Baskenland zieht die Corona-Reißleine mit "Gesundheits-Notstand"

Versiegelte Kneipe Eguzki in Donostia/San Sebastian. Bild: Ralf Streck

Infektionszahlen in ganz Spanien explodieren. Um einen Lockdown abzuwenden, gilt nun ab Montag im Baskenland der Gesundheits-Notstand aus Angst vor einem "Tsunami"

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Seit Wochen hat sich eine Tendenz deutlich steigender Infektionszahlen in Spanien gezeigt. Spätestens jetzt ist definitiv geklärt, dass man es nicht mehr mit einzelnen Hotspots zu tun hat, sondern mit der zweiten Welle, mit der eigentlich erst im Herbst gerechnet worden war. Tatsächlich ist Spanien aber nicht erst jetzt außer Kontrolle und das Land wird vom Europäischen Zentrum für die Prävention (ECDC) als Spitzenreiter bei neuen Infektionen geführt.

Dabei - worauf an dieser Stelle beharrlich hingewiesen wurde - ist der alleinige Bezug auf festgestellte Infektionen nur wenig sinnreich und leider auch die kumulierte Anzahl in den letzten 14 Tagen, auf die der ECDC abhebt. Diese Zahlen sind anfällig für Betrug, wenn in einzelnen Regionen wenig oder falsch getestet wird, denn dann findet man auch nur wenige Neuinfizierte. Darauf ist das Auswärtige Amt lange hereingefallen und hatte zunächst keine Reisewarnung für Madrid ausgesprochen.

Inzwischen wurde fast ganz Spanien mit einer Reisewarnung versehen. "Vor nicht notwendigen, touristischen Reisen nach Spanien mit Ausnahme der Kanarischen Inseln wird derzeit aufgrund hoher Infektionszahlen gewarnt", heißt es nun seit Freitag mit zweiwöchiger Verspätung auf der Seite des Auswärtigen Amtes.

Die baskische Regierung hatte schon zuvor wegen steigender Infektionszahlen neue Beschränkungen erlassen, da auch die Einlieferungen in Kliniken und auf Intensivstationen zunehmen. "Wir kehren zu einer Ausnahmesituation zurück", hat die baskische Gesundheitsministerin Nekane Murga angesichts der Tatsache am Samstag erklärt, dass ab Montag nun der "Gesundheits-Notstand" ausgerufen wird.

Die Zahl der neu festgestellten Infektionen war auf einen neuen Rekordwert (575) gestiegen. "Wir befinden uns vor einem möglichen Tsunami", sagte Murga. Im Baskenland liegen wieder 158 Personen mit Covid-19 in Krankenhäusern, am Freitag kamen 31 hinzu, davon 14 auf Intensivstationen.

Vergleich mit März, Dunkelziffern

Die Kurve weist hier, wie in ganz Spanien, längst steil nach oben. Vergleichbare Werte wurden nur im März ermittelt. Das lässt alle Alarmglocken schrillen. Allerdings, das sei hier auch angemerkt, sagt ein Vergleich mit März nur sehr bedingt etwas aus. Damals war die Dunkelziffer wegen fehlender Tests enorm hoch wie derzeit auch in einigen spanischen Regionen. Bisher wurden im Baskenland fast eine halbe Million Tests durchgeführt, im gesamten März waren es dagegen nur 20.000.

Die Kurve im Baskenland exemplarisch für ganz Spanien

Im Baskenland kommen nun fast 200 Tests auf 1.000 Bewohner. In Andalusien sind es dagegen zum Beispiel nicht einmal 50. Nach den letzten Angaben des spanischen Gesundheitsministeriums vom Freitag hatte Andalusien zuletzt 244 Neuinfizierte festgestellt, das Baskenland dagegen 480. Damit lässt eine andere Zahl darauf schließen, dass in Andalusien die Dunkelziffer sehr hoch sein muss. Während für das Baskenland am Freitag nur 14 Einlieferungen in Hospitäler angegeben werden wurden, waren es in Andalusien schon 99.

Die Basken wollen nun aber einschreiten. Um die Kurve zu knicken, sollen neue Beschränkungen kommen, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Welche neuen Einschränkungen es geben wird, wird aber erst am Dienstag beschlossen. Es ist klar, dass sie deutlich über die neuen Einschränkungen hinausgehen, die seit Wochenende in Spanien gelten. Die Basken ziehen nun die Reißleine, denn es gilt einen allgemeinen Lockdown zu verhindern, der fatal für die Wirtschaft wäre.

"Gesundheits-Notstand", um Hotspots abzuriegeln

Der "Gesundheits-Notstand" soll eine rechtliche Handhabe bieten, um Hotspots abriegeln zu können. Das hatte Portugal im Großraum Lissabon gemacht. Die Regierung konnte darüber eine gefährliche Entwicklung wieder in den Griff bekommen. Das hat auch mit dem disziplinierten Verhalten der Portugiesen zu tun, wie auch Politiker des Landes immer wieder herausstreichen.

Neue Einschränkungen im Baskenland werden das Hotel- und Gaststättengewerbes besonders treffen. Die Basken werden sich bei ihren neuen Beschränkungen sicher am erfolgreichen Modell Portugal orientieren. Dort mussten Bars in ganz Lissabon im Juli schon um 20 Uhr schließen, Restaurants um 23 Uhr und das wurde diszipliniert beachtet, wie der Autor Anfang Juli vor Ort überprüfen konnte.

Polizei-Versiegelung Eguzki in Donostia/San Sebastian. Bild: Ralf Streck

In Spanien ist man, trotz der fatalen Entwicklung zu zurückhaltend. Im Land müssen seit Freitag Restaurants und Bars wieder um 1 Uhr schließen und dürfen ab 24 Uhr keine Gäste mehr annehmen. Diese neuen Maßnahmen waren zum Wochenende beschlossen worden.

Nun müssen auch Diskotheken wieder geschlossen bleiben. Sie geöffnet zu haben, wird als enormer Fehler angesehen, wobei die Regierung, die unfähig zu Selbstkritik ist, das nicht zugibt. Angeordnet wurde auch eine Beschränkung von Treffen und Familienfeiern auf höchstens 10 Personen.

In Diskotheken, Bars und bei zum Teil auch bei illegalen Festen, das hat die Nachverfolgung gezeigt, werden derzeit besonders viele neue Ansteckungen registriert. Zunächst waren deutliche Infektionszahlen bei Erntehelfern in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen registriert worden. Nun ist es aber der starke Austausch von Menschen über den Tourismus, der im Land für eine gute Verbreitung des Virus sorgt.

Es dringt nun deshalb auch in Gegenden vor, wie in die baskische Provinz Gipuzkoa, die vom Virus im Frühjahr fast verschont geblieben war. Hier steigt deshalb die Ansteckung, die Besorgnis und die Zahl vorsorglich geschlossener Kneipen bei Verdachtsfällen nimmt auch im Seebad Donostia (San Sebastian) zu.

Nachverfolgung

Für Experten wie Rafael Bengoa ist klar, dass das Ausmaß der zweiten Welle nun davon abhängt, wie mit der ersten Welle umgegangen wurde. Der Baske, der einst den US-Präsidenten Barack Obama beraten hat und nun die baskische Regierung berät, erklärt: "Die Zahlen sagen, dass es dort gut lief, wo wir eine gute Nachverfolgung hatten".

Er spricht es nicht aus, aber sein Blick richtet sich vor allem Regionen wie Madrid. In der Hauptstadtregion fand lange kein nennenswertes Tracking statt und ist nun, angesichts der Infektionszahlen, kaum noch zu leisten.

Madrid

In Madrid wurden von der Regionalregierung lange nur wenige neue Infektionen festgestellt, da einfach wenig getestet wurde. Seit dem 5. Juli sind die Neuinfektionen aber um den Faktor 90 in die Höhe geschossen. Zwischen 15. Juli und den 11. August stieg die Zahl um den Faktor 15. Da nun verstärkt getestet wird, findet man mehr neue Infektionen. Viel aussagekräftiger ist aber, dass Madrid am Freitag mit 279 Einlieferungen in den letzten sieben Tagen in Krankenhäusern Spitzenreiter mit großem Vorsprung war. Daran lässt sich die enorm hohe Dunkelziffer vor einem Monat belegen.

Im Baskenland gab es dagegen am Samstag nur 31 Einweisungen. Hier korrelieren die Zahlen, in Madrid nicht. Darauf hatte Telepolis wiederholt hingewiesen. Das muss auch den Experten der Zentralregierung klar gewesen sein, die aber wieder einmal nicht eingeschritten sind.

Scheinbare Normalität am Strand. Bild: Ralf Streck

Länder wie Norwegen, Großbritannien und die Schweiz haben das auch erkannt. Berlin ganz offenbar nicht, oder man hat bis vergangene Woche wissentlich die Augen zugedrückt. Somit ist zu vermuten, dass etliche Rückkehrer aus Spanien mit dem Virus im Gepäck längst im Land sind.

Die Tourismusindustrie

Klar ist, dass die zweite Welle nun die Wirtschaft des Landes massiv treffen wird. Ohnehin ist im Jahresvergleich die Wirtschaftsleistung schon um 22,1% gesunken ist und damit sogar noch stärker als die britische Wirtschaft mit 20,4% im Vergleich zum Vorjahr.

Da nun immer mehr Länder die Rückkehrer aus Spanien in Quarantäne schicken und auch Deutschland eine offizielle Reisewarnung ausgesprochen hat, befürchten viele nun einen "Todesstoß" für die Tourismusindustrie, an der ein guter Teil der Ökonomie hängt.

Es dürfte sich nun rächen, dass man reichlich chaotisch und plötzlich ganz schnell in Spanien die Schotten wieder weit geöffnet hat, um den Tourismussommer zu retten. Nun werden sich auch die wenigen Touristen wieder zurückziehen und sich viele mehrfach überlegen, ob sie das Land im Restsommer und im Herbst aufsuchen.

Große Reiseveranstalter haben schon die Reisen storniert. Allerdings, wer glaubt, nur weil das Auswärtige Amt die Kanaren noch ausgenommen hat, wäre die Lage dort gut, sollte sich nicht täuschen lassen. Die Inseln zählen nun wieder mehr als 1.000 aktive Fälle und von Samstag auf Sonntag kamen 134 neue Infizierte hinzu. Die Zahlen steigen. Und mit 33 Einweisungen in den letzten 7 Tagen weisen die Kanaren schon mehr als die Balearen auf, für die schon die Reisewarnung gilt.