Was bleibt von Marx?

Bild Karl-Marx-Monument: Pauli-Pirat / CC-BY-SA-4.0 / Grafik: TP

Die BLM-Bewegung in den USA reißt Statuen von Sklavenhaltern, Rassisten und Kriegshetzern nieder. In Deutschland wird dieser Sturm der Entrüstung von rechts willkommen geheißen, dankbar aufgegriffen und prompt konstruktiv gegen links gewendet. Nun soll es auch den Marx-Statuen an den Kragen gehen

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Was haben politische und wissenschaftliche Ausnahmefiguren wie Winston Churchill, Anführer eines Frontstaates gegen den Nationalsozialismus, Immanuel Kant, Urheber einer noch heute von allen braven Bürgern respektierten Moralphilosophie, und der dicke Karl Marx, Begründer der wissenschaftlichen Kapitalismuskritik, neuerdings alle miteinander gemeinsam? Ihnen allen wird in je unterschiedlichem Schweregrad der Vorwurf des Rassismus gemacht. Letzterem ausgerechnet von rechts. "Aus den Schriften von Marx wird eklatant deutlich, dass er ein Menschenverachter war", so Wolfram Weimer, ehemaliger Chefredakteur von Welt, Focus und Cicero, im Interview mit MDR.1

Belegt wird dies mit allerhand Zitaten, in denen er z.B. über den "jüdischen Nigger Lassalle" wettert oder den Juden einen Trieb zum Schacher unterstellt. Das geht so nicht! Konsequenz: Nieder mit seinen Statuen! Umbenennung der nach ihm benannten Straßen und Plätze! Damnatio memoriae! Cancel Culture! Zur Verbrennung seiner Bücher wurde zwar noch nicht aufgerufen, aber distanzieren soll man sich vorsichtshalber schon mal von diesem Menschenfeind, am besten noch vor aller Kenntnisnahme seiner Theorien und all der Inhalte, für die er mit seinem Namen einsteht. Mit Schmuddelkindern spielt man nicht, so die einfache Botschaft.

Diejenigen, die in Marxens Namen Kriege kämpften, hat das Schicksal der Gedächtnisstrafe schon früher ereilt. Als Wortführer und Feldherren einer gegen harten Widerstand erbittert geführten Revolution, die nicht nur gegen die verschiedenen inländischen Fraktionen des Bürgerkriegs (Weiße & Grüne Armee, Kosaken- und Bauernarmeen, Sozialrevolutionäre und Anarchisten, finnische, ukrainische, bessarabische, baltische, krimtatarische und transkaukasische Sezessionsarmeen, tschechoslowakische Legion, etc.) ausgefochten, sondern gleichzeitig auch gegen die Armeen des übermächtigen, imperialistische Auslands behauptet werden musste (z.B. Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Japan, Polen, Türkei, Rumänien, USA, sogar Griechenland), hatten Lenin, Stalin und Co bei Strafe des eigenen Untergangs notwendig Blut an den Händen.

Ob sie es auch genauso blutig handhaben wollten, wie es schließlich herauskam, quasi als verkappte Sadisten, die nur den einen motivlosen Selbstzweck haben, den annektierten Volkskörper zu quälen, oder ob sie angesichts brutaler Gegenwehr gar nicht anders konnten; ob die populärwissenschaftliche und propagandistische Verdolmetschung ihrer Taten an die westlichen Bürger überhaupt ihrem Wahrheitsgehalt nach stimmt oder nicht doch eher auf fragwürdigen Sekundärquellen und schlechten, unredlichen Methoden beruht - all diese und viele ähnliche Fragen stellen sich doch gar nicht und sind auch alles andere als naheliegend, wenn das Urteil schon vorher felsenfest steht: Die Bolschewiki, das sind doch allesamt Menschenfeinde!

Und wer will das auch ernsthaft überprüfen? Wer heutzutage Nachrichten schaut, weiß, dass da draußen ein zügelloser Desinformationskrieg um Deutungshoheit herrscht. Das war auch früher nicht anders und findet seine Fortsetzung auf dem Feld der Geschichtswissenschaften. Überprüfen? Neu bewerten? Wozu? Dabei könnten ja andere Wahrheiten ans Tageslicht kommen, unangenehme Wahrheiten. Ist ohnehin zu umständlich.

Schlagworte wie Kronstadt und Katyn, Tscheka und Gulag, Hitler-Stalin-Pakt und spanische Revolution, Holodomor und Kulakenverfolgung, Ärzteverschwörung, roter Terror und soldatische Massenvergewaltigungen2 sollten doch - das weiß der wertewestlich aufgeklärte Bürger dank staatsbürglicher Erziehung instinktiv - Indizien genug sein für die allgemeine Ruch- und Rechtlosigkeit dieses teuflischen Regimes. Ganz ungeachtet der Stichhaltigkeit dieser Vorwürfe gegen den allsowjetischen Staat, die übrigens auch unter bürgerlichen Historikern3, die noch über so etwas wie einen Berufsethos verfügen und ihrer Verantwortung bewusst sind, nicht unumstrittenen sind; und auch ganz ungeachtet der wirklichen Opfer der kapitalistischer Staaten, die von Leuten, die nicht ganz auf den Kopf gefallen sind, gern als Vergleichsmaß angeführt werden.

Wenn man die Systeme pur nach den Opfern vergleicht, würde folgendes auffallen: So zum Beispiel die Zahl all der Hungerleider, die jährlich millionenfach sterben, weil der Kapitalismus zwar global Nahrung in ausreichender Menge produziert, ihnen diese mangels Zahlungsfähigkeit aber gleichzeitig auch sehr prinzipiell vorenthält, ja diese eher vernichtet, als sie den Bedürftigen zukommen zu lassen. "Heute wird vor vollen Lagerhäusern gehungert."4 Diese Hunger-Staaten haben keinen Ausweg aus ihrer Misere. Durch internationale Verträge, auf die sie mit dem Gewehr im Rücken zu ihrer Rolle in der globalen Wirtschaft verpflichtet wurden, stecken sie in einer Sackgasse. Das ist mehr als nur unterlassene Hilfeleistung. Wagen Staaten einen Ausbruch, sollten sie mit ihrem völligen Ruin rechnen.

In diesem Sinne bietet sich auch noch eine andere Vergleichszahl an, nämlich all die unterschiedslos durch die überlegenen Militärmächte Frankreich, Großbritannien und USA hingerichteten Opfer der antikolonialen Nachkriegskriege in z.B. Algerien, Vietnam, Kenia und wo nicht sonst auf der Welt, mindestens in ganz Afrika und Indochina, von den modernen Kriegen in Syrien, Libyen, Jemen, Afghanistan, Jugoslawien, Irak und den erpresserischen Gängelungen von Venezuela, Kuba, Nicaragua, Iran und Korea ganz zu schweigen.

Der Westen kann es sich leisten, wirklich überall präsent zu sein und Bodycounts am laufenden Band zu produzieren. Schon die konservative Schätzungen gehen von mindestens sechs Millionen toten Zivilisten und Soldaten aus, die allein in US-Kriegen nach dem Zweiten Weltkrieg umgekommen sind, das entspricht der geschätzten Anzahl der Juden, die der Holocaust verschlungen hat.

Von den Kriegen vor dem Ersten Weltkrieg wird ja gar nicht mehr geredet, z.B. der Zerstörung der Philippinen, die militärisch auf ihre Unabhängigkeit bestanden und für den vergeblichen Versuch, diese zu erreichen, etwa eine Million Tote in Kauf nehmen mussten, also 20% der angestammten Bevölkerung. Dieser Krieg wird von Historikern deshalb nicht zu Unrecht als Genozid gewertet. Damit hatte man ja schon durch die Ausrottung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas bereits gute Erfahrungen gemacht.

Oder der verheerende Amerikanische Bürgerkrieg mit etwa einer halben Million Toten. Dies war übrigens ebenfalls ein blutiger Kampf der Systeme, in dem - bei wohlwollender Auslegung der Motivlage - die eine Partei, der industrialisierte Norden, die anderen Partei, den agrarkapitalistischen Süden, von einer unmenschlichen, ökonomischen Praxis (Sklavenhaltung) befreien wollte. Kaum anders als in Russland, nur wesentlich blutiger, zwar nicht in absoluten Zahlen, da tun sich beide Bürgerkriege nichts, aber in relativen, gemessen an der gesamten Bevölkerungszahl.

In beiden Ländern hat sich die Bevölkerung dazu entschieden, einige ihrer Städte nach den Gründervätern der jeweils neuen Staatsräson und nach den militärischen Anführern, welche diese als neue Ordnung durchsetzten. Hier Washington, Lafayette, Jackson, Franklin, Arlington, Lincoln, usw., dort Lenin, Stalin, Swerdlow, Kalinin, etc. Im ersten Fall gilt solcherlei Ehrung als Tribut an wichtige, wegweisende Persönlichkeiten in der Geschichte des Landes, und in dem anderen als von oben aufoktroyierter Personenkult, selbst wenn die Initiative zur Stadtbenennung, wie im Falle Stalingrads, von der städtischen Bevölkerung ausging.

Die Vernichtungskriege des Westens, das ist real vorgelebter Rassismus gegen andere Völker in seiner brutalsten Verlaufsform. Wer sich dem Westen nicht vorbehaltslos unterordnet, wird ohne mit der Wimper zu zu zucken, gnadenlos vernichtet, Millionen Opfer werden in Kauf genommen - nicht etwa mit "Bauchschmerzen", "ernsthaften Bedenken" und "Bedauern", nein die Verlierernationen werden auch noch zu allem Überfluss mit Spott überzogen: "Haiti is a shit hole." (Trump) In diesen kriegsträchtigen Konflikten wurden und werden millionenfach Menschen getötet, um im Namen des Guten das mörderisches Regime der profitlichen Plusmacherei aufrechtzuerhalten, von Leuten wie Weimer als Chefredakteur eines bürgerlichen Schmierblatt wie die Welt medial abgesegnet. Ja, ja, schon klar, aber Marx hat ein böses Wort gesagt, er ist der "Menschenverachter". Von so einem Typen soll man sich gefälligst distanzieren. Wer soll das denn bitte schön glauben?

Übrigens, dass all diese kriegerischen Schandtaten von Staatsmänner exekutiert wurden, die allesamt demokratisch gewählt waren, ist anscheinend kein Widerspruch zur Gewalt in ihrer Vollendung, wenn man ein entsprechend staatsdienlich zugerichtetes und durch Lügen medial aufgestacheltes Wahlvolk hat, das periodisch auf jede marktwirtschaftliche Illusion hereinfällt und trotzdem dran festhält, partout seinen Grips nicht einschalten möchte, seine Augen vor den Gräueln dieser Welt verschließt und nur egoistisch an die eigene Bewährung in der Konkurrenz denkt.

Wenn Marx sich im Namen des Humanismus und aufrichtigen Zorn erbost zeigt über eben dieses unbelehrbare Wahlvieh, es mit unflätigen Schimpftiraden überzieht, dann handelt ausgerechnet er sich doch glatt den Vorwurf der Menschenfeindlichkeit ein, obwohl er doch gerade gegen die Menschenfeindlichkeit, und zwar eine im System veranlagte Menschenfeindlichkeit anschreibt. Gut, dann bin ich eben auch ein Menschenfeind, wenn das die Qualifikation dafür ist.

Es ist eine propagandistische Kleinigkeit, mit dem Finger auf die Tragödien der sozialen Umwälzungsprozesse in Russland zu zeigen. "Schau da! Die Bösen." Ganz so, als ob es den westlichen Staatsmänner und Propagandisten um irgendwelche Menschenliebe ginge. Sie stören sich doch auch sonst nicht, wenn irgendwo auf der Welt ein Volk darbt, außer es nützt ihnen, um dadurch andere Staaten in ihre Schranken zu weisen.

Ihre Kredite müssen solch darbenden Völker trotzdem zurückzahlen. Geschäft ist Geschäft. Sie müssen für diesen Kunstgriff in puncto Diskreditierung auch nicht viel tun: Es genügt, doch einfach nur das dortige revolutionäre Regime als einzige Ursache und Urheber der dortigen Gewaltakte darstellen, diese Akte in ihrem Zweck völlig umdeuten, ihren Umfang durch einen angeblichen "Faktencheck" dann auch noch maßlos übertreiben5, und dazu sorgfältig die Rolle der westlichen Staaten verschweigen, die natürlich nicht bloß vom Seitenrand aus zuschauten während der Revolution, sondern tatkräftig eingemischt waren und hier und da auch ihrer militärischen Entschlossenheit gegen die UdSSR Ausdruck verliehen.

Dazu brauchen die Herrn Journalisten auch keine Kenntnisse der realen, historischen Umstände und der Abwägungen, vor die das sowjetische Regime in seinen Krisenzeiten mit dem Rücken zur Wand gestellt wurde. Wozu auch? Ihre Vorurteile schütteln sie doch locker aus dem Ärmel. Sie lügen und beleidigen das sowjetische Volk ohne vor Scham zu erröten - aber Marx hat was gegen Juden gesagt, so, so, womöglich dadurch Hitler überhaupt erst möglich gemacht, Stalin sowieso. Oder wie soll man diesen präzise platzierten Vorwurf verstehen?

Zumindest mit den Sowjets ist jetzt endlich Schluss. Da braucht sich Weimer keine Sorgen mehr zu machen. Deren Statuen sind durch sowjetophobe Eiferer vielerorts niedergerissen, nichts soll mehr an sie erinnern. Beziehungsweise erinnern darf man sich schon auch noch an sie, nur die richtige Brille soll mal man dabei anhaben, und die abgewickelte UdSSR als mahnendes Beispiel nehmen, das sich keinesfalls wiederholen darf.

Misslungene Strategien der Verteufelung

Das allein reicht Antikommunisten aber nicht. Dasselbe Resultat hätten hiesige Chefaufklärer von der Sorte Weimer nun endlich gern auch für die kommunistischen Cheftheoretiker Karl Marx und Friedrich Engels. Hinfort mit ihnen!

In Anbetracht der ebenso brutalen wie beklemmenden Quellenlage stellt sich die Frage, ob in Deutschland wirklich 52 öffentliche Plätze, mehr als 500 Straßen und sogar mehrere Schulen weiterhin nach Karl Marx benannt werden sollten.

Weimer

Am bestens ganz auf dem Gedächtnis löschen. Aber das ist gar nicht so einfach. Wie machen? Wie dies erreichen, ohne signifikante Teil der Bevölkerung zu verprellen oder sich Häme, Spott und Schelte von linken Intellektuellen einzufangen, die dann sicherlich nicht ausbleiben werden? Es wurde etliches versucht.

Soll man Marx einfach mit seiner Theorie der politischen Ökonomie blamieren?

Das wäre naheliegend und auch intellektuell redlich, doch mochte es bisher noch nicht so recht gelingen - daran haben sich schon die hellsten Köpfe versucht und sind im Grunde gescheitert.6 Aber wenn schon die Wissenschaft dran scheitert, dann ist das viel zu schwer für einen vorbelasteten Journalistenkopf. So wird das nichts mit einer stattlichen Verunglimpfung, zumal es für diesen Zweck auch wenig hilft - also eigentlich gar nicht -, wenn die Kollegen von ARTE und 3SAT oder ausgerechnet die Kollegen aus der FAZ in den periodisch notwendigen Krisenzeiten Marx aus der Mottenkiste hervorkramen, ihn als scharfsinnigen Ökonomen anerkennen und ihm - gegenüber den Kaffeesatzlesern aus der leidigen Volkswirtschaftslehre - durchaus den überlegenen Sachverstand attestieren, wenn auch zum Teil mit völlig falschen Argumenten.7

Da Marx auf diese Weise nicht beizukommen ist, wurde das Nächstliegende ausprobiert: Strohmann-Argumente

Man interpretiert Marx vulgär, also gar nicht so, wie er die Logik der Sachen, die er analysiert, dargestellt hat, sondern in einer beliebigen eigenen Sichtweise, am besten dem Hörensagen nach, nur um ihn dann kräftig daran zu blamieren: und zwar ausgerechnet an der eigenen Ignoranz. QED.

So zum Beispiel die Theorie eines "Historischen Materialismus", die manch einer bei Marx explizit herausgelesen haben will. Ihm wird ungeniert immer wieder unterstellt, er habe behauptet, die Geschichte vollziehe sich nach Gesetzmäßigkeiten und steuere auf ein bestimmtes Endziel zu (Teleologie). Schön wäre es! Dann könnte man sich als Marxist dezent mit einem kühlen Bier zurücklehnen, seinen Kampf gegen das System beilegen und einfach drauf warten, bis es notwendig von selbst kollabiert. So platt war Marx nicht, sonst hätte er auch schwerlich zum Kampf aufgerufen. Vielmehr sagt umgekehrt Prof. Andreas Arndt in einem Interview mit Cicero, einer Zeitschrift, deren Gründer Weimer zufällig ist:

Der sogenannte historische Materialismus ist ein Konstrukt gegen Marx. Warum: Marx ist ein Vertreter eines Geschichtsdenkens, das ganz weit zurückreicht. [...] Es wurde versucht Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte zu finden, die erklären, unter welchen Bedingungen überhaupt Geschichte zustande kommt. Marx hat keinen automatischen Geschichtsverlauf propagiert. Marx spricht zwar von "progressiven Gesellschaftsformationen", was aber nicht als ein natürlicher Gang der Geschichte fehlinterpretiert werden darf. Progressiv ist gemeint in dem Sinne, dass etwas Neues entsteht. Viel entscheidender ist: Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals entwickelt Marx eine rein negative Dialektik. Marx Konzept macht keine Prognosen über zukünftige Entwicklungen. Er versucht zu zeigen, wie die kapitalistische Produktionsweise historisch entstanden und eben in sich historisch begrenzt ist. […] Was die Bedeutung des Hegelianismus für Marx angeht, so muss festgehalten werden, dass Marx negative Dialektik nicht verbunden ist mit einer universellen Teleologie.

Andreas Arndt

Allerdings ist auch dies viel zu schwere Kost und verfängt allenfalls bei einem lesenden Publikum, welches sich überhaupt die Mühe macht, die vorgebrachten Argumente, welcher Art sie auch seien, ob falsche oder richtige, mitzudenken und in beabsichtigter Weise nachzuvollziehen. Doch all jenen Lifestyle-"Marxisten", die noch nie das Kapital - bestenfalls das Kommunistische Manifest, weil sie die kämpferische Prosa darin so schätzen - in der Hand gehalten haben, noch nie sich in gebührender Tiefe mit seinen Gedanken theoretisch auseinander gesetzt und diese auch noch nie mit anderen Menschen im Detail diskutiert und auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft und abgewogen haben.

All jenen ist auf diese Weise nicht beizukommen. Sie kennen weder die Pro- noch die Gegenargumente im Detail, schon gar nicht die Quellenlage, lassen sich von solchen also auch nicht weiter stören. Sie haben sich ebenso wie die Journalisten vom Format eines Weimer ihren eigenen Marx zurecht gelegt, nur einen entgegen gesetzten, einen, mit dem sie einfach und ruhigen Gewissens auf der richtigen Seite stehen können; einen Marx, zu dessen Statue man alle Jahre wieder mit dem heimatlichen Gewerkschafts- oder Parteiclub hinpilgern kann. Sie halten umstandslos zu ihm, genauso wie Anti-Marxisten in sämtlichen Foren aller Online-Zeitungen umstandslos an ihrem eigenen Vorurteilen kleben bleiben und so ihre beschämende Unkenntnis für die Nachwelt dokumentieren. Das Internet vergisst nicht.

Marx als Charakterschwein

Um auch diese Menschen zu erreichen, zum Hadern mit sich und ihrem namenhaften Vorbild zu bringen, braucht es etwas Primitiveres. Etwas auf dem Niveau einer Tageszeitung mit den vier großen Buchstaben sollte es dann auch schon sein. Wozu die graue Theorie? Alles, was es braucht, ist es lediglich, Marx als Charakterschwein vorzuführen, das versteht jeder sofort. Da gibt es mindestens zwei Strategien.

Die eine besteht darin, ihn als Vordenker der Menschschlächter von Stalingrad und Vergewaltiger von Berlin aufzubauen. Die Bolschewiki, die hat dieser Mistkerl höchstpersönlich verbrochen! Ihm haben sie doch nachgeeifert mit ihrem roten Terror. Und was kam dabei raus? Das Volk klein gehalten haben sie und seine Freiheiten überall beschränkt, wo es nur geht. Und zu allem Überfluss auch noch eine Mangelwirtschaft installiert, in der keiner zu dem Seinen kommt. In seinem Namen haben sie den Laden dann auch noch komplett heruntergewirtschaftet, seinen Lehren folgend, natürlich auch hier die Rolle des Westens verschweigend. In Weimers Worten klingt das so:

Die Bürgerrechtler der ehemaligen DDR verweisen zudem darauf, dass Karl Marx obendrein auch ein geistiger Brandstifter für ideologischen Totalitarismus gewesen sei, der zu vielen Millionen Toten als Opfer des Kommunismus geführt habe."

Wolfram Weimer

Die primitive Gedankenfigur geht also so: Marx=Lenin=Stalin=Massenelend + Millionen von Toten. Nun, dieser Diskredierungsansatz hätte klappen können, aber er schwächelt noch hier und dort, wie wir gleich sehen werden.

Erstens hat Marx den sowjetischen Unsinn so nicht bestellt. Dazu sagt der oben bereits zitierte Andreas Arndt im selben Interview:

Stalins oder Maos Theorie der Politik finden sie bei Marx nicht. Sein "Kapital", war ein Teil eines großen Programms, in dem sich nur sehr verstreute Äußerungen zu Politik und Staat finden. Bestimmte Rezeptionslinien haben dazu geführt, dass Mao oder Stalin meinten, sie würden einen authentischen Marxismus vertreten. Das hatte jedoch mit dem, was Marx dachte und wollte, nichts zu tun.

Andreas Arndt

Und er ergänzt:

Marx war auch immer schon damit beschäftigt sich gegen diese Interpretationen zur Wehr zu setzen. Derartige Überformungen gab es von Anfang an.

Andreas Arndt

Und es stimmt ja auch, gerade aus marxistischer Perspektive gibt es an der Sowjetunion so einiges zu kritisieren. Man möge dazu entsprechende Schriften von Peter Decker und Karl Held zu Rate ziehen, speziell im Hinblick auf das chinesische Konkurrenzprojekt auch die entsprechende Veröffentlichungen von Renate Dillmann.8

Ich bin kein Stalin-Fanboy, beileibe nicht, aber man kann ihn auch sachlich beurteilen. Man soll ihn auch kritisieren, aber bitte schön richtig und nicht mit der Moralkeule auf Basis von herbeifantasierten und längst widerlegten Quellenlagen. Das ist nicht nur in der Sache unwürdig nach Maßgabe intellektueller Redlichkeit, sondern verschleiert auch unangenehme Wahrheiten, warum es so blutig zuging in den wilden Jahren des Aufbaus Ost.

Oder will Herr Weimer nicht, dass echte und vermeintliche Mordfälle nach Maßgabe von Wahrheit und verifizierbarer Beweislage und nach bestem Wissen und Gewissen aufgeklärt werden? Soll man es lieber den falschen Personen und Umständen in die Schuhe schieben, um damit einen politischen Zweck zu erreichen? Wäre das nicht politische Justiz? Will er etwa nicht wissen, was sich tatsächlich abgespielt hat in der Sowjetunion der 1930er Jahre? Na sicher will er das, denn von welch einem rechtsstaatlichen Verständnis würde das denn sonst zeugen?

Zweitens kauft ihnen auch das adressierte Volk - also diejenigen, welche all die kommunistischen Freveltaten miterlebt haben - dieses journalistische Ammenmärchen vom allwütenden, roten Terror nicht so einfach ab. Die Russen wissen es nicht nur von den hauseigenen Historikern, sondern aus eigener Erfahrung besser. Sie wissen, was sie an dem schönen Mordor9 namens Sowjetunion hatten, die Lebensumstände, die sie ihr zu verdanken hatten. Die Elektrifizierung des ganzen Landes in knapper Zeit. Das war eine Meisterleistung. Eine Behausung für jeden Bürger nach den damals aktuellen und international anerkannten, architektonischen Vorstellungen funktionalen Wohnens. Ebenfalls beachtlich!

Wir könnten auch die kostenlose medizinische Behandlung für jedermann ansprechen. Nie hatte Russland z.B. solch eine Lebenserwartung wie zu sowjetischen Nachkriegszeiten. Ebenso die freie Bildung und einen Wissenschaftsbetrieb auf Weltniveau. Oder wir könnten über die Organisation der Arbeit reden, bei der nicht der Chef, sondern die Belegschaft selbst das Sagen hatte. So schreibt Walter Reuther10, später bekennender Anti-Kommunist und Präsident der nordamerikanischen Gewerkschaft United Auto Workers, in einem Brief an die Heimat anerkennend über seine Zeit als einer von vielen US-amerikanischen Gastarbeitern in der UdSSR:

Es gibt hier keine Bosse, um den Arbeitern Angst einzujagen. Niemanden, um sie zu einem irren Arbeitstempo anzutreiben. Hier haben die Arbeiter die Kontrolle. Sogar der Betriebsleiter hat bei ihren Versammlungen nicht mehr Rechte als jeder andere Arbeiter. [… unübersetzt ..] Stell dir das mal bei Ford oder Briggs vor. Ich sag dir … in allen Ländern, in denen wir bisher waren, haben wir nirgends solch eine wahrhaft proletarische Demokratie erlebt.

Walter Reuther

Das alles bleibt im kollektiven Gedächtnis hängen, und auch die von den sowjetischen Massen mühsam erkämpften politischen Umstände, die all dies überhaupt erst möglich machten. Und so kommt es, dass noch heute in jeder Umfrage regelmäßig bestätigt wird, dass die russische Bevölkerung in überdeutlicher Mehrheit noch immer hinter seinen kommunistischen Gallionsfiguren aus alten Tagen steht. Hingegen wird Gorbatschow, die Heilsfigur des Westens, die den unsäglichen Wandel gebracht hat, zu den am meisten verachteten Figuren der russischen Geschichte gezählt.

Natürlich wird dies umgehend mit dem Vorwurf der Verblendung und einer realitätsfernen Ostalgie quittiert. Oder noch besser: Man wirft den Nostalgikern gleich Nationalismus und Großmachtstreben vor. Alles, was sie vermissen und wovon sie Nacht träumen würden, ist doch nur die alte Stärke der Sowjetunion als Weltordnungsmacht, die Russland gegenwärtig noch abgeht. Ganz so stehen lassen will man die schönen Erinnerungen an die guten, alten Zeiten ja dann doch nicht.

Die andere Strategie zur Diskreditierung von Marx ist noch billiger, weil sie näher am Lebensalltag des adressierten Arbeiters ist, der ja bloß nicht auf Marxsche Gedanken kommen soll. Man muss ihm nur vorrechnen, dass dieser elendige Marx, dieser Menschenfeind, auch privat ein ganz übler Kerl war. Was ist von so einem überhaupt zu erwarten? Seine Frau soll er betrogen haben. Bisher hab ich zwar noch nicht gelesen, dass ihm auch häusliche Gewalt unterstellt wird, aber es würde nicht wundern, wenn dies auch noch bald nachgetragen wird, passen würde es ganz sicher zu ihm, das ist so einer. Wie dem auch sei, jedenfalls ein Schnorrer soll er gewesen sein, und überhaupt ein ganz unsittliches Leben habe er geführt. Dieser schäbige Typ hat ja ohnehin noch nie gearbeitet. Und der will uns was von Arbeit erzählen?! Der ließ sich doch von seinem Kumpel Engels aushalten. Skandal!

Gut, dass Weimer zumindest nicht auf diesen Zug aufgesprungen ist. Das wäre auch reichlich peinlich, denn es ist kontrafaktisch. Marx war politischer Journalist und hat denselben Job gemacht wie Wolfram Weimer selbst. Er hat für namenhafte Zeitungen das Weltgeschehen kommentiert, natürlich unter ganz anderen ideologischen Vorzeichen, aber von der Stellenbeschreibung her gleich. Unzählige Artikel zeugen davon.

Und außerdem wäre ja gerade an einer zusätzlichen Unterstützung durch seinen Freund Engels nichts befremdlich. Engels verfuhr mit seinem Geld, wie es ansonsten der Ausdruck höchster Freiheit im Kapitalismus sein soll. Man tut damit, wie es einem beliebt. Ist das nicht sogar die Quintessenz dieser viel gepriesenen Sorte Freiheit? Und wenn Engels nun mal der Sinn danach stand, seinen Weggefährten über die Runden zu bringen, statt sein Schicksal der Gosse zu überlassen, weil man damals auch als Journalist nicht genug verdiente, um eine große Familie durchzubringen, dann sei es eben so.

Doch dieses Geld kam nicht von irgendwoher. Engels, dieser Doppelzüngler, war ja selbst Kapitalist, aber das darf Herr Weimer ihm schon gar nicht zum Vorwurf machen, und er spart es sich auch, denn schließlich hat er nichts gegen Kapitalisten, er bewundert sie11 und ist als Inhaber einer geschäftstüchtigen Zeitung nicht zuletzt selbst einer. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass die englische Arbeiterschaft, aus deren Fleiß Engels als erbender Unternehmersohn den Mehrwert herausgepresst hatte, die Verwendung desselbigen besser in der Versorgung einer in Not geratenen Migrantenfamilie aufgehoben sah als für Luxus-Güter verprasst zu werden. Immerhin hat die internationale Arbeiterschaft eben dieser Migrantenfamilie viel zu verdanken. Nichts geringeres als die korrekte Erklärung ihres elendigen Daseins.

Ach und überhaupt, nach heutiger Sichtweise wäre Marx doch nichts anderes als ein langzeitiger Forschungsstipendiat, der von einem Großunternehmer finanziert wird. Solche Stipendien werden heute zu Tausenden vergeben. Macht es all diese Stipendiaten von heute automatisch zu Taugenichtsen, die sich nur aushalten lassen? Mit solchen Schlüssen wäre ich vorsichtig. Und auch sein Seitensprung, der ja gar nicht zu leugnen ist, kann in Zeiten von Tinder eigentlich niemanden wirklich mehr vom Hocker reißen, allenfalls ein müdes Schulterzucken. Das ging vielleicht noch vor 30 Jahren. Heute ist ohnehin Patchwork Family angesagt. Marx und Engels waren nicht gerade die Verfechter eines klassischen Familienbildes, und ihre Frauen wussten sicherlich, auf was für Schufte sie sich da einlassen.

Marx, der Ermöglicher des Holocaust

Was man auch versucht hatte, die Diskreditierung von Marx mochte nicht so recht gelingen. Doch halt! Eine Sache gibt es, und die soll ihm nun endlich den Garaus machen. Denn endlich wissen wir dank Weimer, dass er ein blanker, hasserfüllter Rassist war.

Erinnern wir uns fortan am besten nur noch daran, dass er den Arbeiterführer Lassalle, dem er nicht zu Unrecht politökonomische Ignoranz und staatsdienlichen Opportunismus unterstellte, im Anflug einer Wut einen "jüdischen Nigger" genannt und dies auch näher expliziert hat. Und behalten wir fortan am besten nur noch im Gedächtnis, dass er seinen kreolischen Schwiegersohn Paul Lafargue als "Abkömmling eines Gorillas" bezeichnet hatte.

Kehren wir dabei ruhig unter den Tisch, dass er selbst es war, der diesen jungen Mann, dem er Zeit seines Lebens und darüber hinaus ein Mentor war, mit seiner Tochter bekannt gemacht hat, sich also keinesfalls ein rassenfremdes Element gegen seinen Willen in der Familie breit gemacht hat, sondern dem er anscheinend Tür und Tor geöffnet hat. Vergessen wir auch, dass Lafargue zeitlebens einer der eifrigsten Mitstreiter Marxens war und nicht nur seine Bücher übersetzt hatte, sondern in seinem Namen auf Mission nach Spanien ging und nach dessen Ableben auch noch die erste marxistische Partei Frankreichs gegründet hatte. Lafargue hätte diese Zuschreibung als Gorilla vermutlich eher als das aufgenommen, was sie war, ein deftiger Witz. Unangebracht, ja vielleicht, das kann schon sein, aber auch nicht weiter schlimm, denn intellektuelle Kommunisten kennen keine Ehre, schon gar nicht eine, die sich an der Hautfarbe festmacht. Ehre und Anerkennung ist nur was für Leute, die nicht nachdenken wollen - ein antrainierter Beißreflex, nichts weiter.

Es ist insofern auch egal, ob Deutschland seine Denkmäler für Marx und Engels beibehält oder im Furor niederreißt. Sie kommen mir eh wie ein materialisierter Hohn vor. Als Person soll man sie ehren, aber gleichzeitig auf den Inhalt ihrer Gedanken verzichten? Vor ihnen wird ja sogar gewarnt. Da kann man sich die vermeintliche Ehrung ja auch gleich sparen. In dieser Art kann man ihn ja auch gar nicht gebührend ehren. Was Marx ausmacht, sind schließlich seine Werke, seine bereichernden Gedanken, und nicht seine äußerliche Figur, obwohl der Bart ihm wirklich gut steht.

Als große Lehre dieser Marx-Engels-Werke müssen wir dank Weimer uns fortan nur eins merken, dass Marx ein verkappter Rassist war, und zwar "einer der übelsten Rassisten", "in der Kategorie Rassist weit vor Bismarck einzuordnen" (Weimer). So schlimm also? Nein, noch viel schlimmer, denn ein hoffnungslos verblendeter Antisemit war er ja auch noch.

Beweis: Seine Schrift "Zur Judenfrage" und ein paar darin vorfindliche Zitate, in denen er sich dem Anschein nach despektierlich über Juden äußert. Dabei wird einerseits unterschlagen, dass Marx ein prominenter Verteidiger der jüdischen Emanzipation war und viele jüdische Autoren stets gegen Anfeindungen in Schutz nahm z.B. seitens Bruno Bauers, einem virulenten Antisemiten, auf dessen Schrift "Die Judenfrage" Marxens fast gleichnamiges Essay die polemisch-ironische Replik war. Sein Einsatz für Juden sorgte für Ansehen in der jüdisch-intellektuellen Szene und führte noch im selben Jahr dazu, dass er auf Anfrage der jüdischen Gemeinde Kölns eine Petition gegen staatliche Repressionen unterzeichnete - welcher Antisemit macht das?

Überdies wird von Weimer übersehen, dass Marx sich zur Zeit der Abfassung dieser Schrift noch selbst gar nicht als Sozialisten oder Kommunisten verstand. Er stand ja noch ganz zu Beginn seiner polit-literarischen Schaffensphase, in deren weiterem Verlauf bis zu seinem großen Wurf, dem Kapital, er noch vieles hinzu lernen musste. Und selbst wenn er in seinen Frühschriften ein Rassist gewesen sein sollte - was vehement zu bestreiten ist, deswegen nur rein hypothetisch und aus der Luft gegriffen -, was soll daraus folgen? Können wir ihm keine Entwicklung zum Besseren zugestehen? Wenn nicht, welches Signal senden wir damit aus? Einmal Nazi, immer Nazi? Nach dem Motto: Es ist egal, was du jetzt denkst, was du früher gedacht hast, ist ohnehin viel entscheidender, im Hinblick darauf, was wir über dich denken, also versuch erst gar nicht, ein besserer Mensch zu werden, wir werden dich so oder so verachten.

Geht so Aufklärung? Geht so Diskurs? Ich dachte, ein Austausch von Argumenten sollte immer auch darauf abzielen, sein Gegenüber zu überzeugen, um ihn von seiner ursprünglichen Gesinnung abzuholen und zu einer besseren hinzuführen. Dies ist einem Weimer offenbar nichts wert. Man könnte sich ja auch, wenn man Marxens Rassismus für ein großes Thema hält, sich geradezu freuen, dass dank hartem Selbststudium und daraus gewonnener Einsicht letztlich ein Rassist weniger auf der Straße herumläuft, noch dazu ein international einflussreicher Multiplikator humanistischer Ideen. Aber davon will Weimer auch nichts wissen.

Weimer verschwiegt auch, dass es in der von ihm beanstandeten Schrift nicht um das geht, was sie dem Titel nach für den modernen Leser vielleicht suggerieren mag. Er bemüht sich aber gar nicht erst, dieses Missverständnis auszuräumen, vielmehr befeuert er es nur noch umso mehr12, denn es ist ihm nicht zu billig, seine Leserschaft in dieser Fehlauffassung zu bestärken, indem er einfach mal vielsagend andeutet: "Sein Text Zur Judenfrage (1843) legt den geistigen Grundstein für blanken antisemitischen Hass."

Tut es das wirklich? Wer jedenfalls meint, es ginge hier um Fragen der Endlösung, irrt einfach. Es wäre doch mal schön, wenn sich Herr Weimer an einer Zusammenfassung dieser Schrift versucht13, um so seine journalistische Kompetenz14 unter Beweis zu stellen. Er kann ja die unflätig empfundenen Stellen, die seinem subjektiven Verständnis politischer Korrektheit missfallen, weglassen und sich allein auf den theoretischen Inhalt konzentrieren. Man könnte dann im Anschluss diesen Aufsatz von einigen namenhafte und textkundigen Professoren15 auf Textverständnis hin beurteilen lassen. Das wäre doch ein Spaß. Aber den lassen wir mal bei Seite.

Marx war sicherlich kein Ideengeber für den Holocaust. "Zur Judenfrage" ist im Grunde vielmehr eine frühe Analyse des Verhältnisses von Staat zu Religion im Allgemeinen, mit durchaus starken religionskritischen und emanzipatorischen Argumenten. Zwar ist seine Sprache in dieser Schrift vor dem Hintergrund heutiger Sprachbefindlichkeiten grob fahrlässig, nur allzu leichtfertig bediente er manch antijüdisches Klischee, welches den Juden stets in die Nähe von Geld und mehr Geld rückt, aber seine Argumente sind es nicht, ein Judenhasser war er ganz sicher nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er mit solchen Zitaten bewusst provozierte, um die Argumente seines Gegenübers zu karikieren. Und als Spross einer jüdischen Familie war er ohnehin nicht kleinlich mit Kritik am eigenen Sumpf.

Wenn er ein Judenfeind war, dann allenfalls im untadeligen Sinne eines polemischen Nestbeschmutzers, ganz ähnlich wie wenn man als antinationalistischer Freidenker dem eigenen Heimatland stets mit einer gesunden Portion Argwohn und im Bedarfsfall, wenn die Dinge richtig schlimm werden im eigenen Land und der eiegenen Kultur, sogar mit ungezügelter Verachtung gegenüber steht.

Wenn Marx also, wie Weimer zitiert, Dinge schreibt wie, dass ihm der "israelitische Glaube widerlich" ist, dann zeigt sich darin nicht automatisch ein Antisemitismus, sondern - in dubio pro reo - zunächst bloß seine atheistische Gesinnung. Und die muss jeder mit sich selbst ausmachen. Er ist ja auch nicht umsonst in die Geschichte eingegangen als ein exponierter Religionskritiker, der nicht nur alte Kritik wiederholte, sondern vielmehr neue Paradigmen einführte. Oder will Herr Weimer etwa andeuten, dass Atheisten im Grunde ohnehin Rassisten sind?

Wie steht es dann mit all den beliebten, tendenziell weniger familienfreundlichen Comedians wie George Carlin, Doug Stanhope, Serdar Somuncu, Ricky Gervais, Jim Jeffries, Bill Burr, Mark Maron, David Cross, Dylan Moran, Louis C.K., Joe Rogan, Hannibal Buress, Sarah Silverman, und wie sie alle heißen, die sich in ihren Auftritten in unablässiger Weise zurecht spöttisch über Religionen äußern, und uns in bunten Wortbildern nur allzu plastisch anschaulich machen, wie sehr ihnen einen religiöse Gesinnung missfällt und vor allem auch warum. Sie argumentieren! Manchmal sehr gut, sehr pointiert, manchmal stark verkürzt, aber durchaus ausbaufähig. Als Stilmittel kommt auch bei ihnen sehr häufig die bewusste Überzeichnung von Klischees zu Anwendung. Das ist notwendig, um sie im Anschluss torpedieren zu können. Manchmal gelingt es und manchmal nicht. Das ist der schmale Grat, den auch Marx gegangen ist. Sind sie alle deswegen üble Rassisten?

Dieser Vorwurf wäre nicht durchzuhalten, wenn man die Gesamtheit ihrer Bühnenkunst in Augenschein nimmt. Die meisten von ihnen erweisen sich bei genauerem Hinsehen umgekehrt eher als ausgewiesene Humanisten, die gegen dogmenhaftes Denken ankämpfen. Marx hat die Juden sicherlich nicht geliebt, als atheistische Koryphäe wäre das auch reichlich befremdlich, aber er hat sie auch nicht innigst gehasst. Vielmehr umgekehrt wurde er selbst bei etlichen Gelegenheiten antisemitisch angefeindet, etwa von seinen Zeitgenossen und Konkurrenten um die Führung der internationalen Arbeiterschaft, Bakunin16:

Als Deutscher und als Jude ist er vom Scheitel bis zur Zehe ein Autoritär.

Michail Bakunin

Darin soll sein vermeintlich autoritärer Charakter also seine Ursache haben, in seiner nationalen und religiösen Herkunft, denen er beiden den Rücken gekehrt hat? Solche Zusammenhänge herzustellen und sie gegen jemanden zu wenden, um ihn vorzuführen, ist klarerweise Rassismus. Dennoch würde ich den Teufel tun, das literarische Vermächtnis eines Bakunins allein an solchen Sätzen zu messen. Aus eben denselben Gründen, aus denen ich es mir auch bei Marx verbiete.

Es ist klar, auf welchen Schluss Weimer mit seinen Verweisen abzielt: Marx=Antisemit=Hitler=Holocaust. Und so hat Marx nicht weniger als die beiden Dämonen des 20. Jahrhunderts verbrochen: Hitler und Stalin, Holocaust und roter Terror. Das hat dieser Mann verbrochen. Und für Maos und Kims Tote hat er sich bestimmt auch noch zu verantworten.

Marx ein Antisemit? Dafür fehlt im etwas Entscheidendes. Er kennt gar nicht die dem ökonomischen Antisemitismus eigene Unterscheidung zwischen einem guten schaffendem und einem schlechten raffendem Kapital, was noch jedem volksnahem Politiker links der FDP leicht von den Lippen geht, wenn er sich über die maßlose Gier des Finanzkapitals echauffiert - das würde einem FDPler natürlich nie einfallen -, die sich auf Kosten der "Realwirtschaft", auf Kosten des Arbeiterfleißes gütlich tut, ohne selbst auch nur an einer einzigen Stelle im Produktionsprozess Hand angelegt zu haben. Diesen Unterschied gibt es nicht nur sachlich nicht, mit seinem ganzen Theoriewerk schreibt Marx doch gerade gegen diese utopisch-romantische Fehlvorstellung an, man könne die Institutionen der kapitalistischen Produktionsweise auch irgendwie positiv wenden, sie etwa nach gut (z.B. Fleiß, Sparsamkeit) und böse (z.B. Wucher, Abzocke) sortieren und die schlechten Anteile dann einfach durchstreichen oder ihre negativen Wirkungen durch sinnvolle Gegenmaßnahmen kompensieren.

Selbst wenn man das tut, streicht dies noch lange nicht die Widersprüche durch, die Marx in seiner Kritik der Marktwirtschaft, auch der sozialen17, herausgearbeitet hat. Was haben Marx und Engels eigentlich selbst zum Thema Antisemitismus zu vermelden? Ein Brief von Engels, der sich mit Marx wechselseitig stark beeinflusste, ist aufschlussreicher als jede noch so kunstvolle Andeutung von Weimer. Engels schreibt, und spricht damit nicht nur für sich, sondern sicherlich auch für seinen engen Weggefährten Marx, in folgenden Worten:

Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur und findet sich deshalb auch nur in Preußen und Österreich resp. Russland. […] Es ist in Preußen der Kleinadel, das Junkertum, das 10.000 Mark einnimmt und 20.000 Mark ausgibt und daher den Wucherern verfällt, das in Antisemitismus macht, und in Preußen und Österreich ist es der dem Untergang durch die großkapitalistische Konkurrenz verfallene Kleinbürger, Zunfthandwerker und Kleinkrämer, der den Chor dabei bildet und mitschreit. [...] Nur da, […] wo noch keine starke Kapitalistenklasse existiert, also auch noch keine starke Lohnarbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach ist, sich der gesamten nationalen Produktion zu bemächtigen, und daher die Effektenbörse zum Hauptschauplatz seiner Tätigkeit hat, wo also die Produktion noch in den Händen von Bauern, Gutsherren, Handwerkern und ähnlichen aus dem Mittelalter überkommenen Klassen sich befindet - nur da ist das Kapital vorzugsweise jüdisch, und nur da gibt's Antisemitismus. In ganz Nordamerika, wo es Millionäre gibt, deren Reichtum sich in unseren lumpigen Mark, Gulden oder Franken kaum ausdrücken lässt, ist unter diesen Millionären nicht ein einziger Jude, und die Rothschilds sind wahre Bettler gegen diese Amerikaner. Und selbst hier in England ist Rothschild ein Mann von bescheidenen Mitteln z.B. gegenüber dem Herzog von Westminster. Selbst bei uns am Rhein, die wir mit Hilfe der Franzosen den Adel vor 95 Jahren zum Land hinausgejagt und uns eine moderne Industrie geschaffen haben, wo sind da die Juden? Der Antisemitismus ist also nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben. […] Dazu kommt, dass der Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, dass hier in England und in Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei, dank der spanischen Inquisition, es Tausende und aber Tausende jüdischer Proletarier gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und die aller elendesten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da sollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital? Außerdem verdanken wir den Juden viel zu viel. Von Heine und Börne zu schweigen, war Marx von stockjüdischem Blut; Lassalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind Juden. Mein Freund Victor Adler, der jetzt seine Hingebung für die Sache des Proletariats im Gefängnis in Wien abbüßt, Eduard Bernstein, der Redakteur des Londoner Sozialdemokrat, Paul Singer, einer unserer besten Reichstagsmänner - Leute, auf deren Freundschaft ich stolz bin, und alles Juden! Bin ich doch selbst von der Gartenlaube zum Juden gemacht worden, und allerdings, wenn ich wählen müsste, dann lieber Jude als "Herr von"!

Friedrich Engels

Von Rassisten, die Humanisten des Rassismus bezichtigen

Fassen wir nun noch einmal ein letztes Mal zusammen, denn man kann es eigentlich gar nicht oft genug wiederholen. Marx war ein Rassist, Rassist, Rassist! Und Antisemit. Wenn wir es nur oft genug aussprechen, kriegt es irgendwann auch BLM mit. Den Rest erledigen dann regressive Identitätspolitik und Cancel Culture. So jedenfalls vermutlich Weimers Hoffnung.

Aber ich bezweifele, dass auch nur ein Schwarzafrikaner, Afroamerikaner oder jüdischer Kommunist, der seinen Marx studiert hat, sich in seinem Marxismus von solch einem Unsinn beirren lässt. Nicht deshalb! Zumindest die amerikanischen Gründer von BLM sind bekennende Marxisten, wenn dies auch für manche Fraktionen dieser Bewegung, die ihr Grounding eher in anderen akademischen Strömungen (Critical Whiteness, Antikolonialismus, etc.) oder gar keinen haben, nicht zutreffen mag. Und auch marxistische Intellektuelle jüdischer Provenienz gab und gibt es weltweit in großer Zahl. Sie stören sich jedenfalls nicht an Marxens vermeintlichem Antisemitismus, weil sie ihn richtig einzuordnen wissen.

Die Debatte um seinen Rassismus ist schon ein Treppenwitz für sich, nämlich dass ausgerechnet jene, die jetzt Marx Rassismus vorwerfen, sich ansonsten als gerade diejenigen ausweisen, die ansonsten über Ausländer nichts Gutes zu berichten wissen und nach einer viel strengeren Migrationspolitik verlangen, deren Ausbleiben fast schon einem Verrat am heimischen Volk gleicht. Weimer ist selbst von dieser Sorte. Seine Hasstiraden gegen Ausländer wurden hier bereits schon ausgiebig diskutiert (Haben Sie endlich weniger Mitleid mit Flüchtlingen!). In denen bezeichnet er die hiesigen Migranten z.B. als ausländische "Migrationswaffe", deren Zweck die Zerstörung Deutschlands sei. An einer anderen Stelle bezeichnet er den deutschen "masochistischen Zug zum Multikulturalismus" (gern auch mal abfällig als "Flüchtlingsindustrie" gekennzeichnet) als "Wiedergutmachung durch kulturelle Selbstvernichtung". Kulturelle Selbstvernichtung, was soll das denn bitte sein? Sie meinen "Überfremdung", Herr Weimer. Warum nicht gleich so offen? Ach was, man tut Ihnen Unrecht, denn eigentlich sagen Sie es auch genauso unverblümt: "ein Halloween der Entfremdung":

In unseren Großstädten leben Millionen arbeitsloser Muslime in Parallelwelten, die Hassprediger der Moscheen haben Deutungsmacht wie einst Demagogen, und der Rassismus ist zurück in vielen Köpfen.

Wolfram Weimer

Zum Beispiel in Ihrem, Herr Weimer. Ihre Xenophobie trieft aus jeder Pore. Sie sollten sich hinter die Ohren schreiben, dass man Rassismus nicht durch Rassismus bekämpfen kann. Wieso schreiben Sie denn solche Dinge wie?: "Der Multikulturalismus ist eine Pest." Oder:

Der innerstaatliche Multikulturalismus, der uns aus muslimischen Problemgebieten einen Kulturgewinn vorgaukeln will, der ist ein Stein in sich selbst. Seine dunkle Farbe macht kein Mosaik, sie macht blind.

Wolfram Weimer

Was bedrückt Sie, dass Sie es kaum verkraften können, ein wenig Gleichmut und Toleranz an den Tag zu legen? Etwa dass Ihr geschätzter Goethe nicht mehr im Abitur gelehrt wird? Nein, da kann man Sie beruhigen, diese Gefahr besteht nicht, da müssen leider auch die Migrantenkinder durch, wenn sie ihre Hochschulzugangsberechtigung haben wollen. Hingegen kennen biodeutsche Hauptschüler den Dichterfürsten bestenfalls eigentlich nur dem Namen nach aus Filmen wie "Fack ju Göhte!"

Noch einmal Pardon, Herr Weimer. Ich habe den Kontext Ihrer Zitate unterschlagen, Sie sagen ja schließlich im Fortlauf Ihrer Ausführungen ganz genau, woran Sie so schmerzlichst leiden. Das soll hier nicht untergehen, schließlich will ich mich Ihrer berüchtigten Zitier-Methoden, die eines wahrlich Denunzianten würdig sind, nicht ebenso schuldig machen. Oh Gott, soll man es wirklich aussprechen? Es könnte peinlich für Sie werden. Nun gut, woran Sie leiden, sind Ihre eigenen Vorurteile, die zwar auf den einen oder anderen Migranten zutreffen mögen (Stichwort: Hassprediger, Mädchen-Beschneidung, Ehrenmorde), die Sie aber mühelos auf die gesamte Ausländerschaft verallgemeinern.

Und versuchen Sie sich da jetzt nicht herauszureden, Sie hätten es so im Wortlaut nicht gesagt. Denn ginge es Ihnen allein um diese durchaus sträflichen Delikte, überließe man diese doch getrost den Instrumenten Ihres geschätzten Rechtsstaats. Kein Grund, gleich alle Migranten unter einen Generalverdacht zu pressen.18 Machen das nicht nur Nazis? Am liebsten aber hätten Sie den Rechtsstaat gleich direkt so eingerichtet, dass er keine Ausländer rein lassen soll. Jedenfalls schreiben Sie solche Dinge. Keine Ahnung, ob Sie sie auch wirklich meinen, was Sie so von sich geben.

Zuletzt ein Ratschlag an Sie, Herr Weimer. Wenn Sie das nächste Mal wieder full on ad hominem gehen und Argumente der untersten Schublade bemühen, bedenken Sie nicht nur, dass es auf Sie zurückfeuern könnte, wie soeben geschehen, sondern beherzigen Sie auch die folgenden wichtigen Worte eines großen Mannes über intellektuelle Redlichkeit, sofern Ihr allgemeines Textverständnis im Allgemeinen und Ihr Wissenschaftsverständnis im Besonderen, dies überhaupt zulässt:

Ein Mensch, der der Wissenschaft einen außerhalb der Wissenschaft liegenden Standpunkt zu akkommodieren versucht, den nenne ich gemein.

Karl Marx

Ich auch.