Erdogan, der Syrienkrieg und die Flüchtlinge

17 provokative Thesen

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Die Massenmedien und der politische Mainstream waren sich wie fast immer schnell einig: Der syrische "Machthaber" Assad und "die Russen" sollen an der aktuellen Misere schuld sein, da sie auf Gedeih und Verderb nun die letzte Rebellenhochburg um Idlib für die syrische Staatsmacht zurückerobern wollen.

In komprimierter Thesenform hier ein paar kritische Überlegungen zu dieser offensichtlich recht einseitigen Parteilichkeit:

1. Bei den "Rebellen", die die Region um Idlib als letzte unter ihrer Kontrolle halten1, handelt es sich nach allgemeiner Auskunft um radikale islamistische Milizen (zumeist als "Salafisten" charakterisiert), gegen deren Programm und Praxis sich ursprünglich der "War on Terror", den die USA vor beinahe 20 Jahren ausgerufen hatten, angeblich richten sollte.

De facto hat diese Politik jedoch unter dem unausgesprochenen Topos "Regime Change" zuvörderst ausgerechnet die zwar autoritär regierten, aber halbwegs säkularen und modernen Staaten des Mittleren Ostens bekämpft und dabei Libyen und den Irak in komplett ruinierte "Failed States" verwandelt, in denen nur noch das Chaos herrscht und sich die zahllosen Freischärlergruppen, Warlords, Sektenchefs, schließlich Stellvertreter diverser regionaler und imperialer Mächte gegenseitig die Köpfe wegschießen. Alle zwischen diesen vermittelten "Abkommen" sind das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt wurden. Drastisch führt dies die aktuelle "Einigung" zwischen Taliban und Trump vor Augen, die keine vier Tage hielt - gegen alle Zusagen und vertraglichen Vereinbarungen griffen die Taliban auf breiter Front die afghanische Regierung an, das stationierte US-Militär antwortete mit Bombardements.

Von wegen Abzug, Befriedung und dergleichen. Die libysche Waffenruhe, die der deutsche Außenminister Maas kürzlich so vollmundig als "ersten Schritt zum Frieden" präsentierte, wurde seither schon "hundertfach gebrochen", wie die Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz ernüchtert feststellten.

2. Der "War on Terror" entpuppte sich als Bestandteil eines umfassenden imperialen Kräftemessens zwischen Russland und den USA um Vorherrschaft, Einfluss und Militärbastionen im Mittleren Osten. Der globale Machtkampf zwischen USA, Russland und China ist in vollem Gange; die USA wollen sich keinesfalls auf eine wie auch immer geartete "multipolare Weltordnung" einlassen und bekämpfen die militärische Gegenmacht Russlands und den Aufstieg Chinas zur Weltmacht mit allen Mitteln - Die Vereinigten Staaten wollen um jeden Preis die alleinige "Führungsmacht" der Welt bleiben, wie Donald Trump lauthals zu verkünden nicht müde wird. Die EU war bei diesem weltumspannenden Kräftemessen von vornherein vorwiegend im Schlepptau der US-Interessen unterwegs, was ihr im Unterschied zu der Zeit vor Trump aber keinen eigenständigen Part und damit Einfluss sicherte - so sehr sich auch Frankreich und England mit ihrer Führungsrolle im Luftkrieg gegen Gaddafis Libyen darum bemühten (wobei die zahllosen zivilen Opfer der Luftangriffe nie Thema der einschlägigen einheimischen Presse waren).

Versuche, eigenständige diplomatische Erfolge wie beispielsweise das Atomabkommen mit dem Iran zu sichern, wurden von der neuen Konfrontationspolitik unter Trump gezielt torpediert, ohne dass eine Gegenwehr der düpierten Europäer erfolgt wäre - sie setzen immer noch auf eine Rolle als devot agierende Juniorpartner im Windschatten der USA, obwohl die Zeit dafür längst abgelaufen ist, da die USA ihr früheres Modell der regelgebundenen, einvernehmlichen Suprematie zugunsten einer so unmittelbaren wie rücksichtslosen Durchsetzung ihres Anspruchs auf alleinige Weltmachtgeltung aufgegeben haben.

3. Der militärisch betriebene "Regime Change" als zentrale Strategie im Rahmen des nach 9/11 ausgerufenen "War on Terror", der im Falle Syriens nicht gelungen ist, da die "Schutzmacht" Assads, Russland, dies durch ihr militärisches Eingreifen verhindert hat, ist die eigentliche Ursache für die Fluchtbewegungen der Bevölkerung dieser Staaten in Richtung Europa. Wer die Flucht daher verhindern will, muss vor allem die Unterstützung des Versuchs beenden, Assad auf Biegen und Brechen von der Macht zu vertreiben, wie Sevim Dagdelen in einem Interview kürzlich schlüssig dargelegt hatte.

4. Die Bestrebungen, den Machtwechsel in Syrien zu erzwingen, haben nichts mit dessen autoritärer Regierungsform zu schaffen: Bin Salman al-Saud aus Saudi-Arabien, auch nicht gerade ein Hüter von Demokratie & Menschenrechten, ist als gern gesehener Investor, Waffenkäufer und militärischer Statthalter bei jedem größeren Treffen der demokratischen Mächte zugegen; der durchaus demokratisch gewählte Präsident Mursi, Repräsentant der "Muslimbruderschaft", musste in Ägypten qua Militärputsch dem ehemaligen Chef des Militärgeheimdienstes al-Sisi weichen, da dieser den Interessen der USA und ihrer Verbündeten besser entspricht - beinahe wäre al-Sisi kürzlich sogar ein deutscher Kultur-Ehrenpreis verliehen worden.

"Ägypten ist nach Israel der zweitgrößte Profiteur US-amerikanischer Militärhilfe im Nahen Osten." Erst in den letzten Jahren versuchte die Staatsführung, sich durch den Zukauf russischer Waffensysteme etwas unabhängiger von den USA zu machen. Natürlich sind bin Salman und al-Sisi "Sons of a Bitch", aber eben jeweils "our Son of a Bitch", wie Franklin D. Roosevelt einst treffend über den von den USA getragenen nicaraguanischen Diktator Somoza bemerkte.

5. In Anbetracht der Unterstützung des Hauptförderers des islamistischen Terrorismus, Saudi-Arabiens, durch die westliche Allianz und der beschriebenen Rolle der "Rebellen", die als islamistische Gruppen die Verbündeten der westlichen Politik gegen die Syrien-Russland-Allianz darstellen, kann man den allgemeinen Schluss ziehen, dass die moralische Beurteilung von Religionen, islamistischen Regimes, religiösen Diktaturen, Regierungsformen etc. vielleicht die Rechtfertigungsideologie, aber niemals den Kriegszweck des Anti-Terror-Kriegs abgaben und -geben. Dieser zeigt sich eben als Fortsetzung des "Great Game" vor dem Ersten Weltkrieg, in dessen Rahmen die Großmächte um ihre geopolitische Position in der und ihren ökonomischen Zugriff auf die Region kämpfen.

6. Die USA haben diesen zerstörerischen Prozess losgetreten, indem sie eine kriegerische Neuordnung der Region entlang ihrer Weltmacht-Interessen anstrebten und damit die Regionalmachtambitionen von Iran, Türkei, Israel und Saudi-Arabien auf den Plan riefen, die sich im unübersichtlichen Bündnissystem und widersprüchlichen Hin-und-Her des kriegerischen Prozedere mit- und gegeneinander so zu positionieren suchen, dass sie ihre jeweiligen Konkurrenten nach Möglichkeit ausschalten können.

7. Damit wurde zugleich das Interesse Russlands an der Erhaltung seiner geopolitischen Position und des daran geknüpften Militärstützpunkts in der Region in Gestalt seines letzten Verbündeten Assad tangiert. Russland kämpft in Syrien insofern um seine beanspruchte unbedingte Geltung als ebenbürtige Weltordnungsmacht neben den USA.

8. Beide Großmächte sind ausschließlich an der Durchsetzung ihrer politischen Zwecke interessiert; die Anklagen über die Menschenrechtsverletzungen der jeweils anderen Seite stellen nur die Begleitmusik dazu da, die die Bevölkerungen ihrer jeweiligen Länder für diesen Krieg einnehmen soll. Die Mainstream-Medien fallen auf diese Kriegspropaganda herein wie eh und je.

9. Ohne Anerkennung des Status quo im Syrien-Krieg setzen sich Krieg und Vertreibung fort, bis entweder ein größeres Kräftemessen unter direkter Konfrontation der Großmächte, die bisher nur als Strippenzieher im Hintergrund oder mit begrenzten militärischen Kontingenten und Einsätzen agieren, stattfindet oder in etlichen Jahren ähnlich Afghanistan der Krieg als nicht gewinnbar, deshalb ergebnislos beendet wird. Beides könnte man sich und der Bevölkerung der Region ersparen.

10. Die Türkei führt, wie selbst der liberalkonservative Chefredakteur Wolfram Weimer bemerkt, einen Angriffskrieg in Syrien, der ihren Vernichtungs- und Eroberungskrieg gegen die Kurden im Rahmen von mehreren Einmärschen in die Kurdengebiete Nordsyriens ergänzt und ihren imperialistischen, neo-osmanischen Ambitionen entspricht.

So wenig die türkischen Massaker an den Kurden die herrschenden politischen Akteure des Westens, zugleich Waffenlieferanten der Türkei, sonderlich belastet haben, so deutlich akzeptieren sie die türkische Landnahme insgeheim bis offen, da sie zur Absicht, Assad endlich zu stürzen, passt und sich in die hegemoniale Auseinandersetzung mit Russland einfügt. Zudem ist die Türkei auch NATO-Mitglied, was allein schon die Kritik an ihr relativiert - sah es doch einige Zeit danach aus, als ob Erdogan sich Russland zuwenden würde.

11. Erdogan wiederum gerät in seinem seit Oktober 2019 währenden Krieg um Idlib ins Stocken; parallel steckt die Türkei inzwischen in einer Währungs- und Wirtschaftskrise, die nicht nur, aber wohl auch Resultat der Verfolgung ist, mit der Erdogan alle liberalen bis linken Kritikern im Land überzieht, wovon vor allem die Medien und Bildungsanstalten, aber auch viele Unternehmen direkt oder indirekt betroffen sind.

Er versucht daher, die von ihm im Auftrag der EU verwahrten 3-4 Millionen Flüchtlinge als Erpressungsmittel in Anschlag zu bringen, um weitere Geldzuwendungen und Unterstützung bei seinen militärischen Eroberungsfeldzügen zu erzwingen, die immer wieder Wellen der nationalistischen Begeisterung entfachen konnten. Die geflüchteten Menschen auf seinem Territorium benutzt er dafür als Faustpfand. Andererseits sind Millionen Flüchtlinge für ein Land mit der Wirtschaftskraft der Türkei tatsächlich eine erhebliche ökonomische und organisatorische Belastung, die die EU mit ein paar Milliarden Zuschuss abgewälzt haben wollte. Damit könnte jetzt Schluss sein.

12. Die Trump-Administration wiederum sieht die potenzielle Schädigung europäischer Interessen und Macht mit Wohlwollen - verfolgt sie praktisch doch längst das bezeichnete Programm, alle relevanten Machtkonkurrenten gegeneinander auszuspielen, um ihr "Make America great again!"-Programm gegen diese durchsetzen zu können. An die Europäer ergeht höchstens das zweifelhafte Angebot, sich in die geplante Auseinandersetzung mit Russland und China ohne Wenn und Aber nach amerikanischen Maßstäben einzuklinken.

13. Trumps neues Abzugsabkommen bezüglich Afghanistan führt dabei vor, dass gegen alle Vertragsklauseln den Taliban die Wiedereroberung des Landes ermöglicht wird, wenn der Vertrag so realisiert wird. Solange der Krieg dort die Kräfte der Konkurrenten bindet und nicht neue Terrorgruppen gegen die USA aufgestellt werden, stört Trump das Wiedererstarken des Islamismus so wenig, wie Diktaturen jemals bei den US-Politikern schlecht angesehen waren, solange sie auf der richtigen Seite standen: Dann wurden sie sogar gefördert und installiert, was ja dem militarisierten Islamismus als ursprünglich dezidiert anti-sowjetische Bewegung in Afghanistan erst zur Macht verholfen hatte. Nur wurde der Meister die Geister, die er rief, nicht mehr los. Wozu die von Erdogan betriebene Islamisierung der Türkei und der von ihm eroberten Gebiete führt, wird man sehen. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass damit die Feindschaft gegenüber dem Westen eher gestärkt als geschwächt wird.

14. In der aggressiven, allen angeblichen EU-Prinzipien Hohn sprechenden Abwehr der Flüchtlinge durch griechische Rechtsradikale und die griechische Regierung, aber auch durch die normalen Bürger der Ägäis-Inseln, die den Migranten ursprünglich relativ wohlgesonnen gegenüber getreten waren, wird augenfällig, dass die EU die Zeit seit der letzten Flüchtlingskrise nicht genutzt hat, ein einigermaßen tragfähiges Konzept für deren transnationale Verteilung und den EU-weit einheitlichen Umgang mit ihren Nöten zu erarbeiten.

Stattdessen sollen ausgerechnet immer diejenigen Staaten die Hauptlast tragen, die zwar ökonomisch am schlechtesten dastehen, aber bei denen aus geographischen Gründen der Großteil der Flüchtenden zufällig anlandet: Griechenland und Italien. Das kann nicht funktionieren. Auch wenn das den gehässigen, unmenschlichen Rassismus, der gegen die arabischen Migranten zunehmend in Anschlag gebracht wird, weder erklärt noch rechtfertigt: Dieses Phänomen ist europa- bis weltweit zu beobachten und fügt sich als ideologisch-legitimatorische Begleitmusik in die neue globale Abgrenzungs- und Abwehrstrategie der bürgerlichen Nationalstaaten untereinander, aber ebenso gegen die externalisierten Armutsregionen ein.

15. Die Europäische Union erweist sich letztlich als im Verbund ziemlich handlungsunfähiger Haufen egoistischer Nationalstaaten, die eifersüchtig darüber wachen, dass die anderen Mitglieder des Staatenbunds die Zeche zahlen, nur nicht sie selbst. Der europäische Staatenbund soll seit jeher vor allem das Wachstum ihrer jeweiligen nationalen Wirtschaften und den Einfluss ihrer nationalen Politik auf alle anderen steigern - eine Grundposition, die sich im Rahmen der nun vorherrschenden Krisenkonkurrenz endgültig als innereuropäische "Leitkultur" etabliert hat: Alle wollen an den Vorteilen, Geldtöpfen und Leistungen der EU partizipieren, ohne die Kosten dafür zu tragen.

Großbritannien verfolgte dieses Konzept seit jeher am unnachgiebigsten und ist daher konsequenterweise schließlich ausgetreten. Damit radikalisiert sich hier nur das Prinzip, das schon in der Bewältigung der europäischen Währungskrise 2011 sichtbar wurde: Sollen doch die anderen dafür bluten bzw. bezahlen! Wobei die Sieger dieser beinharten Konkurrenz, in der der Euro sich als Waffe der produktiveren Nationalökonomien erweist, deren Verlierer zur Kasse bitten wollen, indem sie sie mit Austeritätsdiktaten überziehen, während diese sich dem soweit wie möglich verweigern und trotzig die Ansprüche der Leitmächte der Union auf Entgegenkommen, Opferbereitschaft und fiktive Gemeinschaftlichkeit zurückweisen.

16. Auf diese Weise kickt sich der europäische Staatenbund letztlich selbst aus der Liga der Großmächte, mit denen er durch seine Gründung als vereinte Kraft auf einer Augenhöhe verkehren und agieren wollte. Ein erneuter millionenfacher Zuwanderungsdruck kann insofern schnell zur Zerreißprobe der EU geraten.

17. Durch die Zerstörung der politisch definierten Feindstaaten vom Mittleren Osten bis Zentralasien wurden und werden Millionen Menschen zum Verlassen ihrer Länder gezwungen, denen dies ansonsten niemals eingefallen wäre. Das Leid dieser Flüchtlinge interessiert im zynischen Machtpoker, den das nach dem Ende des "Ostblocks" reanimierte, imperialistische "Great Game" abgibt, niemanden - von ein paar Helfern und human gesinnten Menschen einmal abgesehen, die immer damit rechnen müssen, mancherorts für ihr Engagement angeklagt, bedroht oder gar eingesperrt zu werden.