Hintergründe zu Nowitschok und Giftanschlägen auf russische Oppositionelle

Bild Alexey Nawalny: Evgeny Feldman / CC-BY-SA-4.0

Der deutsche Außenminister Maas warf Russland das Zünden von Nebelkerzen vor, musste aber einräumen, dass noch keine Informationen aufgrund des Rechtshilfeersuchens weitergegeben wurden - was auch umgekehrt der Fall sein soll

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Der binäre Nervengiftkampfstoff Nowitschok ist keine einzelne toxische Chemikalie, sondern ein Oberbegriff für mehrere Familien von Kampfstoffen. Wenn das Bundeswehrlabor nicht bekannt gibt, welche Chemikalie es identifiziert hat, könnte dies bedeuten, dass die Analyse bislang nur grob in eine Richtung zeigt, beispielsweise weil die gefundenen Spuren zu gering sind, oder vielleicht, dass man nicht offenbaren will, welche Nowitschok-Kampfstoffe das Labor vorrätig hält, um dann in der Lage zu sein, mit der Analyse eine bestimmte Substanz zu identifizieren. Auch das Militärlabor in Porton Down wollte im Fall Skripal nicht genauer werden.

Transparenz sieht anders aus, aber in der Welt der Geheimdienste und des Militärs gelten andere Maßstäbe. Zumal die Forschung an chemischen und biologischen Waffen mittlerweile immer als defensiv dargestellt wird, aber sie hat ein Janus-Gesicht, denn die Kampfstoffe, für die man angeblich Abwehrmittel entwickelt, müssen vorhanden sein und weiter entwickelt werden, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben.

Die russische Regierung hat Deutschland vorgeworfen, nicht zu kooperieren. So sei ein Rechtshilfeersuchen noch nicht beantwortet worden. Dem widersprach gestern Außenminister Maas. Dem sei schon längst zugestimmt worden, die Behauptung sei nur eine "weitere Nebelkerze". Auf die Frage, ob Russland schon alle Informationen erhalten hat, musste Maas wieder zurückrudern. Es würden aber noch Untersuchungen in der Charité stattfinden. Das sei ein Prozess, sagte er in einem weiteren Gespräch, an dem jeden Tag neue Informationen einlaufen können. Zudem verlaufe das Rechtshilfeersuchen über verschiedene Behörden. Es müsse mit den Medizinern in der Charité und denjenigen, die Proben untersucht haben, abgeklärt werden. Es gehe um persönliche Daten, die freigegeben werden müssen. Vom Bundeswehrlabor sprach er explizit nicht.

Das heißt wohl, dass noch keine Informationen übermittelt wurden. Maas betont nur, man habe zugesagt, für alle notwendigen Informationen bei einem formellen Rechtshilfeverfahren die Zustimmung zur Übermittlung zu geben. Dagegen forderte er Moskau auf, alle Informationen über die Behandlung Nawalnys zu übermitteln. Da sei noch nichts gekommen. Da scheinen also beide Seiten Katz und Maus zu spielen.

Marija Sacharowa, Sprecherin den russischen Außenministeriums, reagierte auf Maas und warf ihm vor, Forderungen zu stellen, wenn er doch selbst sagt, dass die Untersuchungen noch andauern. Sie fragt, warum der Informationsaustausch noch nicht begonnen habe. Russische Ärzte hätten auch einen Vorschlag zur Zusammenarbeit mit den deutschen Ärzten gemacht. Überdies gebe Deutschland die Daten nicht weiter, auf die man sich bezieht, um Russland zu beschuldigen.

In den 1990er Jahren geriet Nowitschok in kriminelle Kreise

Die Rede, dass die Verwendung von Nowitschok, erfunden zu Zeiten der Sowjetunion, nur auf Russland zeigen kann, ist irreführend, auch wenn dies die britische Regierung und jetzt deutsche und europäische Politiker wieder suggerieren wollen. Die Nowitschok-Formeln sind längst bekannt, die Kampfstoffe wurden nicht zuletzt über den BND im Westen verbreitet, vor kurzem wurden einige Familien - auch auf Antrag Russlands - in die Liste der verbotenen Chemiewaffenstoffe der OPCW aufgenommen.

Dazu kommt, dass schon 1995 unter Jelzin eine Nowitschok-Substanz aus den Militärlabors an Wirtschaftskriminelle verkauft wurde. Das hätte natürlich zuvor und danach mehrfach geschehen können, möglicherweise haben sich Mitglieder der Organisierten Kriminalität bzw. der russischen Mafia oder russische Geheimdienste Proben gegen Geld gesichert. Nach Vladimir Uglev, einem der Entwickler, könnten binäre Nowitschok-Gifte sehr stabil sein und Jahrzehnte halten. Viel musste offenbar nicht gezahlt werden, gerade einmal 1500 US-Dollar oder so, um Nowitschok in die Hände zu bekommen.

Der Chemiker Leonid Rink, der Nowitschok im Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Strahlungs-, Chemie- und Biowaffenschutz bei Schichany mit entwickelt haben soll, bekannte, dass er Artur Talanov eine Ampulle für diesen Preis beschaffte, der mit Komplizen den Banker Ivan Kiveldi und seinen Sekretär 1995 tötete, indem er das Telefon kontaminierte. Uglev bestätigte damals, dass es sich um Nowitschik handelte. Zu der Zeit gab es in Russland, dem Wilden Osten, massenhaft Mordanschläge.

Rink wurde vorübergehend verhaftet, trat dann im Prozess nur als Zeuge auf, obwohl er Kriminellen eine Ampulle Nowitschok verkauft hatte und wusste, dass diese Menschen damit töten wollten. Insgesamt hatte er, wie er sagte, ein Gramm in fünf Ampullen, womit Hunderte von Menschen vergiftet werden könnten, und eine Ampulle mit nur 0,02 Gramm mitgehen lassen. Er hatte dem Kriminellen auch erklärt, dass die Substanz bei Hautkontakt und bei Einnahme wirkt. Der Tod würde wie bei einer Herzkrankheit verlaufen. Novaya Gaseta veröffentlicht auch die Formel der Substanz, die Nowitschok sehr ähnlich sei, wenn Fluorid zugefügt werde. 1999 wurden die Ermittlungen gegen Rink eingestellt, nach denen er 8-9 Ampullen zum Verkaufen hergestellt haben soll. Die Begründung: Er habe das Gift erst am 13.9.1995 an Personen tschetschenischer Staatsangehörigkeit verkauft. d.h. nach dem Giftanschlag auf Kiveldi.

Warum Rink straffrei blieb und nun in russischen Sendern als Experte auftritt, bleibt im Dunkeln. Schon beim Skripal-Fall sagte er, dass die Vergiftungssymptome nicht denen gleichen würden, wie sie bei Nowitschok auftreten. Dasselbe meinte er nun im Fall Nawalny. Wurde möglicherweise schon Mitte der 1990er Jahre über den - gelungenen - Mordanschlag das Fundament für eine Geschichte gelegt, dass Nowitschok auch außerhalb der Geheimdienst- und Militärkreise zirkuliert? Zuvor war ja bereits eine Probe dem BND übergeben worden.

Warum hält das FBI die Analyse des Gifts geheim, mit dem auf Kara-Mursa ein Anschlag verübt wurde?

Interessant sind auch die vermutlichen Giftanschläge auf den Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa 2015 und 2017 in Russland, die dieser überlebte. Bei ihm, der mit Chodorowski zusammenarbeitet und für das Magnitski-Gesetz eintrat, traten ähnliche Symptome wie bei Nawalny auf. Beide Male wurde er in derselben Klinik in Moskau erfolgreich behandelt, Diagnose Gift einer unbekannten Substanz. Das weist darauf hin, dass ähnlich wie bei Nawalny die Täter nicht den medizinischen Apparat beeinflussen, falls überhaupt die Absicht bestand, dass das Opfer sterben sollte.

Kara-Mursa sagte jetzt gegenüber der tagesschau, die Geheimdienste würden Gift deswegen einsetzen, um jemandem maximalen Schmerz zuzufügen und später jede Verantwortung abstreiten zu können. In seinem Fall seien nicht einmal Ermittlungen eingeleitet worden. Bei ihm sei verbreitet worden, er habe Medikamente genommen und habe zu viel getrunken. Und er behauptet, der Giftanschlag könne nur mit dem Kreml zusammenhängen:

Das sind streng kontrollierte Substanzen! Sie stammen aus geheimen Laboren, wie sie die russischen und vorher sowjetischen Dienste seit Jahrzehnten betreiben. Solche toxischen Kampfmittel kann man doch nicht in der Apotheke kaufen. Den Zugang und die Entscheidungsbefugnis haben nur Leute, die in den entsprechenden Geheimdienst-Strukturen arbeiten, das steht außer Zweifel. Als Litwinenko 2006 in London vergiftet wurde, konnte man später nicht nur feststellen, dass es sich bei dem Giftstoff um Polonium 210 handelte, sondern sogar, aus welchem russischen Labor er stammt. In einem autoritären Regime, wie Wladimir Putin es in Russland geschaffen hat, sind solche Entscheidungen ohne Zustimmung der obersten Führungsebene unmöglich. Jegliche Art von Eigeninitiative ist völlig ausgeschlossen.

Kara-Mursa

Das mit der Eigeninitiative scheint, siehe Rink, falsch zu sein. In seinem Fall gab es allerdings auch eine seltsame Entwicklung. Seiner Frau gelang es nach dem zweiten Anschlag im Februar 2017, eine Blutprobe, Haare und Gewebeproben von den Ärzten zu erhalten, die sie dann in die USA brachte und vom FBI untersuchen ließ. Das Ergebnis wurde jedoch weder ihr noch dem Kongress mitgeteilt, sondern aus unbekannten Gründen als geheim klassifiziert. Kara-Mursa hat einen FOIA-Antrag gestellt.

Das lässt Raum für Spekulationen. Wollte die Trump-Regierung Moskau schützen? Arbeiten die Geheimdienste zusammen? War es doch kein Giftanschlag oder kein Nowitschok-Anschlag? Man darf gespannt sein, was die deutsche Regierung an Informationen offenlegt. Die Substanz sollte eigentlich kein Geheimnis sein.