Wer Diktator ist, das bestimmen wir!

Alexander Lukaschenko. Bild: Okras/CC BY-SA 4.0

Die Bundesregierung hat durchaus ein großes Herz für Autokraten - sofern es ihre Diktatoren sind. Ein Kommentar zu den imperialen Doppelstandards deutscher Geopolitik - Ein Kommentar

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Oftmals sind gerade die Nachrichten von besonderem Interesse, die es nicht in die veröffentlichte Meinung schaffen. Während sich etwa Deutschlands Politik und Öffentlichkeit über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte in Belarus empören, macht sich in Griechenland zunehmender Unmut über die Haltung der Bundesregierung breit.

Was ist geschehen? Auf einer Mitte August abgehaltenen Telekonferenz des Außenministerrats der Europäischen Union, die sich unter anderem mit der drohenden Eskalation im östlichen Mittelmeer befasste, konnte keine einheitliche Linie gegenüber den territorialen Forderungen der Türkei gefunden werden.

Deutschland und Griechenland konnten sich nicht auf eine Abschlusserklärung einigen, berichteten griechische Medien, da Berlin nicht dazu gebracht werden konnte, ein Ende der türkischen Aktivitäten in dem rohstoffreichen Seegebiet zu fordern. In Reaktion darauf hat Hellas eine gemeinsame Abschlusserklärung des Außenministerrats zur Krise in Belarus blockiert.

Der seit Monaten schwelende Streit um die rohstoffreichen Gebiete im östlichen Mittelmeer, die sich etwa in der exklusiven Wirtschaftszone Zyperns befinden, wird durch die schwere Wirtschaftskrise in der Türkei befeuert. Die mit Islamisten verbündete Erdogan-Regierung in Ankara versucht mit immer neuen imperialen Abenteuern in Libyen, Nordsyrien und dem Irak, mit chauvinistischen Aktionen wie der Umwidmung der Hagia Sophia zur einer Moschee sowie Drohungen gegenüber Armenien, von dem sich entfaltenden Wirtschaftsdesaster abzulenken und den imperialen Fiebertraum von dem Wiederaufbau eines Großosmanischen Reiches zu befeuern.

Bislang konnte sich das Regime in Ankara - das genozidalen türkischen Nationalismus mit extremistischen Islamismus amalgamierte - bei seinem regionalen Expansionsstreben auf die tätige Hilfe der Bundesregierung stets verlassen. Neben der aktuellen Hinhaltetaktik Berlins im EU-Außenministerrat, die wiederum die Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich in dieser Frage evident machte, kann die Bundesregierung auf eine lange Tradition der offenen und verdeckten Unterstützung des massenmörderischen Regimes in Ankara zurückblicken, dem nur noch mit viel Phantasie eine demokratische Legitimität zugesprochen werden kann.

Die Türkei ist einer der größten Geldempfänger der Bundesrepublik und der EU, das Erdogan-Regime wird regelrecht alimentiert von Berlin. Schon 2018 war die Bundesrepublik daran beteiligt, Ankara massiv ökonomisch zu stützen, nachdem Strafzölle der USA eine Währungskrise in der Türkei auslösten.

Rund 35 Milliarden Euro pumpt Berlin in die Modernisierung des türkischen Schienennetzes seit Ende 2018, um Konzernen wie Siemens lukrative Aufträge zu verschaffen und den maroden türkischen Staatsislamismus zu stabilisieren. Hierbei würde man an die berüchtigte Bagdad-Bahn anknüpfen, ein imperialistisches Großprojekt aus der Spätphase des imperialistischen Zeitalters kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges, "das schon der deutsche Kaiser mit dem Sultan" verfolgte, wie es Spiegel-Online formulierte.

Erdogans mörderische Soldateska, die in Nordsyrien und dem Irak offene Angriffskriege führt, gehört zu den besten Kunden der deutschen Waffenindustrie.

Berlin hat deren blutige Abenteuer, wo immer es möglich war, nach Kräften flankiert. Als die Türkei im Bund mit Islamisten ihren Angriffskrieg gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava startete, hat Kanzlerin Merkel auf europäischer Ebene selbst die Errichtung eines Waffenembargos gegen die Türkei torpediert.

Darf es noch ein bisschen mehr sein für ein Regime, das massenhaft foltert, das ethnische Säuberungen, die Zerstörung ganzer Städte und blanken Massenmord betreibt?

Aber klar doch! Mitunter geht Berlin so weit, die ethnischen Säuberungen von Kurden oder religiösen Minderheiten in den von der Türkei eroberten, nordsyrischen Gebieten zu finanzieren, ohne dass dies in der nun im Demokratiefieber befindlichen Medienlandschaft der Bundesrepublik überhaupt großartig bemerkt würde.

Die Empörung über die Repression in Belarus

Angesichts all dessen, wozu Deutschland Außenpolitik gegenüber einem Regime fähig ist, das buchstäblich uniformierte islamistische Kopfabschneider-Banden bei seinen Angriffskriegen wüten lässt, nimmt sich die plötzliche Empörung gegenüber dem Vorgehen der Staatsorgane in Belarus regelrecht lächerlich aus.

Empörung müsste hierbei vor allem die Schamlosigkeit auslösen, mit der die politischen Funktionsträger und Meinungsmacher der Bundesrepublik - aufbauend auf dem Kurzzeitgedächtnis der Öffentlichkeit - agieren. Die Bundesregierung in Gestalt von Außenminister Heiko Maaß, die selbst bei türkischen Angriffskriegen kein Waffenembargo erlassen wollte, fordert nun stärkeren Druck auf Belarus und Sanktionen, da die Repression der belarusischen Polizeieinheiten "im Europa des 21. Jahrhundert nicht akzeptabel" sei. Da hat Erdogan ja nochmal Glück gehabt.

Die mediale und politische Empörung über das brutale Vorgehen der Staatskräfte in Belarus, bei dem zwei Menschen starben und Tausende Demonstranten in Gefängnissen verschwanden, kontrastiert mit der Zurückhaltung gegenüber den Berichten von Massenmorden in den Kurdengebieten der Türkei, bei denen die "Beweisführung" leider so unglaublich "schwer" sei, wie es die FAZ 2017 formulierte, als der türkische Staat im Rahmen eines in Deutschland kaum beachteten, mörderischen Feldzuges seine kurdische Minderheit de facto ihrer demokratischen Repräsentanz beraubte.

Tausende kurdischer Zivilisten wurden getötet, ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht, zehntausende Funktionäre der liberalen prokurdischen Partei HDP, die sich für eine gewaltlose Lösung der Kurdenfrage einsetzten, verrotten in türkischen Gefängnissen, Dutzende gewählter Bürgermeister der Partei wurden einfach abgesetzt, ohne dass es dies die herzliche - und für Siemens & Co. äußerst einträgliche - Beziehung zwischen Heiko Maas und seinem türkischen Amtskollegen Cavusoglu sonderlich belastet hätte.

Olaf Scholz zeigte sich erschüttert von den Folterspuren, die Demonstranten in Belarus durch Polizeigewalt davongetragen haben. Laut ZDF sieht der Kanzlerkandidat der SPD, der bei dem G20-Gipfel in Hamburg partout keine Polizeigewalt sehen wollte, im belarussischen Staatschef Lukaschenko nun einen "illegitimen Diktator" (beim ZDF scheint man offenbar der Meinung zu sein, es gibt auch legitime Diktatoren).

Einen der kompetentesten Gesprächspartner, um über Foltertechniken fachzusimpeln, würde der hoffnungslose Kanzlerkandidat der SPD sicherlich in seinem türkischen Regierungskollegen finden, wo die Folter gegenüber Kurden und Oppositionellen wieder zum Standardrepertoire staatlicher Repression gehört. Bei Erdogan, der Merkel jederzeit mit einer neuen Flüchtlingswelle erpressen kann, muss es sich somit um einen jener "legitimen Diktatoren" handeln - auch wenn er in seinen öffentlichen Reden inzwischen offen die Grenzen der Türkei infrage stellt und umfassende Territorialansprüche erhebt.

Zur Klarstellung: Keine Frage, in Belarus herrscht ein autoritäres, undemokratisches Regime, das brutale Gewalt gegen Demonstranten einsetzt, die alles Recht der Welt haben, gegen das Ergebnis einer undemokratischen Operettenwahl zu protestieren. Und selbstverständlich kann und muss man Lukaschenko mit Erdogan vergleichen können. Die Unterscheide müssten dabei eigentlich sofort ins Auge fallen: Es ist der Unterschied zwischen Mord und Massenmord.

Diese Schizophrenie in der Wahrnehmung autoritärer Regime und Diktaturen in der veröffentlichten Meinung Deutschlands ist dabei nur ein Symptom für die geopolitischen Verschiebungen der letzten Jahre: Was sich derzeit in der machtpolitisch aufstrebenden Bundesrepublik etabliert, ist ein imperialer Diskurs, wie er in den absteigenden USA zur Legitimierung geopolitischer Interventionen seit Jahrzehnten üblich ist - und bei dem die selektive Wahrnehmung oder das Ignorieren von Menschenrechtsverletzungen als propagandistisches Mittel der Außen- und Geopolitik fungiert.

Das stoische Ignorieren all der Gemetzel, die Erdogan als enger Bündnispartner Berlins verüben lässt, geht bei Unruhen im geopolitischen Hinterhof Russlands nahtlos in die Skandalisierung polizeilicher Repression über, wie sie auch in Deutschland aktuell durch Polizeikräfte verübt wird, die sich mitunter wie der uniformierte Arm des deutschen Rechtsextremismus aufführen.