Die Unstrittigkeit des Zwecks

Debatte zur "Bewältigung der Coronakrise" mit ausgedünnter Beteiligung. Bild: Deutscher Bundestag/Melde

Rechtmäßigkeit vs. Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen: Von der Natürlichkeit des Zwecks darf nicht auf die Natürlichkeit der Mittel geschlossen werden

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Wenn die Bedrohung, wie im Fall des Virus, als natürliche Gegebenheit auftritt, kommen leicht auch die Maßnahmen, um ihn zu beseitigen, als natürliche, d.h. fraglos vorgegebene Maßnahmen in Betracht. Eine Gefahr liegt hier darin, von einer Natürlichkeit des Zwecks auf die Natürlichkeit der Mittel zu schließen. Dass die Maßnahmen aber nicht natürlich gegeben, sondern politisch entschieden sind, muss demgegenüber im Blick bleiben.

Im Zuge der vielerorts massiven Eingriffe, um die Ausbreitung des neuen Corona-Virus zu verlangsamen, werden derzeit zwei unterschiedliche Debatten geführt. Die eine Debatte betrifft die Rechtmäßigkeit des Eingriffs. Sie richtet sich auf die Frage, ob die beschlossenen oder erwogenen Maßnahmen auf einer hinreichenden rechtlichen Grundlage beruhen (etwa im Fall des anonymisierten oder personalisierten Trackings von Infizierten). Die andere Debatte betrifft die Verhältnismäßigkeit der Umsetzung. In Frage steht hier, ob erlassene Maßnahmen (etwa die Schließung von sogenannten nicht-systemrelevanten Betrieben oder die mancherorts umfassenden Ausgangssperren) nicht über das Ziel hinausschießen oder es verfehlen.

Der Beitrag von Jonas Heller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie, ist zuerst im Verfassungsblog erschienen.

Die beiden Debatten werden nicht in derselben Intensität geführt. Gegenüber der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen tritt die Frage nach den rechtlichen Grundlagen ihres Erlasses zurück. Dies liegt nicht primär daran, dass sich - angesichts der Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit, des öffentlichen Lebens, der ökonomischen Produktion und Distribution - die Frage nach der Verhältnismäßigkeit in unabweisbarer Dringlichkeit stellt. Vielmehr ist ausschlaggebend, dass breite Einigkeit darüber besteht, dass angesichts der Bedrohlichkeit der Lage Maßnahmen erforderlich sind. Weil die Notwendigkeit von Eingriffen weithin außer Frage steht, interessiert weniger, wie sich diese Maßnahmen rechtlich begründen lassen, als vielmehr, wie weit sie reichen dürfen.

Damit weicht die gegenwärtige Lage auffällig von dem ab, was Carl Schmitt als klassische Ausnahmesituation vor Augen hatte. In Politische Theologie schrieb Schmitt: "Er [der Souverän] entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen." Demnach verbindet die Entscheidung über den Notfall eine autoritäre Einsicht (dass ein Notfall vorliegt) mit einer autoritären Praxis (wie er beseitigt werden soll). Der Eintritt des Notfalls geht der Entscheidung nicht voraus, sondern ist ihr Ergebnis.

Dieser Position folgt gegenwärtig vor allem Giorgio Agamben. Auch der aktuelle Notfall ist nach Agamben souverän produziert: Die außerordentliche Lage beruht auf souveräner Handlungsmacht und liegt in ihrem Interesse. Viel weiter verbreitet ist demgegenüber allerdings die Überzeugung, dass der Notfall nicht künstlich hervorgebracht, sondern durch das Virus natürlich gegeben ist.

Dass ein Notfall besteht, ist in dieser Perspektive nicht Gegenstand einer souveränen Entscheidung, sondern - gerade umgekehrt - eine Tatsache, der sich Regierungen zu beugen haben. In diesem Sinn schreibt auch Slavoj Žižek: "Die Menschen halten die Staatsmacht zu Recht für verantwortlich: Ihr habt die Macht, jetzt zeigt, was ihr könnt!" Demnach ist die Entscheidung über den Notfall keine Frage des Ob, sondern nur eine Frage des Wie - also nur eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Durch diese Einschränkung auf das Wie verändert sich aber auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit selbst.

Von der Unstrittigkeit des Zwecks zur Fraglosigkeit der Mittel

Das Verhältnis, um das es geht, ist jenes zwischen Mittel und Zweck. Maßnahmen sind Mittel und müssen als solche dem Zweck, dem sie dienen, angemessen sein: an ihm das Maß nehmen.

Die Maßnahmen, die in "außerordentlichen Lagen" als letztes Mittel ergriffen werden, bezwecken die Wiederherstellung der normalen Ordnung. Sie richten sich allerdings nicht auf diesen Zweck im Allgemeinen, sondern auf die besondere Lage, nämlich auf die konkrete Bedrohung, die die normale Ordnung gefährdet.

Außerordentliche Maßnahmen verfolgen ihren Zweck nicht positiv, sondern negativ: Sie stellen nicht die Ordnung her (diese wird im Zug der Maßnahmen gerade ausgesetzt), sondern sie beseitigen die Hindernisse, die der Ordnung entgegenstehen. Der Zweck, dessen Mittel die Maßnahmen sind, ist die Abwehr von Bedrohung. Diese Bedrohung ist zugleich der Anlass, aufgrund dessen die Maßnahmen erlassen werden, und der Maßstab, anhand dessen ihre Verhältnismäßigkeit geprüft wird.

Um zwei Beispiele zu nennen: Im zweijährigen Ausnahmezustand, der in Frankreich zwischen 2015 und 2017 herrschte, wurde die zu bekämpfende Bedrohung im Terrorismus nach den Anschlägen von Paris gesehen, im ebenfalls zweijährigen Ausnahmezustand in der Türkei (2016 bis 2018) lag sie in einem versuchten Putsch durch Teile des Militärs. An dem Zweck, diese Bedrohungen zu beseitigen, wurden die Maßnahmen jeweils gemessen und mit Grund kritisiert: In beiden Fällen wurden die im Ausnahmezustand erweiterten Befugnisse für Maßnahmen genutzt, die zum anlassbezogenen Zweck in keiner Beziehung standen (paras. 46, 72, 92).

Kritisiert wurden unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit allerdings nicht nur die Mittel zum Zweck (ihre Stoßrichtung, Reichweite und Dauer), bezweifelt wurde auch der anlassbezogene Zweck selbst: Stellen die Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris (und das zur Verlängerung des Ausnahmezustands führende Attentat in Nizza vom 14. Juli 2016) eine Bedrohung der nationalen Ordnung dar, die zwei Jahre lang gravierende Eingriffe in grundlegende Rechte legitimieren kann? Und bildet ein noch in der Nacht des Aufstands gescheiterter Putschversuch wie in der Türkei eine solche Bedrohung, dass sie mit umfassenden Maßnahmen weiter bekämpft werden muss, um sie zu beseitigen? Die Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen war in Frankreich und in der Türkei nicht nur eine Frage der Mittel, sondern auch die Frage nach dem Zweck, dem sie dienen.

Dies ist in der aktuellen Situation ganz anders. Über den Zweck - die Beseitigung oder Eindämmung des Virus - besteht kaum Streit. Dass dieses Virus eine gesundheitliche Bedrohung darstellt, die vielen gefährdeten Menschen das Leben kosten und die nationale Gesundheitssysteme (und damit einen elementaren Bestandteil der normalen Ordnung) massiv überlasten kann, ist allgemein anerkannt. Weil die Bedrohung als Ernstfall akzeptiert wird, steht der Zweck der Maßnahmen außer Frage. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt sich deshalb nicht im Hinblick auf den Zweck, sondern allein im Hinblick auf die Mittel.

Die Unstrittigkeit des Zwecks erscheint zunächst nicht problematisch. Im Gegenteil: Die Maßnahmen, die Grundrechte einschränken, können nur angemessen sein, solange sie sich an einem nachvollziehbaren Zweck ausweisen und durch ihn legitimieren lassen. Hinzu kommt: Gerade wenn wir den Zweck der Maßnahmen akzeptieren, lässt sich doch umso kritischer diskutieren, ob die jeweiligen Maßnahmen das richtige Mittel zum anerkannten Zweck sind.

Die Unstrittigkeit des Zwecks kann die Bestreitbarkeit der Mittel allerdings nicht nur befördern, sondern auch behindern. Dass Mittel und Zweck gerade im Bereich staatlicher Rechtsordnungen in einem stützenden Zusammenhang stehen, der kritisches Fragen ausschaltet, ist für Walter Benjamin das "Grunddogma", das ihm zufolge so unterschiedliche Rechtsauffassungen wie Rechtspositivismus und Naturrecht verbindet: "Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden" (S.180). Mittel und Zweck bilden nach Benjamin das "elementarste Grundverhältnis" jeder Rechtsordnung (S.179).

Unter "gerechten" Zwecken können wir hier solche verstehen, denen das staatlich gesetzte Recht als Mittel dient, etwa das "allgemeine Wohl", die "öffentliche Ordnung" oder das "Leben der Nation", von dem in den Ausnahmeartikeln des UN-Zivilpakts (vgl. Art. 4 Abs. 1) und der Europäischen Menschenrechtskonvention die Rede ist. Es ist insbesondere dieses Leben der Nation bzw. der Bevölkerung, das derzeit in die Position des unstrittigen Zwecks rückt: Vor der natürlichen, lebensbedrohenden Gefahr des Virus ist dieses Leben zu schützen.

Dass dieser Zweck, von problematischen nationalen Implikationen abgesehen, als unstrittig gilt, ja sogar gerecht erscheinen mag, kann allerdings auch die Mittel fraglos werden lassen. So wurde der Ruf nach einer generellen Ausgangssperre laut, noch bevor klar war, ob darin das geeignete Mittel zum Zweck liegt. Gerade dass der Zweck fraglos wird, kann ihn zurücktreten lassen. Die Unstrittigkeit des Zwecks birgt also ein Problem: Die in den Zweck gesetzte Fraglosigkeit kann sich auf die Mittel übertragen und sie der genauen Befragung entziehen.

Verselbstständigung der Mittel

Die für Ausnahmeregime charakteristische Tendenz, dass sich die Mittel verselbstständigen, ist daher durch einen unbestreitbar vorliegenden Zweck keineswegs eingedämmt. Durch einen begründeten Zweck lässt sich rechtfertigen, dass überhaupt Maßnahmen ergriffen werden. Je gewichtiger der Grund, desto leichter wird es, sich von weiterer Begründung zu entlasten: Dass die Maßnahmen diesem und nicht anderen Zwecken dienen, muss nicht genauer begründet, sondern kann behauptet werden. Diese Tendenz der Verselbständigung der Mittel zeigt sich gegenwärtig in Ungarn oder Polen. Sie zeigt sich auch darin, dass, wie etwa in Großbritannien, Befugnisse für einen Zeitraum beansprucht werden, der ihren Grund unter Umständen deutlich überdauern kann. Die durch die Unstrittigkeit des Zwecks begünstigte Fraglosigkeit der Mittel kann zwei weiteren Tendenzen in die Hände spielen, die dem in Ausnahmesituationen praktizierten Maßnahmehandeln regelmäßig eignen.

Erstens: Als Mittel werden Maßnahmen häufig ungleich umgesetzt. Bevorzugt wird die Freiheit jener begrenzt, die außerhalb der Bevölkerung verortet werden, deren Leben es zu schützen gilt. So war für den Ausnahmezustand in Frankreich kennzeichnend, dass der Fokus präemptiv auf Muslim*innen lag. Es ist zu vermuten, dass auch die gegenwärtigen Maßnahmen gegenüber bestimmten Gruppen polizeilich stärker durchgesetzt und juridisch strikter sanktioniert werden.

Fest steht bereits, dass auch der Schutz, den diese Maßnahmen bieten sollen, ungleich verteilt ist. Nicht nur im Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos ist die Lage desolat. Auch im Bundesasyllager Basel sind (Stand 18.03.2020) auf engem Raum um die 200 Personen untergebracht; dabei teilen sich bis zu zwölf Personen einen Schlafsaal, die sanitären Einrichtungen sind unzureichend und weisen nicht den hygienischen Standard auf, der nun dringender als je gefordert wäre.

Zweitens: Außerordentliche Maßnahmen bzw. die ihnen zugrunde liegenden Befugnisse wandern, wie 2017 mit der neuen Verfassung der Türkei und im selben Jahr in Frankreich mit dem Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit, in den normalen Rechtszustand ein. Gerade eine Ausnahmesituation wie die aktuelle, die - insofern sie als natürliche Notwendigkeit auftritt - nur halb souverän erscheint, lässt sich samt der in ihr erschlossenen Befugnisse besonders leicht in die rechtliche Normalität einfügen.

Diese Tendenzen müssen sich in der aktuellen Krise nicht alle bewahrheiten - und werden es hoffentlich auch nicht. Die Gefahren, die gerade der starke Realitätsgehalt der Krise mit sich bringt, gilt es dafür allerdings bewusst zu halten und die ergriffenen Maßnahmen als politische und nicht bloß als technische Interventionen zu begreifen.