Vergleich der Krisen 2020 vs. 2008

Der durch die Pandemie ausgelöste Krisenschub ist trotz gigantischer Verschuldung keineswegs ausgestanden

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Deutschlands Wirtschaftsführer sind sich einig: So etwas können wir uns schlicht nicht mehr leisten! Diesmal ist nicht die Rede von Sozialleistungen oder anständigen Löhnen und Renten, sondern von einem abermaligen Lockdown der Wirtschaft, mit dem eigentlich der sich gerade entfaltenden zweiten Pandemiewelle begegnet werden müsste.

Die Bildzeitung versammelte in einem - nun ja - Bericht die diesbezüglichen Äußerungen einer ganzen Reihe von Wirtschaftsvertretern des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), des Außenhandelsverbandes (BGA) und des Handelsverbands Deutschland (HDE), die vor einem "Todesurteil" für die Wirtschaft warnten, sollte es angesichts rasch steigender Infektionszahlen zu einem abermaligen Lockdown der Wirtschaft kommen.

Krepieren für die Wirtschaft, um deren "Tod" abzuwenden? Die an einem mörderischen Kult erinnernde Vorstellung eines Opfergangs für den unersättlichen Geldgott, die zu Beginn der Pandemie noch für Kopfschütteln und Empörung sorgte, ist inzwischen zur offiziellen politischen Linie avanciert. Auch Kanzlerin Merkel betonte Anfang Oktober, dass ein Lockdown unbedingt verhindert werden müsse.

Doch schienen diesmal Politik und Wirtschaft - die sich hierbei in Interessensübereinstimmung mit der großen Wahnbewegung der Pandemieleugner befinden - tatsächlich recht zu haben. Das Kapital als der sich uferlos verwertende Wert verträgt keinen Stillstand, ein zweiter Lockdown wäre ökonomisch verheerend. Der Anstieg der Infektionszahlen bedroht nicht nur der "Wiederaufschwung", auf den etwa das Handelsblatt hofft, er könnte auch die ungeheuren Aufwendungen zunichtemachen, mit denen das Weltwirtschaftssystem nach dem Ausbruch der Pandemie mühsam stabilisiert wurde.

Das kapitalistische Weltsystem befindet sich nämlich weiterhin im Krisenmodus, wobei keineswegs sicher ist, ob das System trotz der billionenschweren Stützungsmaßnahmen der Politik nochmals mittelfristig stabilisiert werden kann. Hierbei wird gerade der weitere Pandemieverlauf entscheidend sein. Ein Vergleich mit den Krisenmaßnahmen des Jahres 2008 macht klar, dass der aktuelle Krisenschub weitaus größere Dimensionen erreicht hat als die globalen Verwerfungen, die nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU die Weltwirtschaft heimsuchten.

Krisenaufwendungen im Vergleich

Die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey (die etwa an der Planung des Hartz-IV-Systems beteiligt war), ließ in einer Studie den Umfang aller Krisenmaßnahmen quantifizieren, die in Reaktion auf den globalen, von der Pandemie ausgelösten Krisenschub aufgelegt wurden. Insgesamt erreichten diese Maßnahmen einen Umfang von zehn Billionen US-Dollar (das sind 10.000 Milliarden).

Mit dieser astronomischen Summe seien allein binnen der ersten zwei Monate nach Pandemieausbruch und Wirtschaftseinbruch die krisenbedingten Aufwendungen der Jahre 2008 und 2009 um rund 300 Prozent übertroffen wurden, schlussfolgerte McKinsey. Damals sind rund drei Billionen Dollar zur Bekämpfung des wirtschaftlichen Fallouts der geplatzten Immobilienblasen - etwa der nach der Pleite von Lehman Brothers einfrierenden Weltfinanzmärkte - aufgewendet worden.

Während 2008 und 2009 der chinesische Staatskapitalismus durch aufwendige Konjunkturprogramme als der große Rettungsanker fungierte, haben sich nun die Schwerpunkte verschoben. In Relation zur Wirtschaftsleistung (BIP) erreichen die Krisenmaßnahmen der Bundesrepublik den größten Umfang: Es sind rund 33 Prozent des BIP, während die Konjunkturhilfen der Jahre 2008/09 - wie die berüchtigte Abwrackprämie - sich in der Bundesrepublik auf gerade mal 3,5 Prozent des damaligen BIP summierten. Somit kann im Fall Berlins tatsächlich von einer Verzehnfachung des Umfangs der Krisenmaßnahmen gesprochen werden!

Ähnliche Dimensionen erreichen die Stützungsmaßnahmen in Japan (22 Prozent des BIP gegenüber zwei Prozent 2008), in Frankreich (Verzehnfachung auf 14,6 Prozent) und Großbritannien (rund 14,5 Prozent). In den Vereinigten Staaten summieren sich die krisenbedingten Mehraufwendungen des ohnehin hochverschuldeten Staates auf 12,1 Prozent der Wirtschaftsleistung, während es 2008 rund 4,9 Prozent waren. In China, das inzwischen wieder auf Wachstumskurs ist, summieren sich die Krisenausgaben hingegen auf weniger als fünf Prozent des BIP.

Krise 2020 - Zahlen, Daten, Fakten

Jüngste Schätzungen des IWF gehen sogar davon aus, dass die Pandemie die Steuerzahler global circa 11,7 Billionen US-Dollar kosten werde, wobei die Folgen einer zweiten Pandemiewelle hier noch nicht eingerechnet sind. Diese Summe entspreche rund 12 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, was die globale öffentliche Verschuldung auf den Rekordwert von rund 100 Prozent der Weltwirtschaftslesung treiben werde, bemerkte das Wall Street Journal.

Dabei gilt es zu bedenken, dass der globale Schuldenberg (Staat, Privathaushalte und Wirtschaft) bereits bei Ausbruch des aktuellen Krisenschubs einen neuen, schwindelerregenden Rekordwert von 331 Prozent des globalen BIP erreichte. In den Industrieländern stieg allein im ersten Quartal 2020 die Schuldenlast von 380 Prozent des BIP auf 392 Prozent. Die Schwellenländer verzeichneten Ende 2019 eine Schuldenlast im Umfang von 220 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung - nach drei Monaten Pandemie waren es 230 Prozent. Chinas Gesamtverschuldung soll sich im ersten Quartal 2020 auf 335 Prozent des BIP summiert haben.

Auch hier hilft der Vergleich zu der globalen Schuldenlast des Jahres 2008, um den Charakter der kapitalistischen Systemkrise als eines historischen, sich schubweise entfaltenden Prozesses zu begreifen, in dem das Kapital an seine inneren und äußeren Schranken stößt. Gegenüber 2008 ist der globale Schuldenberg um rund 40 Prozent angewachsen. Die Financial Times summierte in einem Hintergrundbericht die globalen Schuldenberge im März 2020 auf die Kleinigkeit von rund 253 Billionen US-Dollar, was einen historischen Höchstwert darstelle - bei Ausbruch der Schuldenkrise 2008 betrugen die Schulden des kapitalistischen Weltsystems hingegen rund 170 Billionen US-Dollar.

Und dennoch scheinen diese kostspieligen Konjunkturmaßnahmen ihre kapitalistische Krisenlogik zu haben, da mit ihnen ein Zusammenbruch der Weltwirtschaft verhindert werden soll. Zentral für diese Stabilisierungsbemühungen eines spätkapitalistischen Weltsystems, das aufgrund seiner Hyperproduktivität unter Schuldenbergen erstickt, ist die extrem expansive Geldpolitik der Notenbanken, die massiv Schrottpapiere, Schuldtitel oder schlicht Staatsschulden auf den Finanzmärkten aufkaufen, um diese liquide zu halten. Diese Aufkaufprogramme, die letztendlich einer vermittelten Gelddruckerei gleichkommen, schlagen sich in den Bilanzen der Notenbanken nieder, die faktisch zu Sondermülldeponien des spätkapitalistischen Finanzsystems verkommen - und sie ermöglichen ebenfalls eine Quantifizierung der Krisenmaßnahmen und Krisenintensität.

Die US-Notenbank Fed wies am Vorabend des Krisenschubs von 2008/09 eine Bilanzsumme von weniger als einer Billion US-Dollar auf, die binnen weniger Monate, in denen fleißig Hypothekenverbriefungen aufgekauft wurden, auf mehr als zwei Billionen hochschnellte. Bis 2015 schwoll die Bilanz der Fed sogar auf mehr als vier Billionen Dollar an. Nun, nach einem halben Jahr im aktuellen Krisenschub, hat die amerikanische Notenbank "Wertpapiere" im Umfang von mehr als sieben Billionen US-Dollar akkumuliert. In etwa demselben Zeitraum nach Krisenausbruch, in dem die Bilanzsumme der Fed 2008 um circa eine Billion anstieg, ist diese nun, 2020, um rund drei Billionen explodiert.

In der EU sieht es nicht viel besser aus: Die Bilanzsumme der EZB stieg von rund einer Billion Euro bei Krisenausbruch 2008 über rund 4,5 Billionen nach der Eurokrise in 2019 bis auf aktuell 6,7 Billionen Euro. Tendenz weiter steil steigend. Es ist offensichtlich, dass das spätkapitalistische Weltsystem schlicht pleite ist, an seiner eigenen Produktivitätsentfaltung zugrunde geht - und nur durch permanente Schuldenmacherei eine Art zombiehaftes Scheinleben fristen kann.

Angst vor dem "Double-Dip"

Das Kalkül, mit der Entsorgung von Finanzmarktschrott, mit Gelddruckerei und immer neuen Schuldenbergen bei abermaliger Blasenbildung dem in Agonie befindlichen Kapital wieder ein paar Jahre Zeit zu kaufen, könnte ja auch aufzugehen. Der IWF schätzt inzwischen, dass - vor allem aufgrund der konjunkturellen Erholung in China - der globale Einbruch in diesem Jahr mit 4,4 Prozent der Weltwirtschaftsleistung geringer ausfallen werde als ursprünglich angenommen (5,2 Prozent). Der Währungsfonds prognostiziert für das kommende Jahr ein Wachstum von 5,4 Prozent.

Doch selbst wenn der abermalige konjunkturelle Einbruch im Gefolge der zweiten Pandemiewelle ausbleiben sollte, kommt der gegenwärtige Krisenschub für viele Millionen Menschen einer Katastrophe gleich. Zwischen 100 und 110 Millionen Menschen sollen in diesem Jahr laut IWF in "extremer Armut" versinken.

Das Problem besteht nur darin, dass eine abermalige Rezession, ein sogenannter Double-Dip, dieses billionenschwere Vabanque-Spiel der kapitalistischen Funktionseliten, das einer Wiederholung der Strategie von 2008 gleichkommt, scheitern lassen könnte. Eine Rezession würde abermals die Schuldenberge, etwa im Unternehmenssektor, in Bewegung bringen, die gerade erst mühsam von der Geldpolitik stabilisiert worden sind. Und gerade in Europa sieht es laut der Financial Times ganz nach einer abermaligen Rezession aus.

Nach einem Einbruch der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal von knapp 12 Prozent, wird für das dritte Quartal ein starker Anstieg des BIP von nahezu zehn Prozent prognostiziert. Doch danach droht abermals eine Kontraktion, so die FT. Frühindikatoren wie der europäische Einkaufsmanagerindex deuteten auf eine Rezession in etlichen Euroländern im vierten Quartal 2020 hin, da die Pandemiebekämpfung das Wachstum immer weiter hemme. Damit müsste die EZB ihre Hoffnungen begraben, die Wirtschaftsleistung des Euroraums bis Ende 2022 wieder auf den Vorkrisenstand zu heben.

Angesichts dieser maroden kapitalistischen Wirtschaft verwundert es nicht, dass Deutschlands Wirtschaftsführer und Meinungsmacher die Lohnabhängigen des Landes trotz einer zweiten Pandemiewelle zum Weiterarbeiten und zum Opfergang für das Kapital auffordern - ganz wie es einstmals texanische Senatoren in aller Offenheit machten. Es ist die einzige Chance, den Laden noch zusammenzuhalten, da eine Systemtransformation für die Herrschaften indiskutabel ist.