Türkische AKP orientiert sich an deutschem NetzDG

Grafik: TP

Die Große Nationalversammlung in Ankara hat ein Gesetz zur stärkeren Kontrolle der Sozialen Medien beschlossen

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Heute hat die Türkiye Büyük Millet Meclisi, die Große Nationalversammlung der Türkei, mit den Stimmen der Regierungsmehrheit aus islamistischer AKP und nationalistischer MHP eine Verschärfung des Gesetzes 5651 verabschiedet (vgl. Türkei verabschiedet Gesetz zur Kontrolle sozialer Medien). Dieses Gesetz schreibt vor, dass Social-Media-Plattformen, die von über einer Million Türken am Tag benutzt werden, binnen 30 Tagen nach dem Inkrafttreten der neuen Vorschrift eine Niederlassung in der Türkei mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter nachweisen müssen. Tun sie das nicht, kann ein türkisches Gericht die Provider im Land dazu zwingen, dass sie die Bandbreite dieser Dienste um bis zu 95 Prozent drosseln.

Außerdem werden die Social-Media-Plattformen dazu verpflichtet, die Daten türkischer Nutzer auf Servern in der Türkei zu speichern. Das kann man als Datenschutzmaßnahme sehen - oder als Erleichterung eines Zugriffs durch öffentliche Stellen. Gibt es Beschwerden gegen Postings solcher Nutzer, sollen die Plattformen die entsprechenden Inhalte binnen 24 Stunden entfernen. Tun Sie das nicht, droht ihnen eine Strafe zwischen einer und zehn Millionen Lira - also umgerechnet zwischen 120.000 und 1,2 Millionen Euro.

"Beleidigungen", "Beschimpfungen" und "Belästigungen"

Der stellvertretenden AKP-Fraktionsvorsitzenden Özlem Zengin nach soll das neue Mediengesetz erreichen, dass "Beleidigungen", "Beschimpfungen" und "Belästigungen" aus Sozialen Medien verschwinden. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der dieses Ziel vorher ausgegeben hatte, nannte in diesem Zusammenhang das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) als Vorbild.

Dessen unlängst verschärfte Version wird den Schätzungen des deutschen Justizministeriums nach die deutschen Ermittlungsbehörden und Gerichte mit etwa 250.000 zusätzlichen Äußerungsdeliktfällen jährlich beschäftigen, weil es Facebook, YouTube, Twitter, Instagram und Tiktok dazu verpflichtet, gelöschte "Hass-Postings" nach Beschwerden an das Bundeskriminalamt zu melden. Die sozialdemokratische Bundesjustizministerin Christine Lambrecht meinte dazu, Deutschland werde hier "Vorreiter sein", weil es "eine solche Meldepflicht für strafbaren Hass" sonst bislang nirgends gebe.

Wie in Deutschland, wo Äußerungen über die Grünen-Politikerin Renate Künast als Beleg der Notwendigkeit einer Gesetzesverschärfung genutzt wurden, dienten auch in der Türkei verbale Angriffe auf Politiker zum Vorbereitungsframing. Hier richteten sie sich gegen den Finanzminister Berat Albayrak, der mit Erdoğans Tochter Esra verheiratet ist.

Leaks

In der Vergangenheit hatte die türkische Staatsführung versucht, von ihr als schädlich betrachtete Inhalte in Sozialen Medien durch Sperren von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Neben mehreren zehntausend Websites betraf das zeitweise auch die Online-Enzyklopädie Wikipedia und Inhalte auf Facebook, Twitter und YouTube.

Dort, auf YouTube, waren 2014 angeblich heimlich gemachte Audio-Aufnahmen aufgetaucht, auf denen sich der damalige türkische Außenminister, der Chef des Geheimdiensts Milli İstihbarat Teşkilatı (MİT), ein Generalleutnant und ein Staatssekretär über ein direktes militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg zu unterhalten scheinen. In diesem Zusammenhang wird auch ein inszenierter Angriff auf türkisches Territorium diskutiert, um einen Anlass für einen Einmarsch zu haben. Außerdem heißt es, man solle so einen Einmarsch in Syrien als Operation gegen den IS darstellen, um das "internationale Recht" auf seiner Seite zu haben (vgl. Deutsche Politiker uneins über Konsequenzen aus False-Flag-Leak).

Telefonmitschnitte, die im selben Jahr im Internet auftauchten, bezeichnete Erdoğan zuerst als "Montagen" und sprach von einer "Verschwörung". Später räumte er ein, dass auf zwei der Clips tatsächlich seine eigene Stimme zu hören ist. In dem einen Clip geht es um ein Bußgeld gegen den Medienkonzern Doğan, in dessen Publikationen türkische Journalisten das schrieben, "was sie sich woanders nicht mehr trauen" (FAZ). Ein alevitischer Richter hatte das Bußgeld in einer das ganze Unternehmen gefährdenden Höhe am 2. Juli 2013 aufgehoben, woraufhin Erdoğan seinem damaligen Justizminister Sadullah Ergin wütend mitteilte, er solle sich persönlich um die Angelegenheit kümmern, weil sie "wichtig" sei.

Im anderen Clip, dessen grundsätzliche Echtheit Erdoğan einräumte, spricht er mit dem Werftbetreiber Metin Kalkavan und fordert ihn dazu auf, einen 1,5 Milliarden Euro schweren Auftrag zum Bau von sechs Fregatten anzufechten, der an die Koç-Gruppe ging. Weil der Unternehmer Mustafa Koç (dem der Auftrag später tatsächlich entzogen wurde) als Feind Erdoğans gilt, spekulieren türkische Medien darüber, ob diese Aufforderung machtpolitische Hintergründe hatte. Zu weiteren Gesprächen, in denen der Eindruck entsteht, dass er und sein Sohn Bilal Bestechungsgelder in beträchtlicher Höhe annahmen, machte der Politiker keine Angaben (vgl. Erdoğan legt Teilgeständnis ab).

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