den bekannten negativen Folgen im Nationalsozialismus. Dem lag aber ein viel zu einfaches Verständnis der Genetik zugrunde.

Das, was Gregor Mendel über die Vererbung bei Bohnen beschrieb, übertrug man ohne Weiteres auf den Menschen. Es gibt zwar mendelsche Erbkrankheiten. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Vererbung. Das meiste hängt mit sehr vielen Genen zusammen - und jeder von uns hat 60 bis 100 Neumutationen in seiner Keimbahn, die mit Autismus oder ADHS in Zusammenhang stehen, aber nicht zur Ausprägung der Störung führen müssen. Das wurde mir auch erst später klar.

Das hört sich zwar plausibel an, scheint mir aber auch sehr viele Voraussetzungen darüber zu machen, was die Durchschnittsmenschen über Genetik und Vererbung denken, und warum das zu Ausgrenzung führt. Könnte die Stigmatisierung nicht auch schlicht daran liegen, dass Menschen mit psychischen Störungen aufgrund ihrer Probleme eben auch als schwierig im zwischenmenschlichen Zusammenleben angesehen werden?

Ludger Tebartz van Elst: Es gibt natürlich diese Fälle, in denen Menschen mit psychischen Problemen gewalttätig werden oder vielleicht sogar jemanden töten. Denken Sie an die Messerattacke im November 2019 in der Berliner Schlosspark-Klinik, bei der der Arzt Fritz von Weizsäcker getötet und ein herbeieilender Polizist schwer verletzt wurde. Der Täter ist ein Mensch mit einer wahnhaften Erkrankung. Über solche Fälle schreibe ich auch Gerichtsgutachten.

Im Einzelfall ist es also durchaus so, dass solche Menschen eine Gefahr darstellen können. Für die meisten Menschen mit Psychosen gilt das aber nicht und ich persönlich habe vor den meisten Patienten mit einer Schizophrenie-Diagnose keine Angst.

Diejenigen mit wahnhaften Störungen, die man als Laie gar nicht so ohne Weiteres erkennt, sind viel gefährlicher. Das ist aber Detailwissen, das kaum in die Öffentlichkeit dringt. In der Zeitung liest man dann etwas wie: "Mann mit Schizophrenie hat von Weizsäcker erstochen."

Das ist gleich ein Extremfall. Ich dachte eher daran, dass Menschen mit einer Autismus-Diagnose vielleicht unter Reizüberflutung leiden und man dann in ihrer Anwesenheit besonders still sein soll. Oder dass Menschen mit einer diagnostizierten Depression oder Borderline oft emotional instabil und darum unberechenbar sind. Der Kontakt mit ihnen kann dann besondere Anforderungen an uns stellen, was manche vielleicht so überfordert, dass sie mit solchen Menschen nichts zu tun haben wollen.

Ludger Tebartz van Elst: Das ist unterschiedlich. Bei Autismus erlebe ich das beispielsweise so, dass die Toleranz steigt, zumindest bei der Frage: "Möchten Sie die als Nachbarn haben?" Bei Depressiven glaube ich das übrigens auch.

Bei der Frage eines Arbeitgebers, "Stelle ich den ein?", sieht das aber schon wieder anders aus. Wenn man etwa weiß, der Bewerber bekam eine Depression diagnostiziert und hat mehrere Lücken im Lebenslauf, dann denkt man natürlich an höhere Fehlzeiten. Und das ist nicht nur ein Vorurteil, das muss man auch einräumen, sondern hat dann auch einen wahren Kern.

Oder stellen Sie sich vor, Sie würden eine Frau mit einer Psychose als Kindermädchen einstellen. Für einen Laien ist es schwer, das damit verbundene Risiko richtig einzuschätzen.

Lassen Sie uns das Thema "Stigmatisierung" mit einem Gedankenspiel abschließen: Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Zauberstab, mit dem Sie die Gesellschaft ändern könnten. Was würden Sie dann tun, um die Toleranz gegenüber Menschen mit psychischen Störungen zu erhöhen?

Ludger Tebartz van Elst: Ich würde die Menschen meine Bücher lesen lassen, vor allem die über Autismus, ADHS und Schizophrenie. (lacht) Die drehen sich genau um diese Problematik. Meine Bücher sind zwar anspruchsvoll geschrieben - ich glaube aber, dass eine möglichst wissenschaftliche Sichtweise letztlich sowohl den Betroffenen als auch der Gesellschaft weiterhilft, nicht mehr so grobe Urteile zu fällen.

Ich sage ja selbst: Unsere Gesellschaft psychiatrisiert. Das ist aber vielschichtig und hat positive wie negative Aspekte. Damit sollte man sich intensiv beschäftigen und es möglichst wissenschaftlich und differenziert sehen.

Im dritten Teil geht es um die Zukunft der Psychiatrie. Wird die Disziplin in der Neurologie aufgehen, weil die psychischen Probleme der Menschen auf neuronale Korrelate zurückgeführt werden können? Oder wird man auch künftig nicht um Gespräche mit Menschen, die Untersuchung ihrer Verhaltensweisen und Umgebung herumkommen?