UN-Hilfslieferungen: Die Macht der Türkei

US-Truppen in al-Tanf im Süden Syriens. Archivbild (2017): US-Army/gemeinfrei.

Kommentar: Russland und China werden als Blockierer für Hilfslieferungen nach Syrien angeklagt, aber die Kontrolle über wichtige Versorgungswege im Norden liegt bei der Türkei und im Süden haben die USA großen Einfluss

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Der Hunger und das Elend in Syrien und die Schuldigen: "Weil Russland und China es so wollen, wird die Hilfe für die syrische Zivilbevölkerung eingeschränkt", kommentiert die FAZ die UN-Resolution 2533, die nach längeren Verhandlungen vor drei Tagen den Sicherheitsrat passierte.

Der kurze Kommentar in der bürgerlichen Zeitung ist exemplarisch für eine politisch deutlich verkürzte Sicht auf Syrien mit agitatorischen Anklängen, da er von "Verbrechern" spricht und politische Führungen meint. Er betreibt genau das, was Russland und China vorgeworfen wird - das "Politisieren humanitärer Hilfe". Denn er kümmert sich nur um einen Ausschnitt. Beendet wird der Kommentar mit der Aufforderung an den deutschen Außenminister, sich nicht durch die Erleichterung über einen Kompromiss zu erniedrigen, "sondern den Verbrechern sagen, was sie sind".

Den Vorwurf der Politisierung humanitärer Hilfe durch Russland und China erhebt auch Alfred Hackensberger in seinem Artikel zur Entscheidung im UN-Sicherheitsrat für eine Resolution, die nur mehr einen Grenzübergang für UN-Hilfslieferungen nach Syrien erlaubt, den Übergang Bab Al-Hawa.

Allerdings ist Hackenberger zu sehr Kenner der Region, um auszulassen, was ins Auge sticht, aber im FAZ-Kommentar wie auch in einigen anderen Medien übergangen wird. Anders als diese erwähnt er die Türkei und deren Grenzpolitik.

Die Schlüsselrolle der Türkei: Selbstverständlich gibt es Lieferungen nach Idlib

Wenn es um Lieferungen nach Syrien geht, so spielt die Türkei eine Schlüsselrolle, schon seit Beginn des mittlerweile neun-jährigen Krieges. Der Grenzübergang Bab al-Hawa liegt im Nordwesten Syriens, in nächster Nähe sind Aleppo und Idlib. Kontrolliert wird der profitable Übergang auf der einen Seite von türkischen Grenzbeamten und auf der anderen von der Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), deren Kern aus der terroristischen Organisation al-Qaida stammt.

Die Miliz HTS kontrolliert Idlib und die dortige Heilsregierung, die Versorgung über die Türkei war nie ein größeres Problem. Von Anbeginn der Kämpfe in Syrien war die Türkei das Land, aus dem die Versorgung für die Gegner der Assad-Regierung kam: Islamisten, Salafisten und Dschihadisten profitieren vom Nachschub an Waffen, Rekruten und Geld, der aus der Türkei kam, ebenso wie andere Güter.

Für diejenigen, die den Grenzübergang kontrollieren, bedeutet das bares Geld - die Einnahmen machen einen beträchtlichen Anteil des Einkommens der Milizen aus -, und diejenigen, die wie die HTS in Idlib oder im Raum Aleppo islamistische Milizen Gebiete kontrollieren, in denen die Lieferung ankommt, haben auf vielerlei Art Einfluss (es gibt auch HTS-Milizen, die bei Hilfsorganisationen mitmachen) darauf, wie die Güter verteilt werden.

Offensichtlich ist: Die Versorgung des Nordwestens Syriens hängt von der Türkei ab. Sie wird von ihr kontrolliert - in den von ihr besetzten Gebieten wie Afrin und/oder über Verbündete, die wie die islamistischen Milizen im Raum Aleppo Gebiete kontrollieren oder wie die HTS einen großen Teil des Gouvernements Idlib. Die Führung der HTS hat im Übrigen die letzten Wochen in Idlib über die Abspaltung von extremistischen Gruppen, die sich eindeutig als Dschihadisten zu erkennen geben, im Grund genommen Image-Arbeit betrieben, die die Kooperationen zwischen der Türkei und der HTS besser aussehen lässt.

Es ist daher etwas irreführend, wenn nun bei der Diskussion über die UN-Hilfslieferungen suggeriert wird, dass "Lebensadern abgeschnitten" werden. Die Versorgungslebensadern funktionieren im Nordwesten, sie funktionieren aber nicht im Nordosten und das ist ganz im Interesse der Türkei.

Machtpolitik über Versorgung von lebensnotwendigen Gütern

Sie hat alles Interesse daran, dass es der Zone der kurdischen Selbstverwaltung schlecht geht. Die politische Führung der kurdischen Selbstverwaltung gilt der Türkei, die selbst mit al-Qaida-Mitgliedern kooperiert, als "Terroristen". Auf Zivilisten nimmt sie wenig Rücksicht, wie ihr Vorgehen in Afrin und in der neu besetzten Zone bei Tal-Abyad dokumentiert.

Dass sie immer wieder auch die Wasserversorgung für das kurdisch verwaltete Gebiet im Nordosten kappt, liefert das nächste Kapitel dazu, wie die Türkei die Versorgung Nordsyriens "politisiert". Auch im Nordosten befinden sich wie im Nordwesten Lager für Binnenflüchtlinge, die auf Versorgung angewiesen sind. Vonseiten der Kurden heißt es, dass die Lage immer dramatischer wird, zumal auch die Gefahr der Ausbreitung der Corona-Pandemie weiter droht.

Darüber ist allerdings in den meisten Berichten zu den Hilfslieferungen nach Syrien nur wenig oder gar nichts zu lesen. Man konzentriert sich auf Russland, China und die Regierung in Damaskus, die allesamt als autoritär und repressiv in dem Maße dargestellt werden, das sie auf die Bevölkerung Syriens keine Rücksicht nehmen.

UN-Hilfen und die Souveränität der syrischen Regierung

Schaut man sich die Lage im Nordwesten Syriens an, wo die Türkei die bestimmende Macht ist, verdeckt mit dschihadistischen Milizen und offen mit islamistischen Gegnern der Regierung Assad kooperiert, so wird der russische und chinesische Ansatz klar. Beide Länder unterstützen eine Forderung nach internationalem Recht: Dass die legitime Regierung ihre Souveränitätsrechte ausübt und die UN-Hilfslieferungen à la longue über Damaskus laufen.

Behauptet oder suggeriert wird, dass es bei den UN-Hilfen um Hilfen für Notleidende im ganzen Land geht und diese Hilfe von Russland und China blockiert wird. In Wirklichkeit aber geht es hauptsächlich um die Versorgung im Norden Syriens. Die von der Regierung in Damaskus kontrollierten Gebiete werden über Häfen und den Libanon versorgt (was allerdings angesichts der Notlage im bankrotten Libanon auch immer schwieriger wird).

Grenzübergänge im Süden

Grenzübergänge, etwa nach Jordanien, die die Versorgung für die Bewohner im Süden Syriens erleichtern würden, sind ebenfalls gesperrt und waren kein Thema bei der öffentlichen Diskussion über Hilfslieferungen. Sie liegen nun nicht im Macht- oder Einflussbereich von Russland oder China, sondern der USA, die zum Beispiel bei al-Tanf einen wichtigen Grenzposten hält und Versorgungswege abschneidet. Auch die Politik der USA gehört in den Rahmen "politischer Instrumentalisierung humanitärer Hilfe".

Besonders, weil die Syrien-Sanktionen die Notlage im Land verschärfen.

Sie treffen letztlich die Bevölkerung am meisten, wie dies lagerübergreifend festgestellt wird. An diesem Resultat kommt man ebenso wenig vorbei wie an der Feststellung, dass die Sanktionen die Regierung Assad und deren Entourage weniger schmerzlich treffen.

Das Ziel, Assad mit den Sanktionen über das Leid der Bevölkerung in die Knie zu zwingen, ist nach Erfahrungen der letzten Jahre illusorisch. Man hört auch nichts darüber, wie sich die USA und ihre Verbündeten eine bessere politische Zukunft in Syrien vorstellen, Hauptsache Assad ist weg? Hier tritt man seit vielen Jahren auf derselben Stelle, statt Verhandlungen mit Assad zu suchen, um die Lage der Bevölkerung zu verbessern.

Das Nato-Land Türkei

Auffällig ist, dass dem Nato-Land Türkei keinerlei Einhalt geboten wird. Derzeit wird davon berichtet, dass die Türkei ihre Militäreinsätze im Norden Iraks ausbauen und auch auf dem Gelände im Nordosten Syriens ihre Einflusszone ausdehnt. Die von Kurden verwalteten Gebiete stehen unter enormen Druck.

Der Übergang für UN-Hilfslieferungen aus dem Irak ist schon länger gesperrt und Russland nutzt die Kontrolle der großen Versorgungsstraßen, um die Kurden an den Verhandlungstisch mit der syrischen Regierung zu treiben. Das ist ganz eindeutig auch eine politische Instrumentalisierung der Kontrolle über die Nachschubwege. Aber auch in diesem Fall spielt die Türkei eine Schlüsselrolle im Hintergrund. Die Zwingen, die dem kurdisch verwalteten Nordosten Syriens angelegt werden, sind in ihrem Interesse.