Keine Fingerabdrücke und DNA-Spuren von Amri im Tat-LKW

Sattelzug, mit dem Anis Amri, den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübte. Bild: Emilio Esbardo / CC BY-SA 4.0

Der Untersuchungsausschuss im Bundestag entdeckt massive Hinweise auf Manipulationen bei den Anschlagsermittlungen - Landeskriminalamt eng mit islamistischer Szene verwoben

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Das Maß der Ungereimtheiten im Terrorkomplex Breitscheidplatz erreicht inzwischen NSU-Niveau. Der Untersuchungsausschuss im Bundestag nahm sich jetzt die Ermittlungen und Polizeimaßnahmen nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vor und entdeckte massive Hinweise auf Manipulationen.

Beginnen wir mit der Tat vom 19. Dezember 2016. Polizeihauptkommissar Rainer G., 62 und inzwischen pensioniert, leitete das Infomobil, eine bewegliche Polizeiwache, an der Südseite der symbolträchtigen Gedächtniskirche. Am Nachmittag, sagte Rainer G. jetzt als Zeuge im Untersuchungsausschuss des Bundestags, habe ihm ein Vertreter der Kirchengemeinde berichtet, sie hätten Hinweise auf einen eventuellen Anschlag auf die Weihnachtsandacht am 24. Dezember erhalten. Konkretisieren konnte das der Kirchenvertreter nicht. Abends fand die gut besuchte montägliche Abendspeisung für Bedürftige statt.

Gegen 20 Uhr vernahm der Polizeibeamte den lauten Knall, als der Lastwagen auf der anderen Seite der Kirche in die Budengasse raste. Eine Kollege meldete, er habe Schüsse gehört. Es dauerte einige Minuten, bis sich Rainer G. zum Tatfahrzeug durchgearbeitet hatte. Er versuchte, eine Übersicht über den Schaden zu bekommen und richtete eine Zeugensammelstelle ein. Die Fahrertür stand offen. Ein Mann berichtete, der Fahrer sei ausgestiegen, habe sich quer über die Straße und dann Richtung Bahnhof Zoo bewegt.

G. schaute in die Fahrerkabine und entdeckte eine tote Person, die in eine Decke eingehüllt im Fußraum lag mit dem Kopf zur Beifahrertür. Es war der polnische Speditionsfahrer Lukasz Urban, wie sich später herausstellte. Mit Hilfe von Feuerwehrleuten wurde er geborgen. Durchsucht habe er das Führerhaus nicht, so Polizeihauptkommissar (PHK) G. Gesichert oder bewacht wurde es in der Folge nicht.

In der ersten Phase, noch ehe sein Wachleiter da war, kam ein Mann auf ihn zu, der sich als Beamter der Kriminalpolizei oder des Landeskriminalamtes vorstellte. Er sei in der Nähe gewesen. Ihm benannte der Streifenbeamte die Zeugen. Kurz darauf gesellte sich ein zweiter Beamter dazu, für Rainer G. waren beide offensichtlich leitende Beamte. Die Namen kennt er nicht. Sie wiesen ihn dann an, den Toten aus dem Fahrerhaus nach Papieren zu durchsuchen.

Dass frühzeitig zwei - mögliche - LKA-Beamte am Anschlagsort waren, war für die Abgeordneten eine neue Information. Aus den Unterlagen ergibt sich das nicht. Auch aus den Vernehmungen in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA) sind sie nicht bekannt. Ähnliches gilt für den Leiter der Polizeidirektion 2, Stefan Weis, der danach am Tatort erschien. Er war damit der ranghöchste Beamte vor Ort und hätte die Einsatzleitung übernehmen müssen. Doch in den Akten haben die Abgeordneten dazu nichts gefunden.

Noch vor der Bergung des toten Fahrers wurde der Auflieger auf Sicherheitsrisiken überprüft. Die Plane wurde aufgeschnitten. Die Ladung bestand aus Stahlträgern. Eine Gefahrensituation möglicherweise durch Sprengstoff schloss die Polizei daraufhin aus.

Bevor PHK Rainer G. gegen 23 Uhr vom Breitscheidplatz entlassen wurde, gab es noch einen letzten Auftrag. Sie fuhren einen Seelsorger zu jemandem aus dem Betroffenen- oder Opferkreis. Als sie eintrafen, bemerkten sie dort Personenschutz. Es muss sich um eine schutzwürdige Person gehandelt haben, so der Polizeihauptkommissar.

Um 23 Uhr, drei Stunden nach der Tat, erschien der Chef der 7. Mordkommission, Kriminalhauptkommissar Thomas Bordasch, mit seinem Stab am Breitscheidplatz und übernahm die Leitung der Tatortarbeit. Der LKW war nicht gesichert. Jeder Polizeibeamte hätte sich ihm nähern können, sagte er auf entsprechende Fragen im Bundestagsuntersuchungsausschuss. Mit seiner Ankunft sei das dann nicht mehr möglich gewesen. Kein Unbefugter habe mehr die Kabine betreten. Er war von Montag, 19. Dezember, 23 Uhr bis Dienstag, 20. Dezember, 23 Uhr ununterbrochen im Dienst und am LKW.

Er inspizierte das Fahrzeug auf dem Breitscheidplatz von außen, betrat es aber nicht, um keine Spuren zu vernichten. Er war es, der die Entscheidung traf, den Sattelschlepper für die Spurensicherung abschleppen zu lassen. Die geeignete Halle fand man nach einiger Zeit bei der Bundeswehr in der Julius-Leber-Kaserne nahe des Flughafens Tegel. Dass sich die Spurenlage im LKW durch den Abtransport verändern könnte, nahm Bordasch in Kauf. Ihm ging es vor allem um die Sicherung von DNA-Spuren, Fingerabdrücken, Schmauch-, Faser- oder Geruchsspuren für einen Mantrailing-Einsatz (Personenspürhunde). In einer heizbaren Halle sei diese Arbeit besser möglich gewesen. Der LKW-Innenraum wurde vorher noch fotografisch dokumentiert.

Das Manöver zog sich hin. Erst gegen 5:45 Uhr am Dienstagmorgen war das Abschleppunternehmen am Breitscheidplatz. Weil die Bremse blockierte, begann der Abtransport im Schritttempo erst kurz vor 11 Uhr. Gegen 14:30 Uhr erreichte man die Kaserne. Da der LKW nicht durch das Tor der Halle passte, musste man den Reifendruck ablassen. Genau um 15:25 Uhr am 20. Dezember habe man mit der Spurensicherung angefangen.

Was die Abgeordneten und Zuhörer nun spätabends im Bundestag zu hören bekamen, ist atemberaubend.

Keine DNA und Fingerabdrücke Amris im Fahrzeug

Am und im LKW haben die Mordermittler Fingerabrücke gesichert und DNA-Spuren aufgenommen. Wie viele das letztlich waren, kann Thomas Bordasch nicht sagen, weil alle Befunde zur Auswertung an den Staatsschutz des Landeskriminalamtes gingen. Die einzige Rückmeldung, die von dort kam, lautete: Außen am LKW an der Fahrerseite seien zwei Fingerabdrücke festgestellt worden, die zum Tatverdächtigen Amri führen. Weitere Fundstellen werden von den Auswertern nicht genannt. Das heißt: Im LKW gab es offensichtlich keinerlei Fingerprints und DNA Amris. Nicht einmal auf seinem eigenen Portemonnaie und Handy, die im Cockpit lagen.

Einen abschließenden Bericht über den daktyloskopischen Befund kennt Ermittler Bordasch nicht. Eigentlich müsste es ihn geben. Und auch über die letztendliche Auswertung aller Spuren nach Abgabe ans LKA Berlin weiß er nichts. Ein Abschlussbericht hat ihn nie erreicht.

Auch eine Liste, welche Personen im Führerhaus waren, - außer dem polnischen Speditionsfahrer beispielsweise Feuerwehrleute, der Polizeibeamte Rainer G. oder auch die Ermittler - erhielt das fünfköpfige Tatortteam nicht. Zu welchen Personen die aufgenommenen Fingerprints und DNA-Muster möglicherweise führen und wie viele "unbekannt" sind, können sie also nicht sagen. Von Relevanz ist das, weil man die unbekannten Spuren mit bekannten Islamisten abklären müsste, wie Bilel Ben Ammar, Habib S. oder Soufiane A. aus der Fussilet-Moschee. Ob die zentralen Ermittlungsinstanzen der BAO (Besondere Aufbauorganisation) City, BKA und LKA Berlin, diesen Abgleich vorgenommen haben, weiß man bisher nicht. Indem man sich auf Amri als Täter festgelegt hat, muss man diesen Abgleich jedoch nicht mehr machen.

Ein Befund und ein ermittlungstechnischer Umgang damit, der auffällig an den NSU-Komplex erinnert. Auch von den beiden mutmaßlichen Tätern Böhnhardt und Mundlos existieren an den Tatorten keine Fingerabdrücke und DNA-Spuren. Abgleiche der Spuren mit dem weiteren NSU-Umfeld wurden keine vorgenommen.