Belarus - Eigentor per Generalstreik

Swjatlana Zichanouskaja mit Anhängern. Aufnahme vom 30. Juli 2020. Bild: Homoatrox/CC BY-SA 3.0

Die Strategie der Opposition zu Lukaschenko ging nicht auf. Die Exil-Belorussen laufen Gefahr, zu einer vom Westen abhängigen Salon-Opposition zu degenerieren

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Nach dem ergebnislosen Ablaufen eines Ultimatums an Lukaschenko, doch jetzt bitte abzutreten, reagierte die weißrussische Opposition unter Tichanowskaja mit einer politischen Waffe mit großem Potential: Einem Generalstreik, der den umstrittenen Minsker Präsidenten in die Knie zwingen sollte. All das geriet jedoch zu einem Schuss, der weitgehend nach hinten losging und den greisen Machthaber kaum aus dem Amt bringen wird.

Ultimatum in schwieriger Zeit

Das Ultimatum der Oppositionsführerin im westlichen Exil war klar: Bis 25. Oktober müsse die Gewalt auf den Straßen von Belarus gegen Protestierende enden, alle politischen Gefangenen müssten frei gelassen werden und Lukaschenko müsse seinen Rückzug verkünden. Sonst gebe es harte Konsequenzen. Nichts davon geschah - die Proteste und Verhaftungen gingen weiter, das Vorgehen der weißrussischen Polizei gegen Demonstrierende wurde eher noch härter.

Was dabei in deutschen Medien mit nebulösen Umschreibungen ("Zehntausende") etwas kaschiert wird: Die im August noch unheimlich weitreichenden Massenproteste mit bis zu 250.000 Teilnehmern in Minsk selbst verloren während des Ablaufs des Ultimatums an Schwung auf zuletzt weniger als die Hälfte der früheren Teilnehmer. Frust über die weitgehende Erfolglosigkeit - Lukaschenko ist ja trotz massiver Vorwürfe der Wahlmanipulation weiter im Amt und wird nun dabei von Moskau gestützt - machte sich bei der Mobilisierungsbereitschaft bemerkbar.

Die Hoffnung auf einen Streik-Kick

So hoffte Tichanowskaja über den am Ende der Frist erfolgten Aufruf zu einem politischen Generalstreik auf einen entscheidenden Kick, um das Erlahmen der Protestbewegung zu verhindern und den greisen Präsidenten noch kurzfristig zu Fall zu bringen. Tatsächlich kann ein solcher Generalstreik, wenn er landesweite Ausmaße annimmt, eine mächtige politische Waffe sein. Alle Bereiche der Wirtschaft werden dann blockiert, das öffentliche Leben lahmgelegt. Aber all das funktioniert natürlich nur bei einer flächendeckend großen Beteiligung.

Dazu braucht es eine echte Mobilisierung der Massen - weit über die politisch Aktiven, die aktuell in Minsk und anderen Städten demonstrieren, hinaus. Denn ein Erfolg winkt nur, wenn auch die weniger protestfreudigen Beschäftigten dabei sind. Ansonsten erreicht auch ein gewollter Generalstreik nicht mehr als eine Verhaftung der Streikführer.

Und so geschah es am Montag in Belarus. Die Arbeit der meisten Unternehmen wurde nicht gestört, berichtet das russische Medienportal RBK, die Aktion der Opposition erreichte bei weitem nicht den beabsichtigten Umfang.

Vorhersehbarer Misserfolg

Es war vorhersehbar, dass die Opposition in Belarus in einer Zeit zurückgehender Straßenproteste die nötige Mobilisierung nicht erreichen wird. Der Staat war zur Verhinderung eines großen Streiks dabei natürlich nicht untätig. Bei den ersten Anzeichen einer Streikbeteiligung waren laut Berichten der Minsker Onlinezeitung tut.by sofort Sicherheitskräfte vor Ort und führten Verhaftungen durch - aus mehreren Betrieben werden große Aktionen in dieser Richtung gemeldet.

216 Verhaftete sollen es nach dem ersten Streiktag sein. Schon im Vorfeld versuchten zudem Führungskräfte, ihre Belegschaften von einer Streikteilnahme abzuhalten, Rädelsführer wurden in andere Schichten verlegt oder ihre Betriebsausweise zeitweise gesperrt, so dass sie nicht in die Unternehmen kommen konnten.

Wo diese Maßnahmen nicht fruchteten kam es dann zwar zu Arbeitsniederlegungen oder Protesten an den Werkstoren. Was jedoch ganz entscheidend ist: Die Produktion musste laut dem Telegram-Kanal von RIA Nowosti in keinem der mächtigen belorussischen Staatsbetriebe eingestellt werden. Nur unbedeutende Kleinbetriebe wurden teilweise komplett bestreikt. Das würden auch die vor Ort bestätigen, die sich am Streik beteiligt hätten, meint dazu RBK. Der Streik hat sein Ziel bisher also komplett verfehlt und kann als Misserfolg betrachtet werden.

Das alles, obwohl es laut verschiedenen Berichten zu Solidaritätsaktionen von Studenten an den belorussischen Universitäten und Straßenprotesten von Streikteilnehmern kam. Hier zeigt sich weiter viel Sympathie für die Opposition, deren Kräfte wohl hauptsächlich wegen des Zeitablaufs ohne sichtbaren Erfolg erlahmen. Die Uni-Solidarität sprach sich übrigens auch bis zu Lukaschenko herum, der lautstark den Hinauswurf der Studenten von den betroffenen Hochschulen forderte.

Beginnende Entfremdung der Exilanten?

Dass Tichanowskaja den riskanten und wenig aussichtsreichen Weg eines Generalstreiks überhaupt ging, könnte ein erstes Symptom sein, dass es ihr aus dem andauernden Exil zunehmend schwer fällt, die Stimmung der in Belarus Gebliebenen und ihr Aktionspotential richtig einzuschätzen. Auch viele ihrer Mitarbeiter und führenden Aktivisten sind nicht mehr im Land, laut der russischen Nesawismaja Gaseta leben mittlerweile 700 weißrussische Oppositionelle in Polen - das sind mehr, als aktuell in weißrussischen Gefängnissen sitzen.

Die Strategie des weißrussischen Endlospräsidenten, der die Führung der gegen ihn gerichteten Bewegung aktiv aus dem Land trieb, teilweise sogar an die Westgrenze fahren ließ, ging hier voll auf. Die Exil-Belorussen laufen Gefahr, zu einer vom Westen abhängigen Salon-Opposition zu degenerieren, die viele Vorträge in Brüssel oder Berlin hält, aber den Einfluss auf Vorgänge im eigenen Land verliert. Ebenso wie die eigene Glaubwürdigkeit als zwangsläufige Bundesgenossen einer polnischen Regierung, die es mit der Achtung von rechtsstaatlichen Prinzipien selbst nicht viel genauer nimmt, als Lukaschenko.

Lukaschenko weiß das und so war es von Anfang an seine Strategie, seine Gegner als westliche Marionetten zu diskreditieren, wenn nicht sogar zu solchen zu machen. Viele russische politische Exilanten wie Kasparow oder Chodorkowski können hier als unfreiwillige Vorlage gedient haben - denn sie sind im Bezug auf die realen Vorgänge in ihrem Land vor allem eines: machtlos.