Nawalny hat sich angeblich fast vollständig erholt und soll noch stärker bewacht werden

Nach Medienberichten soll es sich um stärkeres Nowitschok als bei den Skripals handeln, bei der Identifizierung spielt eine ominöse Flasche ein Rolle. Mitarbeiter Nawalnys werfen Medien sachliche Fehler vor

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Am Montag hatte es die letzte Mitteilung der Charité über Alexei Nawalny gegeben. Sein Zustand verbessere sich, er befinde sich nicht mehr im Koma und sei ansprechbar. Das regierungskritische russische Online Magazin The Insider berichtet - in Zusammenarbeit mit dem Spiegel und Bellingcat - aufgrund nicht näher angegebener Quellen, Nawalny habe sich fast vollständig erholt.

Der Spiegel streicht zwar heraus, dass man gemeinsam mit der mittlerweile bei allem, was Russland betrifft, unvermeidlichen "Investigativplattform" Bellingcat recherchiert habe, erwähnt jedoch das russische Medium nicht. Das mag womöglich auch Ausdruck einer Haltung sein. Der Spiegel berichtet, dass Nawalny nach dem Erwachen aus dem Koma im Krankenhaus nun direkt bewacht werde und dass die Zahl der Polizisten und die Kontrolldichte erhöht worden sei.

Man befürchte vermutlich weitere Attentatsversuche, da Nawalny wieder sprechen und sich an Einzelheiten vor seinem Zusammenbruch erinnern könnte. Überdies bereite man sich auf einen "Desinformationssturm" vor. Nach The Insider habe er sich an Ereignisse erinnert, die zur Vergiftung geführt haben, und bis zu dem Zeitpunkt, als er in der Toilette des Flugzeugs zusammengebrochen ist. Es sei das höchste Sicherheitsniveau eingerichtet worden.

Noch giftiger

Man kann sich allerdings schon fragen, wen die Sicherheitsbehörden hinter dem Anschlag vermuten. Sollten es russische Geheimdienste oder vom Kreml beauftragte Akteure sein, wie der Spiegel die Annahme der deutschen Sicherheitsbehörde beschreibt, dann hätten sie eigentlich in Russland leicht das Landen des Flugzeugs in Omsk und die Notfallbehandlung von Nawalny auf dem Flugplatz und im Krankenhaus verhindern, dort einen weiteren Anschlag ausführen oder den Flug nach Deutschland weiter verzögern können. Nach The Insider glauben die Charité-Ärzte, dass Nawalny nur aufgrund der schnellen Entscheidung der Piloten, in Omsk eine Notlandung zu machen, und dem Umstand, dass er bereits am Flughafen Atropin erhielt, überlebt hat. Die russischen Ärzte hatten dies auch mitgeteilt und erklärt, sie seien zuerst auch von einer Vergiftung ausgegangen.

Als Neuigkeit kommt hinzu, dass nach der Analyse des Bundeswehrlabors in München "eine Variante des russischen Nervenkampfstoffes Nowitschok" verwendet worden sei, "die noch giftiger ist als der Stoff, mit dem 2018 der russische Ex-Agent Sergej Skripal und seine Tochter vergiftet wurden". Nach dem Spiegel hätten Vertreter verschiedenen Behörden gesagt, die Substanz hätte nur "in einem militärischen Speziallabor in Russland" hergestellt werden können. Gründe dafür werden allerdings nicht angegeben.

The Insider schreibt weiter, die deutschen Behörden hätten darüber die G7-Länder informiert. Gestern war überdies bekannt geworden, dass die Bundesregierung die Analyseergebnisse des Bundeswehrlabors der OPCW übergeben habe (nach diesem Bericht erhielt Russland, das ein Rechtshilfegesuch gestellt hat, keine Informationen, das sagte heute auch Kreml-Sprecher Peskow). Das Institut für Pharmakologie und Toxikologie ist eines der von der OPCW zertifizierten Labore. Die tagesschau berichtete gestern, die gefundene Substanz befände sich auf der Liste der OPCW. Dort wurden Ende 2019 nach dem Skripal-Anschlag sechs Nowitschok-Verbindungen auf die Liste gesetzt, vier davon aufgrund der Forderung von Russland übrigens (Nawalnys Vergiftung ähnelt auch mit der Reaktion der deutschen Regierung dem Fall Skripal)

Die plötzlich aufgetauchte Flasche

The Insider sagt, die deutschen Sicherheitsbehörden gingen davon aus, dass das stärkere Nowitschok nur in einem staatlichen Labor hergestellt werden konnte. Man habe Spuren des Giftes nicht nur in Nawalnys Körper, sondern auch auf der ominösen Flasche gefunden, aus der er getrunken haben soll. Die Existenz dieser Flasche war erst vor kurzem bekannt geworden (Ein Spiegel-Bericht über das Ergebnis des Bundeswehrlabors und offene Fragen).

Wie die Flasche nach Deutschland gekommen ist, wer sie gebracht hat und warum der/die Überbringer sich nicht kontaminiert hat, ist unbekannt. Vermuten könnte man, dass an den Proben von Nawalny nicht zu erkennen war, um welches Gift es sich handelte. Das hatte die Charité gemeldet, auch die russischen Ärzte hatten erklärt, keinen Giftstoff entdeckt zu haben. Hat erst das Bundeswehrlabor die Flasche von wem auch immer erhalten? Und spielt auch das britische Militärlabor in Porton Down bei der Identifizierung eine Rolle? Nach einem Spiegelbericht seien Proben auch dorthin geschickt worden. Es ist das Labor, das im Fall von Skripal zuerst Nowitschok identifiziert hatte. Allerdings hatte der damalige Leiter gesagt, man könne nicht sagen, ob es aus Russland stammt.

Jedenfalls schreibt The Insider: "Laut deutschen Ermittlern wäre es viel schwieriger gewesen, die spezifische Art des Giftes zu bestimmen, wenn die Flasche nicht nach Deutschland gekommen wäre. Dieses übersehene Detail war der größte Fehler der russischen Spezialdienste." Soll man daraus schließen, dass die russischen Geheimdienste wussten, dass das Nowitschok im und am Körper Nawalnys nicht ausgemacht werden konnte, weswegen man ihn ausfliegen ließ? Und wenn das mit der Flasche stimmen sollte, dann wird die Frage immer wichtiger, wer sie wann der Polizei, der Charité, dem Bundeswehrlabor übergeben hat.

Desinformation gibt es schon jetzt. Zumindest sagte Leonid Volkov, ein Mitarbeiter von Nawalny, gegenüber dem russischen Online-Magazin Meduza, dass der Spiegel-Artikel eine "Vielzahl von sachlichen Fehlern" enthalte. Und Kira Yarmysh, die Sprecherin von Nawalny, erklärte, der Artikel sei "stark übertrieben", es gebe "sachliche Ungenauigkeiten". Die Berliner Polizei wiederum teilte angeblich RIA Nowosti mit, dass sie nicht wisse, woher die Informationen über die Stärkung der Sicherheit von Nawalny stammten.