Lettischer Widerstand gegen bessere Arbeitsbedingungen für Lkw-Fahrer

Lkw-Parkplatz an der A2. Bild Jochen Teufel / CC-BY-SA-3.0

In Deutschland gelten osteuropäische Lkw-Fahrer, die bislang auf Parkplätzen campierten, als "Sklaven der Straße". Ein EU-"Mobilitätspaket" soll nun ihre Arbeitsbedingungen verbessern. Lettische EU-Abgeordnete stimmten dagegen

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Der Arbeitsalltag osteuropäischer Fahrer machte Schlagzeilen: Stress mit überlangen Fahrzeiten, ein monatelanges Nomadenleben in der Fahrerkabine, das alles zu Billiglöhnen verrichtet (Sklaven der Straße). Solche prekären Zustände beschäftigte Straßburg und Brüssel. Das EU-Parlament stimmte nach langen Verhandlungen mit dem Europäischen Rat am 8. Juli 2020 für das "Mobilitätspaket", das die gröbsten Missstände beheben soll.

Gemäß Straßburger EU-PR beseitigten die überarbeiteten Vorschriften Wettbewerbsverzerrungen und verbesserten die Arbeitsbedingungen. Das Paket soll zeitlich gestuft in Kraft treten. Seit dem 20. August gelten neue Lenk- und Ruhezeiten. Fortan muss der Spediteur dem Fahrer eine angemessene Herberge finanzieren, damit er die wöchentliche 45stündige Ruhezeit nicht mehr in der Fahrerkabine verbringen muss. Einmal innerhalb von vier Wochen soll der Beschäftigte zum Standort des Unternehmens oder zu seinem Wohnort zurückkehren.

Modularer Fahrtenschreiber mit eingelegtem Schaublatt. Bild Patrick Seidler / CC-BY-SA-3.0

Das besonders umstrittene Recht auf Kabotage soll weiter eingeschränkt werden. So nennt die Branche die Möglichkeit, nach einem grenzüberschreitenden Transport weitere Fracht innerhalb des Ziellandes zu befördern. Solche Fuhren sollen Leerfahrten vermeiden. Innerhalb von sieben Tagen sind drei solcher Kabotage-Fahrten erlaubt; danach muss zukünftig eine viertägige Pause eingelegt werden.

Die deutsche Seite hat ein Interesse daran, Kabotage-Fahrten einzuschränken, die für die osteuropäische Logistikbranche ein lukratives Geschäftsmodell bilden. Laut EU-Angaben erfolgte 2017 fast die Hälfte des Lkw-Frachtverkehrs auf deutschen Straßen als Kabotage ausländischer Spediteure. Innerhalb der EU wurden 40 Prozent solcher Aufträge von polnischen Firmen übernommen.

Die europäischen Transportarbeiter-Gewerkschaften begrüßen im Prinzip die neuen Vorschriften. Ver.di hat sich zwar weitergehende Regelungen gewünscht, doch aus gewerkschaftlicher Sicht betrachtet man das Paket als Schritt in die richtige Richtung. Andrea Kocsis, stellvertrtende Ver.di-Vorsitzende, verlangt eine "deutliche Aufstockung des Personals beim Bundesamt für Güterverkehr (BAG) sowie beim Zoll", um die Regeln auch durchzusetzen.

In der gemeinsamen Dach-Organisation ETF (European Transport Workers Federation) hätten sich laut Ver.di westliche Gewerkschaftsvertreter mit ihren osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen auf eine gemeinsame Position geeinigt. Auch Gewerkschafter aus Rumänien, Bulgarien und Polen hätten die verschärften Vorschriften begrüßt. Vertreter der lettischen Transportarbeitergewerkschaft LAKRS, die als ETF-Mitglied aufgeführt ist, fehlten allerdings bei den Besprechungen. LAKRS war auch nach schriftlicher Anfrage nicht zu einer Stellungnahme bereit, erst Ende August 2020 erschien eine kurze Zusammenfassung der neuen Regelungen auf der LAKRS-Webseite.

Lettische EU-Parlamentarier stimmten einhellig gegen das Paket

Die Straßburger Abgeordnete Tatjana Zdanoka, politisch links orientiert, äußerte die Ansicht, dass geographisch und nicht nach politischen Lagern abgestimmt worden sei. Ihr EU-Kollege und politischer Kontrahent Roberts Zile, ein Nationalkonservativer, erkennt in den neuen Vorschriften die Strategie, Osteuropa aus dem Markt zu drängen:

"Niemand in Brüssel, Paris oder sonstwo sorgt sich beispielsweise um einen rumänischen Fahrer, der seine Arbeit verliert, weil seine Firma nicht mehr agieren kann. Er wird als Arbeitsloser in seine Heimat zurückkehren - und dann zerbricht sich niemand in Paris oder Brüssel den Kopf darüber, dass seine sozialen Umstände noch schlechter geworden sind als jene, die sie als Sklavenarbeit auf den westeuropäischen Märkten bezeichnen."

Zwar begrüßt Zile das Recht der Fahrer, einmal in vier Wochen nach Hause zurückzukehren, doch er fragt sich, weshalb er sein Fahrzeug mitnehmen müsse:

"Das steht mit den sozialen Rechten des Fahrers in keinerlei Zusammenhang. Das erfolgt einfach deshalb, damit es für diese Speditionen von Nachteil ist, auf westeuropäischen Märkten zu agieren."

Bruttomindestlöhne 2020 pro Stunde und in einigen EU-Staaten
Deutschland 9,35 Euro
Litauen 3,72 Euro
Polen 3,5 Euro
Rumänien 2,81 Euro
Lettland 2,54 Euro
Bulgarien 1,87 Euro
Quelle: statista.com

Lettische Lobbyisten sekundieren. Aleksandrs Pociluiko, Vertreter des Verbands "Latvijas Auto" äußerte die Ansicht, dass das Mobilitätspaket nicht im Sinne seiner Beschäftigten sei. Zukünftig müsse er mehr Fahrer entsenden und er habe schon jetzt großen Personalmangel. Der Unternehmer beklagt, dass er nach Fahrern im Ausland Ausschau halten müsse. Damit sind offenbar Fahrer aus der Ukraine und anderen Nicht-EU-Ländern gemeint, wo die Durchschnittslöhne noch geringer sind als in den osteuropäischen EU-Staaten.

Viele lettische Lohnabhängige sind bereits nach Westeuropa emigriert, wo bessere Löhne und Sozialstandards locken. Ein Vorstandsmitglied einer lettischen Spedition beklagt, dass die Terminplanung fortan ein Stückwerk ergebe, unter dem auch die Fahrer litten. Seine Beschäftigten lehnten die neuen Vorschriften ab, sie hätten Familie, Häuser, wollten Geld verdienen - doch selbst kommen die Fahrer in diesem LSM-Bericht nicht zu Wort. Kristians Godins, Leiter der staatlichen Autotransport-Direktion, sieht das Mobilitätspaket nicht nur im Widerspruch zu den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, sondern auch zur Green-Deal-Politik der EU, die CO²-Reduktion vorsieht.

Für Lettland hat die Speditionsbranche eine große Bedeutung. Wenn schon ein Großteil der Industrieware aus westlichen Fabriken kommt, so wollen die Osteuropäer sie zumindet befördern. Lettland gehört zu den EU-Ländern mit dem größten grenzüberschreitenden Lkw-Frachtverkehr. 81,3 Prozent der Fuhren passieren die Landesgrenze, nur in der Slowakei, Luxemburg, Slowenien und Litauen ist dieser Anteil noch höher.

Solche Länder haben ein Interesse daran, dass die Fahrer Aufträge im Ausland durchführen. Laut Statistik sind in Lettland, das weniger als zwei Millionen Einwohner hat, 75.000 Menschen unmittelbar im Gütertransport und in der Lagerhaltung beschäftigt. Geringe Löhne gehören zum Geschäftsmodell, um auf westeuropäischen Straßen zu konkurrieren.

Die Rigaer Spedition Kreiss verursachte im Januar Aufsehen. Norwegische Behörden erteilten ihr vorübergehend ein Beförderungsverbot, weil sie sich mit den lettischen Unternehmern nicht über die Fahrerlöhne einigen konnten. In Norwegen beträgt der Mindestlohn pro Stunde etwa 18 Euro, in Lettland 2,51 Euro. Laut eines Delfi-Berichts hält Kreiss-Chef Andrejs Kuznecovs die Arbeits- und Sozialstandards westlicher EU-Länder "für subjektiv übertriebene Geschäftsbedingungen".

Er plant, mit seiner Firma und ihren über 1400 Fahrzeugen die westlichen Märkte, allen voran Deutschland, aufzurollen. Delfi-Journalist Filips Lastovskis bezeichnet Kreiss als eine der aktivsten Kabotage-Firmen in Europa. Zu Kreiss’ Kunden zählen nach Lastovskis' Angaben neben den örtlichen Lebensmitteldiscountern Rimi und Maxima die internationalen Konzerne Amazon, Ferrero, Danone und Ikea.

"Gleicher Lohn für gleiche Arbeit"

Der stellvertretenden Ver.di-Vorsitzenden Kocsis stört am Mobilitätspaket, dass "internationale Transporte zwischen zwei Ländern künftig zu den Bedingungen des Beladungsortes und nicht zu den Bedingungen der Transitstaaten ausgeführt" werden. Das heißt, dass bei solchen Fahrten auch in Zukunft osteuropäische Löhne gezahlt werden. Anja Piel, Vorstandsmitglied des DGB, hält die neuen EU-Bestimmungen für wenig hilfreich:

"Das Paket sieht zwar ein paar Verbesserungen vor - aber es ist kein großer Wurf, um der Ausbeutung des rollenden Prekariats auf Europas Straßen ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben [...] Denn für das Prinzip ‘gleicher Lohn für gleiche Arbeit’ sieht die Regelung viel zu viele Ausnahmen bei internationalen Fahrten vor."

Das Gewerkschaftsmotto "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" bedeutet für europäische Gesellschaften eine Herausforderung. Deren Lohnabhängige sind Konkurrenten auf einem gemeinsamen Binnenmarkt, der durch krasse Unterschiede in den Lohnverhältnissen und Sozialstandards der Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist. Da lassen sich die Interessen der Beschäftigten leicht gegeneinander ausspielen. In Deutschland ist nur eine Minderheit unter den Fahrern gewerkschaftlich organisiert, nur wenige Speditionen arbeiten tarifgebunden. Jan Bergrath resümierte die Klagen vieler Fahrer, dass "sich der massive Druck durch Flotten aus Osteuropa in einer Stagnation des Lohns bemerkbar" mache.

Für osteuropäische Lohnabhängige sind Fahrerjobs mit vierstelligen Euro-Monatsgehältern durchaus eine Option. Mit monatlichen Brutto-Löhnen von 1004 Euro lag die Transport-Branche im Jahr 2018 sogar leicht über dem lettischen Durchschnitt. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ließe sich international nicht im Rahmen einer Branche realisieren, das würde für die Beschäftigten in ärmeren Ländern Erwerbslosigkeit bedeuten, weil ihre Unternehmen in einem Umfeld geringerer Preisniveaus agieren. Nicht nur das rollende Prekariat ist Teil des europäischen Problems, insgesamt erhalten die Beschäftigten aller Branchen im Osten deutlich geringere Löhne als im Westen; Unmut und Arbeitsmigration sind die Folgen.

Ein deutscher Mindestlohn machte einen lettischen Lohnabhängigen in seiner Heimat zum Besserverdiener. Gleiche Löhne in ganz Europa hätten eine Annäherung der Produktivitätsniveaus zwischen West- und Osteuropa zur Voraussetzung. Dafür müsste nach kapitalistischer Logik mehr in die osteuropäischen Industriestandorte investiert werden, in modernste Werkshallen, Maschinen und Infrastruktur. Das bedeutete aber für Westeuropäer, einen Teil der lukrativen Wertschöpfung den osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen zu überlassen. Ist jenseits der Sonntagsreden die europäische Solidarität derart groß?

Das Speditionsgeschäft ist nur ein kleiner Teil umfassender Externalisierungsstrategien wirtschaftlicher Kosten, die der Soziologe Stephan Lessenich beschreibt. Unter den derzeitigen Bedingungen erweisen sich Lkw-Fahrer als systemrelevant, der Verbraucher mag sie beklatschen, wenn sie das ersehnte Toilettenpapier liefern.

Transportkosten zu Niedrigstpreisen ermöglichen Amazon & Co. attraktive Angebote mit kostenlosem Lieferservice. Der Lkw ersetzt die Lagerhaltung; die Billigtarife der Spediteure verleiten Firmen und Konsumenten, unnötigen Plunder zu verschicken und kostenlos zurückzunehmen. Die Umwelt ist auch hier Verlierer des allgemeinen Motorisierungswahns.