Datenerfassung von Gesunden: Lambrecht gegen Kelber

Christine Lambrecht (Christine_Lambrecht_05.jpg:Bild: kuebi/CC BY-SA-3.0) und Ulrich Kelber (Bild: Bundesregierung/Kugler)

Gegen den Widerstand des Bundesdatenschutzbeauftragten Kelber soll die Meldepflicht für Nicht-Infizierte im Eiltempo durchs Parlament gebracht werden. Jetzt könnte auch die Justizministerin in Erklärungsnot geraten

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Noch immer nimmt die Öffentlichkeit keine Notiz von den Grundrechtseingriffen, die Gesundheitsminister Spahn im Eiltempo durchs Parlament zu bringen versucht. Im Streit um die geplante Meldepflicht für Nicht-Infizierte muss sich jetzt auch Justizministerin Lambrecht (SPD) kritische Fragen gefallen lassen. Dabei hatte sie kürzlich erst in einem FAZ-Gastbeitrag die Bürger hinsichtlich der Befürchtung, "wir könnten Zeugen des Abdankens liberaler Rechtsstaatlichkeit werden", zu beruhigen versucht. Aber der Reihe nach:

Der Entwurf eines zweiten Pandemiegesetzes (Spahn will auch Daten von Nicht-Infizierten) sieht erhebliche Eingriffe in das Grundrecht der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung vor. Für Empörung sorgt insbesondere folgende Regelung:

Künftig sollen auch nicht-infizierte Bürger nach erfolgter negativer Testung (PCR-Test oder Antikörpertest) auf SARS-CoV und SARS-CoV-2 gemeldet werden müssen, und zwar unter Angabe einer Vielzahl personenbezogener Daten wie Geschlecht, Geburtsmonat, Geburtsjahr, Wohnort, Untersuchungsbefunde und Grund der Untersuchung. Pseudonymisiert werden Name und Geburtstag.

In aller Deutlichkeit hat der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber die Unverhältnismäßigkeit eines solchen Grundrechtseingriffs herausgestellt:

Die Ausführungen in der Begründung lassen nicht ansatzweise erkennen, auf welcher Grundlage hier in die Grundrechte einer eklatanten Anzahl von Betroffenen eingegriffen werden soll. Die dürftigen Angaben in der Begründung deuten darauf hin, dass eine rein statistische Erfassung den Zweck ebenso erfüllen würde. Eine Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Bürgerinnen und Bürger findet nicht statt. Offenbar wird hier verkannt, dass nach der Datenschutz-Grundverordnung auch bei Pseudonymisierung datenschutzrechtliche Maßgaben zu berücksichtigen sind. […] Eine generelle, bundesweite Meldepflicht für Nicht-Infizierte [...] ist nicht gerechtfertigt.

Ulrich Kelber

Die dann am vergangenen Donnerstag im Bundestag stattgefundene erste Lesung des Gesetzentwurfs hielt eine Überraschung bereit: Obwohl den Abgeordneten die alarmierende Stellungnahme der obersten Bundesbehörde für Datenschutz vorlag, blieb ein Protest gegen den unverhältnismäßigen Datenschutzabbau aus. Nur ein einziger Abgeordneter sprach sich klar gegen die das informationelle Selbstbestimmungsrecht betreffenden "massiven" Grundrechtseingriffe aus: "Sorry, so kann es nicht gehen!" Applaus bekam der FDP-Abgeordnete Andrew Ullmann dafür kaum.

Sorglosigkeit, Zeitmangel, Überarbeitung? Von den vielen Erklärungsmöglichkeiten für das Verhalten der Abgeordneten könnte eine auch Vertrauen sein. Das volle Vertrauen nämlich in jene Instanz, die sich in der Bundesrepublik für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzentwürfen der Bundesministerien verbürgt: das Bundesjustizministerium.

Denn was kaum bekannt ist: Jeder Gesetzentwurf der Bundesregierung wird im Justizministerium einer Rechtsprüfung unterzogen. Lambrecht steht sogar ein Widerspruchsrecht zu. Kernstück der Rechtsprüfung ist im Fall von Grundrechtseingriffen die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit unter Beachtung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips. Das ist eben jenes Prinzip, das Lambrecht in ihrem FAZ-Gastbeitrag als "oberste Maxime" staatlichen Handelns in der gegenwärtigen Krise bezeichnet hat.

Und jetzt die nächste Überraschung: Da über das Gesetz bereits am kommenden Donnerstag abgestimmt werden soll, spricht alles dafür, dass Lambrecht die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs im Fall einer personenbezogenen Meldepflicht für Nicht-Infizierte bejaht haben muss. Überraschend ist das deshalb, weil der Gesetzentwurf - wie von Kelber kritisiert - weder eine Begründung der Erforderlichkeit enthält noch eine Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Bürger. Das aber wären notwendige Ausführungen, um die Frage nach der Verhältnismäßigkeit überhaupt erst klären zu können.

Auf welcher Basis hat dann aber die Bundesjustizministerin die im Zuge der ihr obliegenden Rechtsprüfung zu klärende Frage nach der Verhältnismäßigkeit beantwortet? Und wie begründet Lambrecht die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer bundesweiten personenbezogenen Datenerfassung von negativ-getesteten Menschen, die doch niemanden anstecken?

"Volle Transparenz" hat Lambrecht den Bürgern in ihrem FAZ-Gastbeitrag zugesichert und die "Aufgabe" des Staates betont, für jede in das Grundrecht der Bürger eingreifende Maßnahme "besondere Rechenschaft abzulegen".

Telepolis hat deshalb das Justizministerium um Zusendung der gemäß §§ 45, 46 Absatz 1 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO) durchgeführten Rechtsprüfung für den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gebeten.

Es wird sich in diesen Tagen beweisen, welcher Wert der obersten Bundesbehörde für Datenschutz in Deutschland tatsächlich beigemessen wird. Gegen die schwerwiegenden Einwände des Bundesdatenschutzbeauftragten soll das Gesetz bereits kommenden Donnerstag durchs Parlament gebracht werden.

Update: Ein Sprecher des Justizministeriums ließ Telepolis folgende Antwort zugehen:

"Das Bundeskabinett hat die Formulierungshilfe für einen Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite am 29. April 2020 beschlossen. Die federführende Zuständigkeit für dieses Vorhaben innerhalb der Bundesregierung liegt beim Bundesministerium der Gesundheit, weshalb ich Sie bitten möchte, sich bei Fragen an die dortige Pressestelle zu wenden. Zu einzelnen Gesichtspunkten der Abstimmung innerhalb der Bundesregierung machen wir wie üblich keine Angaben."

Der Wortlaut der Anfrage:

Wir bitten um Zusendung folgender Stellungnahmen:

1. die nach § 46 Absatz 1 GGO erfolgte Rechtsprüfung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite sowie 2. die nach § 45 Absatz 1 GGO erfolgte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite.

Wir möchten Sie ferner um die Beantwortung folgender Fragen bitten: Hat die Bundesjustizministerin in Bezug auf den oben genannten Gesetzentwurf von ihrem Widerspruchsrecht gemäß § 26 Absatz 2 GOBReg Gebrauch gemacht?

Hat das BMJV im Rahmen der oben genannten Stellungnahmen/Überprüfungen rechtliche Bedenken geäußert? Wenn ja, gegen welche im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen genau?

Wie hat das BMJV die Verhältnismäßigkeit der im oben genannten Gesetzentwurf vorgesehenen personenbezogenen Datenerfassung von Nicht-Infizierten nach erfolgter negativer Testung auf SARS-CoV und SARS-CoV-2 beurteilt?

Uns interessiert dabei insbesondere die Einschätzung der Merkmale Erforderlichkeit und Angemessenheit.