Einwanderung als "Wunderwaffe" gegen den demographischen Wandel und für abgehängte Regionen?

Wie kann die Bundesrepublik Deutschland die Einwanderung dezentral organisieren und damit abgelegene, strukturschwache Regionen vor dem schleichenden Tod bewahren?

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Der demographische Wandel und die räumlich ungleichen Lebensverhältnisse in Deutschland vertiefen sich trotz anderslautender Festschreibungen im Grundgesetz immer weiter.

Zugleich ist nach wie vor nicht geklärt, wie und ob Einwanderung in Deutschland systematisch stattfinden soll - oder ob wir uns einfach von der nächsten Menschheitskatastrophe mit Fluchtfolge überraschen lassen wollen.

Institutionen, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten beschäftigen sich mit beiden Problematiken und manchmal werden sie auch schon zusammen betrachtet. Relativ deutlich ist, dass die Bevölkerung hierzulande in den kommenden Jahrzehnten weiter schrumpfen wird. Es bleiben also drei Möglichkeiten:

Erstens der Rückzug aus der Fläche des Raums. Zweitens, dass mehr Menschen aus den Städten herausziehen, was aber natürlich nur ein begrenztes Potential hat - und drittens neue Einwohner aus dem Ausland zu holen, um jene demografische Lücke zu füllen. Letzterer Ansatz ist attraktiv, weil er eben nicht den Rückbau in entsprechenden Regionen erfordert und vorhandene Strukturen einfach weitergenutzt werden können.

Letztgenannte Variante wird auch in der laufenden Dissertation des Autors näher beleuchtet.1 Auch im Hinblick auf die Grundfrage, wie es mit staatlich induzierten Anreizsystemen für die Wahl des Wohnorts von Einwanderern (nicht nur Geflüchteten, sondern auch "regulären" Immigranten) zu einer Verbesserung der Situation in diesen Räumen kommen kann - und wie Anreizsysteme umgesetzt werden könnten.

In diesem Artikel sollen nun verschiedene Ideen und Modelle und deren Umsetzbarkeit für die Bundesrepublik diskutiert werden, auch auf Basis von zwei Befragungen im Rahmen der erwähnten Dissertation. Es wurden zum einen 423 Personen befragt, die in ländlichen oder peripher/strukturschwachen sowie von Abwanderung betroffenen Regionen in Deutschland leben; und zum anderen 189 Personen, die nach Deutschland eingewandert sind.

Ergänzt werden sollte noch, dass dieser Text kein im engeren Sinne wissenschaftlicher Artikel ist, sondern eine Sammlung von Ideen und Ansätzen, die sich um eine Fragestellung herum aufgetan haben und auf Grundlage derer Lösungsstrategien erörtert werden.

"Flüchtlinge aufs Land": Gesellschaftliche Beiträge

Die meisten großen Ballungsräume in Deutschland wachsen seit einigen Jahren in Bezug auf ihre Bevölkerungszahl während peripher/ländliche Regionen in einigen Teilen des Landes schrumpfen, vor allem in Ostdeutschland. Der demographische Wandel und die Abwanderung gehen einher mit einer rückläufigen ökonomischen Entwicklung und einem Rückbau von Infrastruktur wie Schulen in bestimmten Regionen.

Große Würfe und kühne Vorschläge um das Problem anzugehen sind notwendig. Jenseits von Sonntagsreden, in denen regelmäßig behauptet wird, Lösungen finden zu wollen, während die abgehängten Regionen weiter ausbluten, drängt aber die Zeit, endlich Maßnahmen zu ergreifen - am besten auf Basis von wissenschaftlichen Empfehlungen mit massiven finanziellen Mitteln.

Die Frage, wie Einwanderung in Deutschland momentan funktioniert und wie sie funktionieren sollte, ist wichtig und es sollte niemand davor zurückschrecken, Ideen und Konzepte für konkrete Instrumente in den Ring zu werfen. Und zwar nicht welche, die der möglichst effizienten Verwaltung dienen, sondern solche im Sinne der Gesellschaft und der Interessen der Bevölkerungsmehrheit, inklusive der Zugewanderten.

Ob oder in welchem Umfang es Sinn ergeben könnte, Geflüchtete in ländlichen Räumen anzusiedeln, wurde auf der gesellschaftlichen, politischen und der wissenschaftlichen Ebenen vor allem seit 2015 diskutiert. Besonders unter dem Schlagwort "Flüchtlinge aufs Land", so wie etwa hier oder hier.

Wissenschaftliche Institutionen wie das Thünen Institut2 untersuchen die Frage aus geographischer Perspektive heraus oder aber Stiftungen wie die Hans-Seidel-Stiftung (CSU-nah).

Zu nennen ist hier auch die Ökodorfbewegung (Global Ecovilage Network) - ein Netzwerk, deren Akteure die Rettung der Dörfer nicht nur als Selbstzweck sehen, sondern darüber hinaus auch ökologische und soziale Ziele für die Gesellschaft insgesamt verfolgt; um ländliche Regionen zukunftsfähig und ökologisch nachhaltig zu gestalten

Aber auch an der gesellschaftlichen Basis in den strukturschwachen Regionen selber ist viel Engagement von einzelnen Personen vorhanden, wie zum Beispiel vom Gemeindepolitiker und Sozialforscher Andreas Siegert in Sachsen-Anhalt.

Daneben sind es etwa Startups, "Sozialunternehmen" und jung-dynamische Digitalisten, die sich neue Arbeitsformen "im Grünen" erschließen. Natürlich geht das nur, wenn z.B. ein schneller Internetanschluss vorhanden ist.

Dadurch, dass aber nun eine Handvoll von Enthusiasten, seien es Ökobewegte, sogenannte "Sozialunternehmer" oder "Startups", maximal vielleicht ein Prozent der Bevölkerung aus den Metropolen aufs Land zieht, ändern sich die grundsätzlichen Probleme natürlich noch nicht. Die meisten dieser Menschen oder Initiativen bleiben ohnehin innerhalb eines pendelbaren Radius von vielleicht 100 Kilometern und wollen nicht verzichten auf die Stadt mit ihrer hohen Dichte an Kunst, Kultur, Veranstaltungen usw. Die wirklich prekären Räume liegen aber häufig weiter weg, als dass sie in realistischer Pendelnähe zur nächsten Großstadt wären. Wie viele z.B. Wittenberge im Niemandsland als Standort auswählen würden, sei mal dahingestellt.

In der oben erwähnten Befragung wurden eine ländlich/peripher lebende Bevölkerung danach gefragt, ob sie die in ländlichen und peripheren Regionen Perspektiven im Bereich der "Ortsungebundenen Dienstleistungen (Internet)" sehen würden und nur 10% stimmten hier zu. Bei den ausländischen Befragten waren es 10%. Diese Arbeitsperspektive sah also offenbar nur eine Minderheit beider Befragten-Gruppen für sich. Es kann aber auch sein, dass diese Konzepte unter den Befragten nur noch nicht bekannt genug sind und sie diese Möglichkeit daher als realistische Option noch nicht auf dem Radar haben.

Solche Bewegungen können nur ein kleiner Teil der Lösung sein und letztendlich wird man, sofern man die abgelegenen, strukturschwachen Regionen nicht aufgeben möchte, nicht um ein räumlich dezentral organisiertes Einwanderungssystem herumkommen. Denn ob nun ein Paar Leute hier weg- und dort hinziehen, ist solange ein Nullsummenspiel, wie die Geburtenzahl so ist, wie sie ist und jede Frau in Deutschland statistisch nur 1,6 Kinder bekommt (für eine zumindest stagnierende Bevölkerung wären 2,1 notwendig).

Auch im Lichte anderer gesellschaftlicher Probleme wie explodierender Mieten in vielen Städten, sollte man sich doch die Frage stellen, ob ein Konzept, das darauf abzielt, ländliche und abgelegene Regionen mit Einwanderern wieder stärker zu bevölkern nicht die tragfähigere Lösung ist. Und zwar nach einem festen Modus auf Basis genau berechneter Zuwanderungskontingente.

Leider sind die gesellschaftlichen Diskurse zu stark geprägt von dem vorübergehenden Ereignis des Zustroms von Geflüchteten - und werden weniger aus der Perspektive einer langfristig angelegten, stetigen und organisatorisch fundierten Zuwanderung gedacht, wie z.B. von der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD-nah) vorgeschlagen.

Auch im internationalen, vor allem im europäischen Kontext ist die zu niedrige Geburtenrate ein drängendes Problem, weshalb auch hier Perspektiven der systematischen Einwanderung und Ansiedlung in besonders betroffenen Regionen diskutiert werden. Prominent war hier etwa das Beispiel der süditalienischen Kleinstadt Riace, deren Bürgermeister Domenico Lucano Geflüchtete in seine von Abwanderung und hohe Arbeitslosigkeit geplagte Stadt holte.

Ein Konzept das zunächst gut funktionierte, dem aber durch den neofaschistischen damaligen Innenminister Salvini mit der Verhaftung und Anklage von Lucano sowie der Zwangsumsiedlung der inzwischen integrierten Immigranten vorerst ein Ende gesetzt wurde.

Auch in Portugal oder Spanien wird an der Basis in strukturschwachen Regionen an neuen Lösungen unter Einbeziehung von Einwanderung gewerkelt. Wie etwa im Rahmen von Initiativen wie "Umarme die Erde" aus der Region nordöstlich von Segovia/Zentralspanien.

Einwanderung: Bottom-Up oder Top-Down?

In Deutschland gilt besonders Kanada als positives Beispiel für eine erfolgreiche Einwanderungspolitik und es wurde in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert, ob auch hierzulande ein sogenanntes Punktesystem nach Kanadischem Vorbild eingeführt werden sollte, das hilft die "richtigen" Immigranten auszuwählen, die kommen dürfen.

Ein solches System wird auch von Australien, Großbritannien oder Neuseeland eingesetzt. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass solche Systeme fast ausschließlich nach der Qualifikation von Menschen gehen und dadurch den Braindrain in den Herkunftsländern der Einwanderer verschärfen (das Ausbluten von Ländern durch die Auswanderung Hochqualifizierter und Wohlhabender). Dies sind also Einwanderungssysteme, die vornehmlich Wirtschaftswachstum im eigenen Land und eher keine humanitären Ziele verfolgen. Damit werden sie langfristig internationale Flüchtlingsbewegungen nur verstärken. Ein Punktesystem sollte also nicht unbedingt auf die Hochqualifizierten, sondern auf die hoch Motivierten abzielen.

Wenn man über Zuwanderung in Deutschland diskutiert, muss außerdem geklärt werden, wie eine Abwägung stattfinden kann aus Top-down- und Bottom-up-Ansätzen. Eine von staatlicher Seite aus durchorganisierte Einwanderungspolitik ist naturgemäß auch stark von oben nach unten gerichtet. Dies widerspricht aber ein Stück weit Ansprüchen an Föderalismus, Demokratie und Subsidiarität.

Das Problem ist, dass eine Laissez-Faire- oder eine wenig durchdachte Einwanderungspolitik zu vielen unerwünschten Effekten führen kann, wie einer Gettobildung, also einer ethnischen Segregation und einer mangelnden Durchmischung der Bevölkerung. Dies wiederum schafft in vielen Fällen soziale Probleme und behindert eine Integration (deren Sinnhaftigkeit in Deutschland relativ breiter Konsens sein dürfte).

Wenn man nun hergeht und fordert, Einwanderer systematisch in bestimmten Gebieten "anzusiedeln", dann mag das bei oberflächlicher Betrachtung an eine Politik der Zwangsumsiedlungen à la Josef Stalin erinnern - oder einer Politik entsprechend dem Orwell/Huxley-artigen Sozialkreditsystem in China. Oder aber an eine im Westen verbreitete elitär-nationalistische Einstellung, die den abstrakten Staat über die Interessen der Menschen hebt (frei nach dem J.F Kennedy-Motto: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann - frage, was du für dein Land tun kannst").

Wie Einwanderungspolitik in diesem Geiste nicht gemacht werden sollte, zeigt die politische Top-Down-Maßnahme der "Wohnsitzauflage" in Deutschland, die 2016 durch die Bundesregierung eingeführt wurde und die viele Bundesländer seither anwenden. Mit diesem Gesetz werden Geflüchtete gezwungen, sich an einem bestimmten Ort anzusiedeln. Damit wollte man etwa verhindern, dass alle Geflüchtete in einige wenige Großstädte ziehen und so etwa zu weiter steigenden Mietpreisen beitragen.

Der Gedanke war gut, die Geflüchteten dezentral zu verteilen. Aber der Grundfehler ist natürlich, wenn man die Menschen zwingt, anstatt attraktive Anreize zu schaffen. Grundlegendste Erkenntnisse der menschlichen Psychologie sind deutschen Beamten und einigen Bundespolitikern aber offenbar fremd, möchte man da polemisieren (genau so wie Hartz-IV-Sanktionen auch katastrophal sind und durch positive Anreize ersetzt werden müssten).

In einer guten Demokratie und freiheitlichen Gesellschaft sollte das Ziel von Staatlichkeit und damit auch von Einwanderungspolitik vornehmlich darin bestehen, den Interessen der Bevölkerung zu dienen - und niemals andersherum. Daher müssen Anreizsysteme eingeführt werden, die den Leuten nutzen und keine Zwangssysteme, die umgangen werden, sobald es möglich ist. Und die in der Zwischenzeit auf allen Seiten nur Frust und Ärger - und vielleicht sogar Hass auf die Institutionen - verursachen.

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