Was wäre eine linke Corona-Politik?

Ein Streifzug mit Zahlen

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Darf man den Wert eines Menschenlebens in Euro angeben? Natürlich darf man das nicht. Und ebenso natürlich passiert es im Handeln von Politik und Verwaltung jeden Tag.

Bevor eine Ampel gebaut wird, werden die Kosten der Ampel mit der Gefährlichkeit des Ortes ohne Ampel gegengerechnet. Ein Schwerverletzter wird dabei mit 85.000 € kalkuliert, ein Toter mit 1,2 Mio. €. Alle Beteiligten betonen, dass Entscheidungen nie nur entlang dieser Zahlen fallen, aber immer unter Einbezug dieser Zahlen.

Ebenso gibt es keine Umweltschutz-Maßnahmen, wenn nicht vorher errechnet wurde, dass diese sich monetär "lohnen": Ein gewonnenes Lebensjahr pro Mensch wird dabei mit 50.000 € kalkuliert, allerdings mit 75.000 € bei sofortigem Tod. Jeden Tag werden also Leben in Euro umgerechnet.

Rechte Politik appelliert an das Bauchgefühl der Bürger und diskutiert diese geldbetonte Sichtweise nicht offen. Linke Politik emanzipiert die Bürger mit Argumenten. Dazu gehören auch sperrige Argumente, auf die man sich erst auf den zweiten Blick einlassen mag.

Mathematische oder monetäre Betrachtungen können Hinweise für eine linke Corona-Politik geben, aus aktuellem Anlass soll beispielhaft die Corona-Politik unter diesem Gesichtspunkt kommentiert werden: Man war und ist bereit, eine bestimmte Summe x auszugeben, um damit eine bestimmte Anzahl y an Menschenleben oder eine Anzahl z an Lebensjahren zu retten. Die Frage ist, welche Maßnahmen man mit diesem Geld finanziert, um möglichst viele Menschenleben oder Lebensjahre zu retten.

Schauen wir zunächst einmal darauf, welche Summe x unsere Politiker bereit waren auszugeben. Das IfO-Institut gab bereits zum Zeitpunkt der ersten Kontaktbeschränkungen an, dass die Wirtschaft um sieben bis zu 21 Prozentpunkte schrumpfen könnte, das wäre ein Schaden von 255 bis 729 Milliarden Euro. Die Kosten für das Gesundheitswesen, für verpasste Bildung, für vernichtete Existenzen, für Suizide wegen Einsamkeit und vieles mehr sind darin allerdings noch nicht enthalten. Dieser Schaden bzw. diese Kosten entstehen bei den Firmen und bei den Bürgern und betreffen nur über den Umweg von verringerten Steuereinnahmen und höheren Sozialausgaben den Staatshaushalt.

Schauen wir also lieber auf die Summe, die die Politik bereit war, unmittelbar auszugeben. Am 22.5. verkündete das Finanzministerium, dass der Umfang der haushaltswirksamen Maßnahmen insgesamt 353,3 Milliarden Euro beträgt und der Umfang der Garantien insgesamt 819,7 Milliarden Euro. Hilfsprogramme der EU, von Ländern und Kommunen sowie Mehrausgaben von Institutionen wie Krankenkassen, öffentlichen Unternehmen und Universitäten kommen hinzu. Die Garantien wiederum sind kein ausgegebenes Geld, sondern werden nur ausgegeben, wenn die Garantienehmer Pleite gehen. Insgesamt ist es sicherlich nicht übertrieben, wenn man Kosten von einer Billion Euro als Folgen der politischen Corona-Maßnahmen annimmt. Da linke Politik aber sparsam ist, würde sie versuchen, mit einer halben Billion auszukommen.

Wir wissen, dass die Bundes- und Landesregierungen dieses viele Geld ausgegeben haben, weil sie Menschenansammlungen vermeiden wollten und manchen Menschen und Branchen dafür "Entschädigungen" zukommen lassen wollten. Schauen wir alternativ darauf, wie man mit diesen 500 Milliarden € viele Leben retten könnte und dabei den Grundsätzen linker Politik - Effizienz und soziale Balance - folgt. Da der Staat im Rahmen seiner Corona-Politik gerade unvorstellbar viel Geld ausgibt, können wir auch Maßnahmen in den Blick nehmen, die entlang konventioneller Denkmuster als absurd erscheinen mögen - schließlich wären uns der Lockdown und die momentanen Maßnahmen ja vor einem Jahr auch noch absurd erschienen.

Sehr früh wusste man, dass fast nur alte Menschen zu Covid-19-Problemfällen werden. Wir haben in Deutschland 16 Mio. Personen über 66 Jahren. Wenn man jeder Person 20.000 € gezahlt hätte, um sich vorübergehend ein zurückgezogenes Leben zu organisieren, dann hätte das 320 Milliarden Euro gekostet. Es wären also noch 180 Mrd. Euro übrig. Man hätte somit zusätzlich sogar noch eine Zwangsversorgung organisieren können, bei der jeder alte Mensch täglich mit vielen kostenlosen Lebensmitteln und Genussmitteln zwangsversorgt wird, so dass vorübergehend Geschäfte und Lokale nicht aufgesucht werden müssen. Mit 5000 € pro Person wären das noch einmal 80 Mrd. Selbst das zusätzliche Verschenken eines Smartphones an jeden alten Menschen hätte nur 3 Mrd. Euro gekostet. Wir haben noch 97 Mrd. übrig.

Linke Politik ist rationale Politik: Sie setzt nicht darauf, Menschen abstrakt in Ängste zu versetzen, sondern sie unterstützt Selbstbestimmung und Einsicht mit wirtschaftlichen Anreizen - und bleibt dabei ökonomischer als die Gießkanne der Panik.

Wenn man, wie es Corona-Politik anstrebt, viele Leben verlängern bzw. retten möchte, dann würde man das restliche Geld dort ausgeben, wo staatliche Maßnahmen mit vergleichsweise wenig Geld viele Leben verlängern können. Man schaut dabei sicherlich zunächst auf jene, die früh sterben, z.B. Obdachlose. Eine lebensverlängernde Maßnahme wäre, wenn man diese in den Wintermonaten in 4-Sterne-Hotels einquartieren würde. Gerade im Winter stehen diese Hotels in den größeren Städten zum Teil leer. Wenn man 100 Tage am Stück bucht und nur alle 2 Tage den Zimmerservice nutzt, kann man 80 € pro Nacht aushandeln. Für 100.000 Obdachlose würde das 800 Mio. € kosten. Das ist nicht mal eine Milliarde, wir hätten noch mehr als 96 Milliarden übrig und hätten schon viele Leben um viele Jahre verlängert. Wenn man noch schlecht Behauste hinzunimmt und 1 Mio. Personen auf diese Weise versorgt, kämen insgesamt 8 Mrd. Euro zustande, und wir hätten noch 88 Milliarden übrig.

Eine weitere Gruppe (zu) früh Sterbender sind die Suizidalen. In Deutschland sterben daran jährlich etwa 10.000 Personen. Wir haben viel Geld auszugeben und können ungewöhnliche Maßnahmen ergreifen: Wir setzen einen Stichtag. Jede Person, die zu diesem Stichtag als suizidgefährdet in Behandlung ist, bekommt eine Million Euro ausgezahlt, wenn sie ein Jahr später noch lebt. Linke Politik ist optimistische Politik. Unsere Hoffnung ist, dass die Betroffenen nicht nur das Jahr durchhalten, sondern dass die durch diese Summe ausgelösten Glücksgefühle und möglich gewordenen faktischen Lebensverbesserungen zu vielen weiteren Lebensjahren führen. Wenn 20.000 Menschen dieses Angebot annehmen, dann kostet das Programm 20 Milliarden Euro. Wir haben immer noch 68 Milliarden übrig.

Auf ähnliche Weise könnten wir weiter viele Tausende Lebensjahre retten.

Im März 2020 wurden lebensverlängernde Maßnahmen dieser Art leider nicht in Betracht gezogen. Es wurde nicht die Frage gestellt, ob das veranschlagte Geld auf anderen Wegen als dem Lockdown möglicherweise mehr Leben oder Lebensjahre retten kann. Nur das Einsperren vieler Menschen unter Inkaufnahme hoher (volks)wirtschaftlicher Kosten wurde als Lösung erachtet, um das wahrgenommene Problem der vielen gefährdeten Leben zu bearbeiten.

Waren die Corona-Maßnahmen verzichtbar?

Die bisher diskutierten Maßnahmen verfolgen das Ziel der Verlängerung bzw. Rettung von Menschenleben. Inwieweit dieses Ziel von den vorgeschlagenen Maßnahmen erreicht worden wäre, lässt sich nicht bestimmen, da sie nicht stattgefunden haben. Hingegen lässt sich die Effektivität der realen Corona-Maßnahmen sehr wohl bewerten, auch wenn diese Bewertungen aufgrund auseinandergehender Gefahreneinschätzungen unvollendet bleiben müssen.

Wie viele Leben sollte die real existierende Corona-Politik retten, und wie viele hat sie gerettet? Am einfachsten hat es sicherlich der SPD-Politiker Karl Lauterbach, schätzte er die Corona-bedingte Lebensgefahr doch am größten ein. Er postulierte im Spiegel vom 4.4.2020: "Bekommen wir Corona nicht unter Kontrolle, könnten allein in Deutschland mehr als eine Million Menschen sterben."1 In Verwaltungsvorgängen wird ein Menschenleben mit 1,2 Mio. Euro kalkuliert. Lauterbachs eine Million Tote entsprechen einem "volkswirtschaftlichen Schaden" von 1,2 Billionen Euro. In Lauterbachs Denkansatz wurde also alles richtig gemacht, wenn mit dem Lockdown ein Schaden von nur 1 Billion Euro angerichtet wurde.

In eine ähnliche Kerbe schlägt eine Forschergruppe des Imperial College London, die ausrechnet, dass der Lockdown in 11 europäischen Ländern 3,1 Mio. Tote verhindert hat. Sie arbeiten dabei mit der Annahme, dass sich die Infiziertenzahlen ohne Lockdown exponentiell entwickelt hätten. Diese Annahme krankt leider daran, dass es schon vor dem Lockdown keine exponentielle Entwicklung der Infiziertenzahlen gab. Die Annahme der Forscher, dass dauerhaft 10 Infizierte jeweils 38 weitere Personen angesteckt hätten und dass dabei auch noch die Todesrate gleich geblieben wäre, ermöglicht zwar leichtes Rechnen, hat sich aber niemals in den echten Daten abgebildet.

Eine Gegenposition formuliert Christof Kuhbander in einem wissenschaftlichen Beitrag auf Telepolis (25.4.2020): Von der fehlenden wissenschaftlichen Begründung der Corona-Maßnahmen (Auseinandersetzung mit Gegenargumenten hier). Er zeigt, dass die Infektionen in Wirklichkeit schon vor dem Lockdown zurückgingen, dass dies aber durch immer mehr Testungen und durch die Art der Datenpräsentation des Robert-Koch-Instituts nicht unmittelbar sichtbar wurde. Inhaltlich leuchtet diese Deutung ein, weil die Grippe-Saison zum Zeitpunkt des Lockdowns bereits deutlich im Abklingen war und die Corona-Viren wie alle Grippeviren im Frühling eben nun mal zurückgehen. Folgt man dieser Gegenposition, dann wäre der Lockdown überflüssig gewesen, man hätte kein Leben verlängert bzw. könnte sogar annehmen, dass die Lockdown-Maßnahmen ihrerseits Leben verkürzt hätten.

Wenn man dieser Position auch nicht so ganz folgen mag, dann kann man sich an vergangenen Grippewellen orientieren. In Deutschland sterben jedes Jahr ungefähr 900.000 Menschen, das sind jede Woche ungefähr 18.000 Menschen, übers Jahr verteilen sich die Todesfälle sehr ungleich. Aus den Abweichungen gegenüber den Durchschnittszahlen und aus den gemeldeten Grippe-Toten schätzt eine Gruppe im RKI, wie viele Menschen jedes Jahr sterben und dabei positiv auf Grippeviren getestet waren. Für die Grippesaison 2017/2018 wurden in Deutschland z.B. 25.100 Grippetote geschätzt, für 2016/17 waren es 22.900, 2014/15 21.300. Das waren allerdings besonders schwere Jahre, es gibt auch Jahre mit wenigen hundert Grippetoten. Solche Häufungen führen zu Belastungssituationen im medizinischen System, aber da keine Fernsehkameras daneben stehen, führen sie nicht zu besonderen Regierungsmaßnahmen.

Nun gibt es praktisch nicht Lauterbachs 1.000.000 Tote, sondern es gibt ungefähr 9000 Tote, also ungefähr ein Hundertstel des befürchteten Wertes. In der Saison 2017/2018 waren offenbar besonders aggressive Grippeviren im Umlauf, wir hatten 25.100 Tote, wobei allerdings damals viel weniger getestet wurde als in diesem Jahr. Mehrere Studien deuten darauf hin, dass SARS-CoV-2 ungefähr so gefährlich ist wie bisherige Grippeviren auch. Man hätte also mit den Corona-Maßnahmen etwa 16.000 Tote vermieden.

Unterschiedliche wissenschaftliche Positionen in politisches Handeln einbeziehen

Diese Zahl ist natürlich sehr problematisch, denn es ist ja nun gerade sehr strittig, ob SARS-CoV-2 sehr viel gefährlicher ist als andere Grippe-Viren. Einen Konsens kann es darüber nicht geben, denn unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze führen hier zu unterschiedlichen Deutungen. Deshalb auch die unterschiedlichen Gefahreneinschätzungen.

Linke Politik hätte diesen Deutungen einen Raum gegeben, um die eigenen Argumente vorzutragen. Linke Politik setzt also bereits bei der Art der Entscheidungsfindung an, die den politischen Maßnahmen zugrundeliegt. Die Notwendigkeit von schnellen Entscheidungen heißt eben nicht, dass man mäßigende Stimmen einfach nicht mehr anhört und sie dann nach der Entscheidungsfindung diffamiert.

Man mag es als diskursiven Fortschritt ansehen, dass Kritiker von gesellschaftlichen Realitäten heute nicht mehr als linke Spinner diffamiert werden. Wenn sie dafür aber als rechte Verschwörungstheoretiker diffamiert werden, dann wird der Diskurs trotzdem zerstört.

Eine der wenig beachteten Folgen der Corona-Politik ist es, dass kritische Wissenschaftler sich nicht mehr zu Wort trauen. Wer Zweifel an der Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 hat, wer den Lockdown für übertrieben hält, wer die Rolle von Luftverschmutzung für die Gefährlichkeit von Covid-19 untersucht, wer Fragen an die Entscheidungswege der Mächtigen hat oder wer die Diskurswege der Pharmaindustrie untersucht, steht in der Gefahr, in die rechte Ecke oder in die Ecke von Verschwörungstheorie gestellt zu werden - das ist für eine wissenschaftliche Karriere tödlich.

Linke Politik hat die Aufgabe, diese Fragen wieder in den Bereich des Fragbaren zu rücken und dafür zu sorgen, dass staatliche Gelder zur Rettung von Leben effizient, aber eben auch sozial gerecht eingesetzt werden.

Wolfram Meyerhöfer war 13 Jahre Professor für Mathematikdidaktik, zuletzt an der Universität Paderborn. Seit kurzem ist er Lehrer im Schulzentrum am Stern in Potsdam.