Der hohe Preis der Direktmandate

Deutscher Bundestag. Bild: Times/CC BY-SA-2.0

Plädoyer für die Abschaffung der Direktmandate, die den Bundestag durch Lokalkolorit statt Kompetenz aufblähen

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Kennen Sie "ihren" MdB, ihren Abgeordneten im Bundestag? Vielleicht, denn weit weniger als die Hälfte der Bürger kennt wenigstens einen der Abgeordneten ihres Wahlkreises. Von daher ruft die aktuell leidenschaftliche Verteidigung des "Direktmandats" durch die etablierten Parteien Skepsis hervor und wirft zwangsläufig die Frage nach dem Wert dieser lokalen Direktwahl von Abgeordneten auf. Denn der dadurch übergroße Bundestag kostet Millionen - und er wirft auch die Frage auf, ob solcher Lokalkolorit im Sinne des Grundgesetzes ist.

Der Wahlkreis - bewährter Teil der Stimmensammlung

Sicher, für die organisatorische Abwicklung einer Wahl ist die Einteilung in Wahlkreise sinnvoll. In diesen Einheiten kann übersichtlich und kontrollierbar aus- und nachgezählt werden. Außerdem gibt die Zuordnung von Abgeordneten zu einem Wahlkreis dem einzelnen Bürger und der lokalen Öffentlichkeit einen Ansprechpartner. Mit ihm diskutiert die lokale Politik und für Journalisten ist er lokaler Ansprechpartner zu Themen der Bundespolitik.

Die Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises helfen, die berühmte Bürgernähe zu stärken, sie sind Bindeglied zwischen "denen in Berlin" und der lokalen politischen Nachdenklichkeit.

Das Direktmandat - teurer Luxus, ohne Backing im Grundgesetz

Ob allerdings "sein" Wahlkreis den lokalen Abgeordneten auch ganz allein in den Bundestag hineinwählen soll, ist dagegen eine ganz andere Frage. Wahlkreise, das sind ein oder zwei Landkreise, deren Wähler mit ihren Kreuzchen, der sogenannten Erststimme, dem lokalen Kandidaten das Bundestagsmandat sichern können. Passt das? Nur sie ohne irgendeine weitere Wählerstimme aus der restlichen Republik?

Der dadurch entstehende Lokalkolorit passt jedenfalls nicht zum Auftrag des Grundgesetzes, denn danach ist jeder Abgeordnete "dem ganzen Volke verpflichtet". Schließlich ist es der normale Egoismus, dass ein nur von einigen Landkreisen gewählter Abgeordneter primär lokal denkt, sowohl bei Gesetzesvorlagen wie auch bei den vielen Infrastrukturaufgaben, die die Bundesregierung zu steuern hat. Es ist wohl zweifelsfrei: das Direktmandat fördert den Egoismus, das lokale Denken - und genau das ist es nicht, was gute Parlamentsarbeit auf Bundesebene und auch in Europa braucht.

Aber weil für ein Direktmandat die Popularität in einem einzigen Wahlkreis genügt, ist es der Liebling der Berufspolitiker, also derer, die sich der Politik lebenslang als Beruf verschrieben haben. Denn wer in seinem Wahlkreis populär ist, hat sein Mandat sicher; ganz unabhängig von Kompetenz in Themen, die in einem Bundestag anstehen. Aber genau diese Karriere als Berufspolitiker, dieses Festhalten am Mandat ist das, was gute und mutige Politik behindert.

Parlamente brauchen Kompetenz - nicht Lokalkolorit

Als die Parlamente bei uns aus nur zwei oder drei Parteien bestanden, hatte das auf die Größe des Parlaments wenig Einfluss. Jetzt aber ist die Parteienlandschaft bunter und damit explodiert dieses System. Deutschland hat schon mit seinen mindestens 598 Abgeordneten ein sehr großes Parlament. Das macht es teuer und schwerfällig. Kaum ein anderer Staat erreicht diese Größe.

In einer Vielparteien-Republik aber explodiert das System; die Parteienverteilung entkoppelt sich durch die Direktmandate von der Stimmenverteilung der Parteien. Es entstehen die sogenannten Überhangmandate, eben die, die auf die vorgesehenen 596 Abgeordneten noch obendrauf kommen - und dieser Lokalkolorit war schon mehrfach das Zünglein an der Waage. In der laufenden Legislaturperiode wurden es 709 Abgeordnete und bei den nächsten Wahlen könnten es bis zu 800 Abgeordnete sein.

Jeder Abgeordnete erzeugt Kosten - weit über eine Million für Büro, Auto und Mobilität, Reiseentschädigung und Gehalt. Es ist ein Lebensunterhalt, der auskömmlich ist und zudem viel Respekt genießt. Gerade das Prinzip des Direktmandats wird deshalb von erfolgreichen Abgeordneten verteidigt. Aber das kann nicht im Interesse des wählenden Bürgers sein. Er will im Parlament Abgeordnete, die kompetent und entscheidungsfähig sind, die durch ihr analytisches Talent, geopolitische Urteilsfähigkeit und ihre Entscheidungskompetenz auffallen - und nicht durch Lokalkolorit auffallen und die auch nicht an ihrem Amt kleben.

Wie sehr aber die mit Direktmandat gewählten Abgeordneten dieses System verteidigen, zeigen die Vorschläge der großen Parteien. Keine einzige stellt das Direktmandat an sich infrage und machen wilde Vorschläge über andere Wahlkreisgrößen oder eine willkürliche Begrenzung der Überhangmandate auf einhundert zusätzliche Abgeordnete, ohne die Grundsatzfrage nach dem Wert des Direktmandats zu stellen.

Die Direktmandate abschaffen - die einfache, aber ungeliebte Lösung

Denn die einfachste Wahlrechtsreform ist, das Direktmandat abzuschaffen. Damit wird die Größe des Bundestages automatisch auf 596 Abgeordnete begrenzt. Und das Entfallen des Direktmandats ist auch die rationellste Methode. Denn die aufwendige Anpassung der Wahlkreise entfällt - und übrigens auch das Geschiebe um dessen Zuschnitt.

Selbstverständlich bleibt erhalten, dass jeder Wahlkreis "seine" Abgeordneten aus jeder Partei hat. Sie bleiben lokale Ansprechpartner, nur sind es nicht die Bürger des Wahlkreises allein, die ihn wählen.

Panaschieren - das Fördern der Tüchtigen

Das muss keineswegs bedeuten, dass die Wahlliste der Partei allein über die Wahl ins Parlament entscheidet. Auch Persönlichkeit zu wählen, ist in vielen der Landeswahlgesetze vorgesehen.

Das übliche Verfahren, um in der Öffentlichkeit respektierte Persönlichkeiten auch in die Parlamente zu bringen, ist das sogenannte Panaschieren, also das Ankreuzen der Personen, die man im Parlament sehen will. Sie rutschen dadurch in der Abgeordneten-reihenfolge der Wahlliste ihrer Partei nach vorn.

Man hat also unverändert zwei Stimmen, eine für die Partei und eine (in manchen Systemen auch mehrere) für einzelne Abgeordnete, die man in jedem Falle im Parlament sehen will. Das gibt eine über das Bundesland verteilte Unterstützung für die, die nach Meinung des Wählers für ihre Aufgaben besonders geeignet sind.

Dieses System befreit die Parteien im Übrigen davon, den Lokalkolorit zu übertreiben. Kompetenz und Gender werden die allein bestimmenden Kriterien bei der Aufstellung ihrer Kandidatenlisten. Und die Kompetenz der Abgeordneten ist genau das, was wir stärken müssen. Und die kann deutlich zunehmen, wenn der Lokalkolorit zurückgedrängt wird. Es bleiben immer noch Landeslisten - und das ist schon genügend Proporz in einem Bundestag.

Dr. Peter H. Grassmann studierte Physik in München, promovierte dort bei Werner Heisenberg und ging ans MIT. Bei Siemens baute er die heute milliardenschwere Sparte der Bildgebenden Systeme auf. Als Vorsitzender von Carl Zeiss (bis 2001) sanierte er das Stiftungsunternehmen in Jena zusammen mit Lothar Späth. Er ist Kritiker einer radikalen Marktwirtschaft und fordert mehr Fairness und Nachhaltigkeit. Grassmann erhielt zahlreiche Auszeichnungen und engagiert sich bei der Münchner Umwelt-Akademie, bei "Mehr Demokratie e.V.", der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gesellschaft und dem Senat der Wirtschaft.

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