Kritiker des Marxismus erklären diesen für unwissenschaftlich

Marx ist Murks - Teil 3c: Replik auf die Einwürfe der Foristen

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Fortsetzung der 4. Replik "Kapitalismus schafft Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden" auf die Kommentare der Artikelserie "Was für den Kapitalismus spricht".

Kurzer Nachtrag zur Replik 3b: Die Fußnoten 2 und 4 wurden rückwirkend in den Haupttext eingepflegt, weil es nicht möglich war, die von mir verwendeten Gegenrechnungen, die der Telepolis-Redaktion nur als Bilddatei vorlagen, in die Fußnoten einzupflegen, wo sie dann zwischenzeitlich fehlten, so dass der Text ohne diese Bilddatei für manch Verwirrung gesorgt haben könnte. Die Fußnote 15, ein Zitat des Foristen "jsjs" wurde nachträglich eingepflegt, aber ein Copy-Paste-Fehler führte dazu, dass dort zwischenzeitlich ein falscher Text stand, der dem Foristen in den Mund gelegt wurde und auch inhaltlich gar nicht passte.

Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neusten Philosophie: Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen.

Johann Gottlieb Fichte

Einwand 13: Marxismus ist unwissenschaftlich

a) Marx falsch, weil falsches Logikverständnis

Immer wieder begegnet man Sprüchen folgender Art:

Ohne Dialektik [ist] Marx nicht zu verstehen.

Forist "Neumond"

Man kann den Marx nur verstehen, wenn man seine Methoden versteht, die sich aus der Hegelschen Dialektik entwickelt hat.

Forist "Hellergang"

Das sagen leider sogar manche Marxisten selbst und machen ein mystisches Brimborium daraus. Ist aber Quatsch. Die Sache mit der Dialektik wird viel zu heiß gekocht, wenn es bloß darum geht, Marxens Kapital zu kapieren. Ich selbst habe Hegel nie gelesen, kann aber nicht behaupten, dass ich dem Text völlig ratlos gegenüber stehe. Sicher, die eine oder andere Formulierung bei Marx, die durch die Hegelsche Logik inspiriert ist, mag für manche Ohren verwirrend klingen (z.B. "Verlaufsform", "Aufhebung von Widersprüchen", doch wenn man an den jeweiligen Stellen etwas darüber nachdenkt, auch nicht sonderlich irritierend. Ich habe jedenfalls nicht den Verdacht, dass mir ohne tiefere Hegelkenntnisse inhaltlich etwas entgangen ist, auch wenn ich mich selbst nicht so ausdrücken würde.

Wenn man Hegel notwendig gelesen haben muss, um Marx zu verstehen, obwohl Marx dies selbst von seinem Hauptwerk so nicht behauptet, muss das Argument unbedingt in gleicher Weise verlängert werden: Man muss Kant gelesen haben, um Hegel zu verstehen. Und um Kant zu verstehen, muss man Wolff gelesen haben, den man wohl nicht ohne Hume und Leibniz verstehen kann. Um den Ersteren zu kapieren, braucht es die Kenntnis einiger englischer Empiristen (Bacon, Hobbes, Locke), und für den Letzteren die Kenntnis einiger niederländischer Rationalisten (Beeckman, Descartes, Spinoza), und für die wiederum bedarf es einer gewissen Vertrautheit mit der höheren Mathematik und der darin vorfindlichen Ideen über Theorieentfaltung (Axiome, Beweisführung, Ableitung, etc.) usw. Man kann das Spielchen bis ins vorsokratische Athen so treiben. Und warum dort überhaupt aufhören? Am besten auch gleich noch mit dem ägyptischen und den babylonischen Wissenschaftsbetrieb vertraut machen, in welchem die europäische Ideengeschichte klarerweise ihren Ausgangspunkt hat, es sei denn, man verortet diesen gar in der Bronzezeit oder noch viel früher.

Ach ja, das hab ich ganz vergessen: Man muss natürlich nicht nur die philosophischen, sondern auch die ökonomischen Vorgänger von Marx alle gründlich kennen. Die englischen Arbeitswerttheoretiker Ricardo, Smith, Petty, usw., und Utilitaristen (Mill, Bentham etc.), ebenso die französischen Merkantilisten und Physiokraten und gleichermaßen die Schriften der norditalienischen Kaufmänner. Die Analysen seiner Vorgänger, auf die sich Marx bezieht, reichen zurück bis in die Antike zu Aristoteles.

Ferner muss man "natürlich" gründliche Literaturkenntnisse mitbringen. Die "Göttliche Komödie" von Dante sollte man schon paar Mal gelesen haben, immerhin soll das Kapital von jener den strukturellen Aufbau übernommen haben, und auch Balzac, den Marx doch so gern las, sonst steht man dem Marxschen Werk ja völlig hilflos gegenüber.

Gründliche Geschichtskenntnisse sollte man auch noch mitbringen, am besten sich mit der Tagespolitik des 19. Jahrhunderts (z.B. den englischen Korngesetzen) bis ins Detail auskennen. Und sowieso ist es unerlässlich, einen Überblick über alle moderne "Lesarten" des "Marxismus", die sich zum Teil wechselseitig spinnefeind sind, zu haben, und auch mit den Schriften seiner führenden Kritiker (Böhm-Bawerk, Popper, Menger, etc.) vertraut zu sein. Und wenn wir schon bei Geschichte sind, dürfen wir auch seine persönliche Lebensgeschichte nicht ausblenden. Ohne adäquate Biografien von Marx und Engels versteht man angeblich eigentlich kein Wort von dem, was die beiden so schrieben und trieben.

Jeder Anhänger oder Kritiker kann die Liste der angeblich notwendigen Vorbedingungen an die Lektüre beliebig nach eigenem Gusto verlängern. Fremdsprachkenntnisse soll man haben. Englisch, Französisch, Italienisch sollte man schon können, am besten aber auch Altgriechisch und Latein. Ich habe sogar schon gehört, dass man mit jüdisch-christlicher Theologie, Moral-, Erkenntnis- und Geschichtsphilosophie, formaler Logik und Psychologie vertraut sein müsse, um Marx zu kapieren oder kritisieren zu können.

Ja sagen wir es einmal offen und frei heraus: Ohne all diese Vorkenntnisse ist man bei der Lektüre des Kapitals völlig aufgeschmissen. Man muss am besten identisch werden mit Marx - Marx sein!! - , um Marx zu verstehen. Ich frage mich, ob je an ein anderes Lehrbuch in der Geschichte - und es ist zugegeben zwar schwer, aber bei Weitem nicht das schwerste, das ich je gelesen habe - so viele Vorbedingungen an die Lektüre gestellt wurden, und zwar ausgerechnet meistens von Leuten, die es selbst nie bzw. nur sehr schlecht gelesen oder höchstens ein paar Elemente in verzerrter Darstellung durch kulturelle Osmose aufgesogen haben, aber offenbar keinen Wert darin sehen, einfach mal das zur Kenntnis zu nehmen, was sie darin vorfinden, sondern sich stattdessen genötigt sehen, auf zig externe Quellen zu verweisen.

Nach meinem Dafürhalten gibt es nur eine Vorbedingung für die Kapitallektüre. Man sollte lesen können, auch ein bisschen rechnen und aber vor allem viel Zeit haben, um über die vorgebrachten Gedanken nachzudenken, sie hin und her zu wenden und sie mit den Fakten abzugleichen, wie sie einem in der Wirklichkeit begegnen. Unbekannte Vokabeln kann man nachschlagen, unbekannte Zusammenhänge und Anspielungen, z.B. historische, bei Bedarf mit der Suchmaschine ergründen. Natürlich kann ein erfahrener Diskussionspartner nicht schaden, der sich mit den Argumenten und Gegenargumenten und auch noch den Gegengegenargumenten bis ins in die Details auskennt, aber die sind erstens rar gesät und nicht für jedermann zur Hand, und zweitens hat man vor der Lektüre ja überhaupt nicht die Kompetenz, um über die Qualität eines ausgesuchten Diskussionspartners zu befinden. Also kann man es erst einmal auch selbst versuchen. Gute Ratschläge findet man sicherlich im Internet. Wichtig ist, am Inhalt zu bleiben, der durch die Lektüre vorgegeben wird, und sich nicht in Nebenschauplätzen zu verlieren, wie z.B. irgendwelche Stalinismus-Debatten. Das sind alles Gegenstandsverschiebungen, die zwar durchaus einer Debatte wert sind, aber eben ganz andere Themenbereiche darstellen.

Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark, und das ist dann ohne die Schikanen. Darunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht, was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er lässt weg, dass die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre.

Bertolt Brecht

War Brecht hier ironisch?

Was hat denn Marx selbst zu all diesen Vorbedingungen gesagt? Er hat es jedenfalls nicht für nötig befunden, seine Leser darauf aufmerksam zu machen, was ihnen alles entginge, würden sie nicht die entsprechenden Vorkenntnisse mitbringen. Speziell zur Philosophie Hegels und seiner zeitgenössischen Anhänger (Stirner, Feuerbach, etc.) hat er zwar in seinen jüngeren Jahren eine längere Schrift verfasst ("Die Deutsche Ideologie"), gleichzeitig aber auch davon abgesehen, sie zu veröffentlichen. Das Zeug kam erst posthum heraus, also offensichtlich gegen seinen Willen, und wurde ausgerechnet von einer Person herausgegeben, die mit dem Marxismus in der SPD theoretisch gebrochen hat: Eduard Bernstein. Sowieso hat sich Marx gelegentlich von seinen Frühschriften distanziert und mag dafür seine Gründe gehabt haben. Moderne Interpreten übergehen einfach diesen Vorbehalt Marxens seinem eigenen Frühwerk gegenüber und erklären solche Schriften schlechterdings zu seinem Hauptwerk. In dieser Optik ist dann Marx der Vor- und Hauptdenker des Historischen Materialismus. Dabei sagen einige Marx-Kenner wohl genau das Gegenteil:

Anstelle der in der späteren Rezeption behaupteten (und durch Textkompilationen suggerierten) Ausformulierung einer Philosophie des historischen Materialismus belegen die Manuskripte gerade die programmatische Abkehr von der Philosophie zugunsten der wirklichen positiven Wissenschaft.

Ulrich Pagel, Gerald Hubmann und Christine Weckwerth

Ich kann und will das nicht beurteilen, sondern möchte nur noch einmal hervor heben, dass ich jedenfalls nicht den Eindruck habe, dass es mir an Vorkenntnissen der Dialektik mangelt, um seinen Argumenten folgen zu können. Im Endeffekt muss bei allem philosophischen Überbau immer an der Sache selbst argumentiert werden. Und selbst in Bezug auf die besprochene Sache braucht es keine Vorkenntnisse über sie, da sie ja im Fortgang der Theorieentfaltung überhaupt erst eingeführt wird.

Marxens Kapital ist nämlich im Wesentlichen wie ein typisches Lehrbuch für höhere Mathematik aufgebaut. D.h. es handelt sich um eine "Ableitung". Ableitungen beginnen mit einigen elementaren Grundeinsichten und entfalten daraus die gesamte Theorie über den jeweiligen Untersuchungsgegenstand. Beginnend mit einer Aussage A folgt aus ihr B, aus B folgt C, von C geht es nach D usw., und zwischendurch gibt es ein paar thematische Nebenstränge. Dies ermöglicht es, am fortlaufenden Argumentationsgang selbst zu sehen, ob man jeden Übergang mitmacht, oder ob es an einigen Stellen hakt und einer jeweils näheren Ergründung bedarf.

Eine Ableitung beginnt mit einer elementaren Einsicht, die jeder teilt. In der Mathematik bezeichnet man diese elementarsten Einsichten, gegen deren Einsicht sich nur wirklich kein Verstand erwehren kann oder will, wenn er nicht in die Nähe von Geisteskrankheit gerückt werden möchte, als "Axiome". (Man kann natürlich Axiome hinterfragen, und dies ist in der Mathematikgeschichte sehr häufig passiert mit sehr großem Nutzen im Resultat, z.B. der Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrie. Will ich also behaupten, dass diese Forscher, die über die vorgegebenen Axiome hinausgegangen sind und selbst diese noch zerpflückt haben, geisteskrank sind? Nein, ganz und gar nicht. Man sagt zwar gern, dass zwischen Genie und Wahnsinn nur ein schmaler Grat ist, sie sind aber dennoch voneinander unterscheidbar, nämlich durch die jeweils vorgebrachten Argumente. Auch wenn Genie oft den Eindruck des Wahnsinns macht, weil es eben Neues und zuvor Ungedachtes denkt, ist umgekehrt nicht jeder Wahnsinn, nicht jede Fantasie gleich Ausdruck von Genie, bloß weil man sie hat.1 Dies ist sogar sehr selten der Fall. Ob er es ist, muss sich in der jeweiligen Darlegung noch erweisen. Zur Beurteilung haben wir einen Katalog an wissenschaftstheoretischen Kriterien und das Mittel der Debatte.)

Marx spricht bei seinem konkreten Untersuchungsgegenstand, der kapitalistischen Produktionsweise, von der Ware als ihrer "Elementarform", und er beginnt seine Analyse des kapitalistischen Betriebs, mit den unzweifelhaften Grundbestimmungen dieser Elementarform: Sie muss einen Nutzen haben (Gebrauchswert) und es gibt sie nicht umsonst (Tauschwert). Aus diesen minimalen und recht dürftigen, aber vollkommen ausreichenden Voraussetzungen2 erklärt er kleinschrittig, wie z.B. die Waren ihre jeweiligen Werte und Preise annehmen können, wie es möglich ist, dass ein Stück Zettel (Papiergeld) oder eine digitale Zahl auf dem Bankkonto einen Wert (also geronnenen Arbeitsaufwand) zu repräsentieren vermag, wie die spezifisch kapitalistische Form der Ausbeutung funktioniert, welche Zwecke dort die Produktivität vorantreiben, was die Ursachen der internationalen Hierarchie der Löhne und der Landflucht sind, wie es zu einer Klassenbildung und einer systematischen Geldanhäufung auf der Seite der Kapitalisten und einer relativen, bzw. sogar absoluten Verarmung auf der Seite der Lohnabhängigen kommt - und das Ganze auch noch so, dass es den Leuten als das Natürlichste auf der Welt erscheint. Eben all das und noch Etliches mehr.

Abgesehen von den vielen Interpretationen/Diskussionen der diversen K-Gruppen in den 70er Jahren, ist selbst bei Aneignung der oft sehr eigenen Terminologie von Marx die Hegelsche Dialektik ein Grundproblem, die sich jeder endgültigen Bewertung und Auslegung von Marx und Engels entgegenstellt.

Forist "Neumond"

Aha. Und weil eine Beurteilung von Marx durch Hegel, dessen Denke dem Marxschen Werk irgendwie eingeschrieben sein soll, verunmöglicht wird, erlaubt dies also umso mehr und mit felsenfester Gewissheit, bei jeder möglichen Gelegenheit ein vernichtendes Urteil über sein Werk auszusprechen; noch dazu sich in den Kommentaren regelmäßig auf alle möglichen Nebenschauplätze zu beziehen, nur nicht auf den von mir vorgelegten Text und die darin vorgebrachten Argumente3?

Wenn "Neumond", "Hellergang" und andere Foristen konkrete Stellen im Kapital kennen, in denen ihnen beim Verständnis der dort benannten, ökonomischen Sachzusammenhänge die Hegelsche/Marxsche Dialektik partout im Weg steht, und sie weder ein noch aus wissen, können sie solche Stellen gern im Forum zur Sprache bringen, und wir beurteilen dann gemeinsam mit den anderen Foristen, ob sie wirklich so unverständlich sind wie im obigen Zitat des Foristen in platter Allgemeinheit behauptet wird. Ich wage das nämlich arg zu bezweifeln. Ich fühle mich auch ohne Hegel-Kenntnisse nicht aufgeschmissen.

In der deutschen Philosophie war es Hegel, der den aus der Antike geerbten Fanatismus zur Ableitung (Platon, Euklid, Proklos etc.), d.h. den Fanatismus zur rein logischen Beweisführung, am klarsten und konsequentesten gelebt haben soll, auch wenn er selbst stellenweise so manchen Unsinn erzählt haben mag (oder auch nicht, was weiß ich). Die Ableitung ist eben die weit und breit klarste Art, eine Theorie zu entfalten, weil nur diese Darstellungsart es dem Leser überhaupt ermöglicht, an jeder Stelle des Argumentationsgangs die einzelnen Übergänge im Detail nachzuvollziehen und gegebenenfalls mit eigenen Einwänden zu intervenieren. Alle anderen Darstellungsweisen sind im Grunde bloß geistiges Flickwerk und als solche mit großer Unsicherheit über den eigenen Stand der Erkenntnis behaftet. Diese Kopie der mathematischen Vorgehensweise in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften hat der Marx an dem Hegel sehr zu schätzen gewusst und seine Darstellungsweise übernommen.

Wer im Kontext des Marxschen Kapitals unbedingt eine Hegel-Debatte führen will, muss ihn zunächst angemessen darstellen und dann seine Fehler herausarbeiten. Ob Hegel falsch liegt mit seiner Logik, und falls ja, wo genau - da kommt es auf die Details an -, muss man als redlicher Intellektueller dann schon konkret an seinen jeweiligen Ausführungen erarbeiten und kann das nicht einfach als nebulöses und mystisches "Geschwurbel" mit einem Wisch abtun. Aus dem kapitulierenden Eingeständnis, dass man eine Analyse nicht versteht, ihr nicht gewachsen ist, folgt nicht automatisch, dass sie deshalb schon falsch ist. Dafür muss man dann schon etwas mehr liefern. Man würde ja auch nicht an einen Mathematik-Professor herantreten und behaupten, er läge ausgerechnet deshalb falsch, weil man ihn nicht versteht. Bestenfalls könnte man ihm vorwerfen, dass er unverständlich schreibt. Aber auch da ist die Frage, ob die Schwere seiner Verständlichkeit bloß einer didaktischen Schwäche, einem gelebten Elitarismus oder einfach der Schwere des Gegenstandes geschuldet ist. Elitarismus in diesem Sinne würde ich bei Hegel allein schon wegen der Wahl seines Untersuchungsgegenstandes ausschließen. Man schreibt doch nicht ein Buch über Logik, also über die Klarheit von Argumentationsgängen und wissenschaftliche Redlichkeit im ganz prinzipiellen Sinn und formuliert dieses dann absichtlich so schwer, dass man ja nicht verstanden werden kann. Das widerspricht dem eigenen Zweck.

Sie können hier ein "Tollhaus" aufmachen, aber Logik nicht vereinnahmen und ihrem Zwecken gemäß instrumentalisieren.

Forist "Neumond"

Was für ein seltsamer Einwurf? Wenn man einen mathematischen Satz oder sonst eine Aussage mithilfe logischer Schlussfolgerungen herleitet und somit beweist, d.h. seine Gedankengänge, so weit man dazu in der Lage ist, komplett offen legt, dann hat man was genau getan? Richtig: Man hat die Logik zu eigenen Zwecken "instrumentalisiert". Wenn die dabei angewandte Logik korrekt ist, kann man sie weder "vereinnahmen" - der Vorwurf wäre jedenfalls unsinnig - noch schadet es, wenn man sie zugunsten einer neuen Erkenntnis instrumentalisiert, also eben genau dafür benutzt, wofür sie sowieso gedacht ist: klarsichtiges, strukturell geordnetes Denken. Aber "Neumond" hat solche Verwendungsweisen eines Gehirns ohnehin an mehrfacher Stelle als Tyrannei des "technokratischen" Verstandsdenkens charakterisiert. Was soll man da schon entgegnen, wenn jemand auf das geordnete Denken schlicht keinen Wert zu legen scheint und diesem stattdessen eine ganzheitliche - "organische", "erlebte" - Wirklichkeitsauffassung entgegenhält? Dann ist doch ohnehin jedes Argument vergebens, weil solch eines ja gerade zum gedanklichen Nachvollzug und zur verstandesmäßigen Prüfung herausfordern würde, was "Neumond" wohl per se für unzumutbar hält, während er jedoch gleichzeitig irgendetwas von Wissenschaftlichkeit faselt:

Abgesehen davon ist es ähnlich wie bei der Marxschen Theorie von einer grundsätzlichen Frage, ob denn Ökonomie überhaupt als Wissenschaft bezeichnet werden kann.

Forist "Neumond"

Nein, dies ist keine Frage. Jemand nimmt sich einen Gegenstand vor, den er sich logisch erschließen will, und dann müssen eben andere kritische Geister prüfen, ob die von ihm vorgebrachten Argumentationsgänge zu den näheren Bestimmungen korrekt sind oder nicht. Dies entscheidet sich jedoch nicht daran, was der ausgesuchte Untersuchungsgegenstand ist (hier: Ökonomie; genauso gut: Teufelsanbetung), sondern daran, ob fehlerhafte Schlüsse und Begriffsbildungen vorliegen oder nicht. Wenn man meint, dass falsch argumentiert wird, muss man die Fehler aufzeigen4, Punkt für Punkt. Ansonsten handelt es sich bei solchen "Einwänden" um eine leere Skepsis, die keinen konkreten Anlass für sich hat außer einer generellen Ablehnung, was doch ziemlich mager ist. Zweifel und Kritik taugen nur überhaupt irgendetwas, wenn sie auch tatsächlich welche sind. Dazu muss man sich hinreichend genau mit dem Gegenstand der Betrachtung befassen. Mit anderen Worten: Zweifel muss man sich verdienen! Und ein skeptizistische Grundhaltung, die sich per se auf keinen Beweis einlassen will, ist nicht minder blöd als die naive, die alles glaubt, was man ihr vorsetzt5 - beide kommen gänzlich ohne Reflexion am Gegenstand aus.

Offenheit und Lernen ist eine Tugend.

Forist "Neumond"

Ja, und zwar eine, die man offenbar und am liebsten nur sich selbst bescheinigt.

Da die Sache sich so verhält, so erkläre ich mit meinem vollkommenen und hier erwiesenen Rechte […] Herrn Schmid [= Forist "Neumond". AdA] selbst, als Philosophen, in Rücksicht auf mich für nicht existierend. Ich sehe nicht, zu welchem Rechtsmittel Herr Schmid gegen meinen Annihilationsakt seine Zuflucht nehmen könnte, als etwa dazu, dass ich sein System unrichtig dargestellt hätte.

Johann Gottlieb Fichte

b) Marx falsch, weil ohne prognostische Kraft

Der Punkt ist, dass auch der Marxismus bzgl. der Preisbildung gar nichts erklärt. Er liefert nur schlüssig klingende Prosa. [!!! Wieso klingt sie schlüssig? AdA]. Aber das reicht nicht aus. Wenn diese Prosa etwas erklären könnte, dann müsste am Ende wenigstens eine Zahl stehen: Der vorhergesagte Preis. [!!! Nein, weil eben aus dem Begriff des Preises selbst hervor geht, dass dies nicht geht. AdA]. Nur damit wäre die Erklärung [!!! Welche? AdA] überprüfbar, und erst dann wird daraus Wissenschaft. […] Und wenn die Erklärung von Marx besser wäre als die Erklärungen der anderen Wirtschaftswissenschaftler [!!! Welche? AdA], dann hätte sie sich in den letzten 150 Jahren auch im Kapitalismus als praktisch angewandtes Modell durchgesetzt.

Forist "K3"

Apropos "durchsetzen".6 Was ist denn mit all den Ökonomen, die nach und nach Marxisten wurden? Davon gibt es etliche. Gilt das etwa nicht? Müssen die Marxisten restlos jeden Ökonomen überzeugen, selbst wenn der partout nichts davon wissen will? Oder ist das eher so gemeint, dass die Marxisten doch wenigstens die Mehrheit unter den Ökonomen bilden sollten? Kein Problem, dann soll sich "K3" einfach dafür einsetzen, dass es mehr Lehrstühle für diese Denkströmung im Fachbereich Ökonomie und Politik gibt, am besten an jeder Uni gleich mehrere, ebenso an jeder Fachhochschule, und wieso nicht auch noch haufenweise Lehrer? Wenn der deutsche Staat das nicht permanent verhindern würde, würde sich auch die Denkströmung des "Marxismus" nach und nach "durchsetzen". Außerdem, seit wann ist Mehrheit ein Argument?

Die Wahrheit ändert sich nicht, weil sie von der Mehrheit der Leute geglaubt oder nicht geglaubt wird.

Giordano Bruno, 1548-1600

In Fragen der Wissenschaft ist die Autorität von Tausenden nichts so viel wert wie die bescheidenen Gedanken eines Einzelnen.

Galileo Galilei, 1564-1642

Marxens Analyse soll "Prosa" sein und damit nicht überprüfbar? Steht denn VWL besser da? Trifft die denn Vorhersagen? Und warum sind die Wissenschaftler dann nicht reich, wo sie denn wissen müssten, wie sich Märkte entwickeln? Du forderst von Marx eine Leistung ein, die die VWL selber nicht bringt um dessen Theorie zu diskreditieren.

Forist "jsjs"

Nehmen wir fernerhin die ersten drei Hauptargumente meiner Artikelserie: (1) Es wird nur für den Mehrwert produziert. (2) Dies entscheidet, was und wie produziert wird. (3) Produktion kann sich rückwirkend als vergebens herausstellen. Jede dieser Aussagen ist eine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise, hergeleitet aus den sachlichen Zusammenhängen der eingeführten Begriffe. Außer der Beziehung "M > 0" (= "es muss ein Mehrwert existieren") kommen dort überhaupt keine quantitativen Bestimmungen vor, dafür jede Menge qualitative. Was muss da eigentlich berechnet werden, damit diese Schlussfolgerungen irgendwie glaubhafter oder korrekter werden? Umgekehrt muss sich "K3" fragen lassen, was er diesen vorgebrachten Argumenten an Rechnungen entgegen halten möchte, um sie zu widerlegen. Stimmen sie nicht? Wenn nein, woran macht er das fest?

Sollte der "Marxismus" Wissenschaft sein, dann hätte seine empirische [= faktenbasierte. AdA] Analyse Evidenz [= Klarheit, Beweiskraft. AdA], und diese würde in seine wissenschaftlichen Berechnungen [!!!] eingehen müssen [!!!], sie hätten zumindest dann einen statistischen [!!!] Wert.

Forist "Neumond"

Die beiden Foristen verpassen vollständig, worum es bei Marx im Kern geht, stattdessen wissen sie aber sehr zielstrebig, was unbedingt vorzukommen hat in einer vollständigen Analyse und was also ihrer Meinung nach auf jeden Fall fehlt: Berechnungen. Sie sagen noch nicht einmal, was der Inhalt dieser Rechnungen sein soll, sondern nur, dass Zahlen vorkommen sollen und diese sollen etwas vorhersagen. Was eigentlich? Einem solchen Kritiker empfehle ich, sich einmal gründlich in der Numerologie umzuschauen, da werden auch immer wieder Prognosen berechnet. Mit ausreichend selektiver Wahrnehmung sind die sogar alle richtig.

An die anderen Leser: Der "Marxismus" muss zunächst begrifflich verstanden werden. Die Mathematik ist in der Theoriebildung nachgelagert. Erst muss man wissen, was es zu mathematisieren gilt - und das entscheidet sich eben jenseits aller Mathematik -, bevor dann die Mathematisierung stattfindet. Die VWL will Nutzen mathematisieren, und das ist aus vielen zuvor genannten Gründen totaler Quatsch.

Der Kritikpunkt gegen die bürgerliche VWL, dem heutige Mainstream, beruht nicht darauf, dass Mathematik verwendet wird, sondern darauf, dass die Mainstream-Modelle und die entsprechenden ökonomischen Theorien die ökonomische Realität unzureichend erfassen.

Forist "franz (12)"

Hat man die Begriffe der Marxschen Theorie kapitalistischer Produktionsweise erst einmal gefasst, kann man sie selbstverständlich nicht minder in eine mathematische Form pressen, sofern sie überhaupt zur näheren Befassung taugen. Marx rechnet mit Dreisätzen und Brüchen, setzt also bei seinem Leser kaum mehr Mathematikkenntnisse voraus als dieser üblicherweise bis zur Mittelstufe ohnehin lernt, wobei die Art, wie er sich bei seinen Rechenbeispielen ausdrückt, schon mal überfordern kann. Aber seine diesbezügliche Zurückhaltung hindert ja den versierten Leser nicht, mathematisch über ihn hinauszugehen und etwas mehr Dynamik in seine Betrachtungen zu bringen, z.B. durch Betrachtung von Änderungsraten, sprich durch Einführung von Differentialrechnung und -gleichungen in seine Analyse. Für die Agitation und das Grundverständnis der Theorie ist das irrelevant, mag aber für die Ergründung einzelner Aspekte von Interesse sein. Wo die Theorie es zulässt, lassen sich vermutlich auch andere mathematische Werkzeuge zur Anwendung bringen: Lineare Algebra, um Wertzusammenhänge aufzudröseln, Kybernetik, um Kreisläufe mit Rückkopplungseffekten zu betrachten, usw. All das ist stellenweise möglich und wird wohl auch gemacht. Ich verfolge das nicht und bin selbst auch nicht fit drin, kann und mag also schwer beurteilen, was solche mathematischen Erweiterungen der Theorie leisten, ob sie korrekt sind und ob sie einen zusätzlichen und realen Erkenntnisgewinn bringen. Jedenfalls würde ich allen, die noch keine gründliche Kenntnis der Marxschen Begriffe und seiner Ableitung besitzen, davon abraten, sich direkt in die dazugehörige Mathematik zu stürzen. Sich in diese einzufuchsen, dafür hat man bei Bedarf noch den Rest seines Lebens übrig, und es ist im Grunde auch nur relevant für Leute, die sich forschend auf diesem Gebiet betätigen wollen. Höchstens wenn man die mathematischen Illusionen der VWL dekonstruieren möchte, kann ein bisschen Mühe in diese Richtung nicht schaden.

Neulich bin ich auf die Arbeiten des Statistikers Niels Fröhlich aufmerksam gemacht worden. Ich habe sie selbst noch nicht gelesen, bin insofern nicht in der Lage, sie zu beurteilen und lege deshalb schon gar nicht meine Hand dafür ins Feuer, aber seine Ausführungen üben auf einige Marxisten wohl eine gewisse Strahlkraft aus. Er hat für seine Analysen, mit denen er die Stichhaltigkeit der Marxschen Variante der Arbeitswertlehre statistisch nachgewiesen zu haben behauptet, immerhin einen Universitätspreis sowie den Förderpreis des Statistischen Bundesamtes erhalten. Solche Preise müssen rein gar nichts bedeuten, auch die VWL verleiht laufend Preise an ihren Nachwuchs, sie werden aber, denke ich jedenfalls, nicht leichtfertig verliehen. Diese ihm zukommende Aufmerksamkeit von akademisch-institutioneller Seite qualifiziert seine Arbeiten mindestens zu einer näheren Prüfung. Ich verweise auf diese Episode hier jedoch nur aus dem simplen Grund, dass selbst eine hieb- und stichfeste Rechnung keinen Kritiker von Marx überzeugen würde. Denn um die Rechnung überhaupt nachzuvollziehen, d.h. sie interpretieren zu können, muss man sich ja bereits ausführlich in seine Theorie und darüber hinaus auch noch in die entsprechende Mathematik eingearbeitet haben. Als ob sie sich diese Mühe machen würden. Die prinzipielle Zurückweisung ist schon das einzige Argument, das sie kennen.

Wenn dieser Wert so objektiv ist, sollte es ja wohl möglich sein, dafür eine Messvorschrift anzugeben. Dann wäre der nächste Schritt aus dieser Theorie ein Modell mit echter Vorhersagekraft zu bauen und zwar besser als "Es kommt irgendwann zur Krise." Wenn der Marxismus das leisten könnte, wäre das mit der allgemeinen Anerkennung kein Problem. Da es allerdings selbst heute mit moderner Datenerhebung und Rechenpower von Computern nicht der Fall zu sein scheint, kann man ja nach 170 Jahren mal die Frage stellen, woran das liegt.

Forist "Rimaan"

Nehmen wir die recht einfachen Gesetzmäßigkeiten, die gelten, wenn Kräfte auf Massen wirken. Es mag recht einfach sein, bei idealen Bedingungen vorherzusagen, wie sich eine Kugel bewegt […]. Es ist unmöglich eine Vorhersage über die Lottozahlen abzugeben, obwohl dort dieselben Gesetzmäßigkeiten wirken. Kugeln fallen in einen sich drehenden Behälter, stoßen aneinander und werden von einem Arm aufgenommen. Einfache Gesetzmäßigkeiten und eine sehr komplexe Verlaufsform. Marx hat nie den Anspruch gehabt, eine Vorhersage über den Zeitpunkt des Eintretens von Krisen zu treffen. Er hat auf einen Widerspruch innerhalb der Kapitalakkumulation hingewiesen. Bei jeder Krise kann man feststellen, dass er zugrunde liegt, aber nie vorhersagen, ob und wann die Krise eintritt. Im Falle der Finanzkrise hat die Entscheidung eine Rolle gespielt, die Lehman Brothers Bank nicht zu stützen. Diese Entscheidung ist willkürlich. Der Grund für die Krise ist eine Überakkumulation. Kapital kann sich nicht mehr weiter verwerten, Entwertung steht an. Wann, in welchem Umfang und wo das passiert, ist u.a. der Entscheidung staatlicher Akteure geschuldet.

Forist "jsjs"

Z.B. wurde in der Politik die Frage gewälzt, welche Branchen in welchem Umfang gerettet werden sollen. Einige Banken ließ man pleite gehen, andere nicht. Der Autoindustrie hat der Staat mit der Abwrackprämie aktiv unter die Arme gegriffen, usw.

Welche Vorhersagen macht eigentlich die Mathematik? Die besteht doch nur aus einem Haufen Beweisen. Marx beweist, dass es sich beim Kapitalismus um Ausbeutung der Lohnarbeiter handelt. [[...]] [!!! Und in seinem nächsten Post:] Ein Satz wie der Pythagoras beschreibt einen allgemeinen Sachverhalt.

Forist "Gegenstandpunktleser"

Das ist sogar ein sehr treffendes Beispiel. Die gesamte Beweisführung des Satzes von Pythagoras funktioniert, ohne überhaupt irgendein Maßsystem einführen zu müssen, ja ohne überhaupt zählen zu können. Man muss nur im Geist Flächen aneinander schieben, um leicht herauszufinden, dass die Kathetenquadrate in der Summe flächengleich zum Hypothenusenquadrat sind. Heutzutage müssen Schüler den Satz des Pythagoras benutzen, um die jeweils unbekannte Seite eines rechtwinkligen Dreiecks auszurechnen. Da wird dann natürlich mit Einheiten gerechnet. Damit das geht, wurde ein System der Längenmaße eingeführt (Meter, Meile, Lichtjahr, etc.). Es hat aber keinen Mathematiker überrascht, dass in diesen Schülerrechnungen die Zahlen plötzlich alle wunderbar aufgehen - quasi als nachträgliche empirische Bestätigung der Theorie. Ihnen war ja vorher schon rein qualitativ klar, warum das so sein muss und auch nicht anders sein kann.

Wir können uns gerne darauf einigen, dass du einen Zollstock brauchst, um eine Theorie zu überprüfen. Ich hingegen benutze meinen Verstand.

Forist "jsjs"

Ein vielleicht noch besseres Beispiel ist der antike Beweis von Hippasos von Metapont, in welchem er nachwies, dass es Strecken gibt, die "inkommensurabel" sind, d.h. dass es kein noch so kleines Längenmaß geben kann, mit welchem man diese beiden Strecken gemeinsam messen kann, wobei hier mathematisch exaktes Messen gemeint ist, nicht bloß ein handwerklich oder physikalisch ausreichendes Messen. Modern gesprochen hat er damit die Existenz von "irrationalen Zahlen" bewiesen, also von solchen Dezimalzahlen, die niemals hinterm Komma enden, sich dort aber auch niemals periodisch wiederholen. Das ist nicht bloß ein mathematisches Ergebnis unter vielen in dieser Wissenschaft, sondern sein Beweisgang läutet im Grunde die Geburtsstunde der platonischen (also modernen) Mathematik ein. Damit wurde die Beweisführung zum Maß aller Dinge erhoben. Mathematische Beweise gab es zwar auch schon vorher einige, etwa bei Thales und Pythagoras (Satz des Thales, Strahlensätze, Satz des Pythagoras, etc.), aber es gab eine Zäsur, eine echte Neuerung in der Wissenschaft: Man hatte nun Beweise gefunden, um mit wissenschaftlicher Gewissheit über Dinge sprechen zu können, die sich sinnlich nicht erfassen lassen. (In etwa die gleiche Epoche fällt auch die Einsicht, dass es unendlich viele Primzahlen geben muss. Auch sinnlich nicht erfassbar, nur logisch herleitbar.) Der über die Methode der geometrischen Wechselwegnahme geführte Beweis des Hippasos ist rein qualitativ, bedarf keiner einzigen Rechnungen und besagt, dass es also Dinge gibt, die wir aus sehr prinzipiellen Gründen nicht messen können.

"Rimaan" zitiert in einem seiner Posts den Physiker Werner Heisenberg.7 Der naturwissenschaftlich vorbelastete Leser weiß über Heisenberg, wenn er auch sonst nichts weiter über ihn weiß, dass er vor allem für seine berühmte "Unschärferelation" bekannt ist. "Rimann" als Mathematiker müsste davon jedenfalls gehört haben. Diese theoretisch hergeleitete Behauptung erteilt einer Messgenauigkeit in der Physik über einen gewissen Grad an Präzision hinaus eine Absage. Man kann bestimmte Eigenschaften eines Teilchens, ebenfalls aus sehr prinzipiellen Gründen, nicht vorhersagen, weil man durch die Messung dieser Eigenschaften sie selbst verfälscht.

All diese mathematischen und physikalischen Beispiele erscheinen wie Abwege vom Kern der eigentlichen Diskussion, sollen jedoch nur noch einmal vor Augen führen: Es ist eben nicht so, dass "Wissenschaftlichkeit einer Theorie" automatisch bedeutet, dass man mit ihr "messen", "rechnen" und quantitativ exakt "vorhersagen" kann. Sondern im Gegenteil, diese Beispiele zeigen, dass es umgekehrt das Resultat von Wissenschaft sein kann, zu beweisen, dass genau dies nicht möglich ist. Solche Aussagen sind zudem nicht nur bloß Randerscheinungen einer Theorie, sondern ihre zentralen Elemente. Mathematik ohne die Entdeckung des Hippasos und den darauf aufbauenden Überlegungen von Archytas, Platon, Aristoteles, etc. wäre ihrem Begriff nach vermutlich etwas völlig anderes als das, was sie heute ist, mit direkter Folge für die abendländische Philosophie und Wissenschaftstheorie. Und auch die Teilchenphysik wäre ohne die Heisenbergsche Unschärferelation wohl nicht die Physik, die wir heute kennen.

Athener: "Außerdem gibt es noch andere diesen verwandte Probleme, bei denen viele Irrtümer in uns entstehen, die mit jenen Irrtümern verschwistert sind."
Kleinias von Tarent: "Welche Probleme denn?"
Athener: "Auf welchem Naturgesetz die gegenseitige Messbarkeit und Nichtmessbarkeit beruht! Denn das muss man prüfen und unterscheiden. Oder man bleibt ein ganz armseliger Tropf."

Platon

c) Marx falsch, weil ohne Fundament

Oben war bereits die Rede von "Axiomen". Wozu braucht es diese überhaupt?

Weil jede Theorie irgendwo anfangen muss. […] Was Marxens Axiome wären, ist eine sehr gute Frage. Eigentlich wäre das der Job der Marxisten, genau das herauszuarbeiten, um seine Theorie klarer und auch mächtiger in der Anwendung zu machen, aber könnte natürlich auch dazu führen, dass sie widerlegt wird.

Forist "Rimaan"

Und an anderer Stelle:

Keine Theorie kommt ohne Axiome aus. Nur baut Marx seine Theorie eben nicht wie ein Mathematiker auf, was es schwerer macht, die Axiome zu erkennen und zu analysieren.

Forist "Rimaan"

Was der Forist "Rimaan" also bei Marx vermisst, ist ein klarer Anfangspunkt seiner Theorieentfaltung. Damit er die Marxsche Theorie in die Arme schließen kann, wünscht er sich für sie ein wissenschaftstheoretisches Feature, welches er aus der Mathematik bereits zurecht zu lieben gelernt hat. Sie soll eben mit einem sorgfältig ausgetüfteltem Satz von eindeutigen Grundaussagen (Axiomen) beginnen. An diesem wissenschaftstheoretischen Anspruch ist m.E. erst einmal nichts per se Verwerfliches.

Doch schauen wir näher hin: Um seinen Diskussionspartner "jsjs" von der Notwendigkeit einer strengen Axiomatik zu überzeugen, verweist er auf ein populäres Beispiel der höheren Mathematik, nämlich der Überwindung der sogenannten "naiven Mengenlehre" nach Cantor, die wegen ihrer begrifflichen Unschärfe nachweislich anfällig für zahlreiche Paradoxa ist, zugunsten einer "axiomatisierten Mengenlehre" nach Zermelo und Fraenkel, welche diese beanstandeten Mängel der Unschärfe nicht mehr enthält. Während die erste Variante die Definition einer "Menge" noch in Alltagssprache formuliert, beruht die Definition in der zweiten Variante bereits auf einem prädikatenlogischen Kalkül und ist hoch formal.8 Mathematische Objekte, die als "Mengen" anerkannt werden wollen, müssen demnach 9 bzw. 10 Axiome erfüllen. D.h., um zu kapieren, was eine Menge ist, muss man 9 bzw. 10 hochformalisierte Elementaraussagen als gültig absegnen. Ob nun 9 oder 10, hängt davon ab, wie man zum Begriff der Unendlichkeit steht. Hat man es nur mit endlich großen Mengen zu tun, kann man sich das letzte Axiom sparen. Dieses braucht man nur, wenn man es auch mit unendlich großen Mengen zu tun bekommt, was in der Mathematik jedoch laufend geschieht. Die Unendlichkeit ist ein extrem nützliches Hilfsmittel, um Resultate aus dem Bereich des Endliches zu beweisen, und ist insofern kein leicht verzichtbares Instrument9, welches man einfach so als Ideologie, also als ein bloßes Wahnkonstrukt, abtun könnte.

"Rimaan" zieht jetzt die Analogie: Damit also Marxisten nicht denselben Fehler von Cantor wiederholen, sollen sie ihre Grundbegriffe ebenfalls ausreichend präzise formulieren. Aber genau das ist der Punkt, an dem man "Rimaans" Einwand zurückweisen muss. Was ist denn ausreichend präzise? Der Übergang von Cantor zu Zermelo geschah jedenfalls nicht ohne Anlass. Erst wurde die Unzulänglichkeit der bisherigen Sprachregelung nachgewiesen, es wurden verwirrende Paradoxa gefunden, und erst dann wurde diese für den Zweck, dem sie dienen sollte, hinlänglich präzisiert. Nicht stehen also Marxisten in der Pflicht, Axiome für ihre Theorie herausarbeiten zu müssen, sondern es müssen umgekehrt ihre Kritiker nachweisen, wo ihre Begriffe unzulänglich sind und deshalb zu Problemen bei der Begriffsbildung (z.B. Paradoxa) führen. Andernfalls wäre das ja in etwas so, als würde man zu jemandem sagen: "Kritisiere dich bitte mal selbst, aber ich weiß nicht wofür. Das musst du bitte selbst herausfinden." Kenner der Marxschen Theorie machen ohnehin nichts anderes, als den lieben langen Tag ihre eigenen Begriffe zu reflektieren. Das machen im Grunde alle Theoretiker ihrer jeweiligen Theorie. Übrigens, bevor Cantor der Mangel seiner Theorie nachgewiesen werden konnte, war sie im Kreis jener wenigen Mathematiker, die sich für sie interessierten, ein unhinterfragter Standard. Und genauso muss man dann auch Marx vorerst behandeln, solange man keine konkreteren Einwände hat.

Ich schätze, Sie haben recht. Marx Theorie ist wohl keine Theorie im naturwissenschaftlichen Sinne, eher eine Mischung aus Beobachtung und Schlüssen, die man teilen kann oder auch nicht.

Forist "Rimaan"

Man muss die eigenen Zweifel aber auch konkret begründen können, sonst sind sie keine.

Ich finde sie einfach zu unklar formuliert [!!! An welcher Stelle? AdA], dass ich je viel daraus ziehen konnte.

Forist "Rimann"

Wenn ich den Zusammenhang zwischen dem Mehrwertinteresse des Kapitals und dem Einkommensinteresse des Proletariats benenne, und aufdrösele, wie sie miteinander verstrickt sind, treibe ich dann keine Wissenschaft? Ist an solchen Ausführungen etwas unklar, dass es gleich einer Axiomatik bedarf? Braucht es darüber hinaus wirklich noch eine Rechnung, welche die Aussage noch glaubhafter macht? Falls ja, dann schaut man sich halt den Kontoauszug des betroffenen Lohnabhängigen an. Dann ergibt sich die gesuchte Rechnung unmittelbar von selbst.

Ich schrieb im zweiten Teil meiner Artikelserie:

"Es ist nicht bloß Pedanterie, sondern macht schon einen großen Unterschied, welche Wertlehre die korrekte ist. Folgt man der marxschen, so mündet dies letztlich in einem vernichtenden Urteil über diese Gesellschaft, nämlich dass sie eine unreformierbare Ausbeutungsgesellschaft ist, die notwendig Elend produziert. In diesem Sinne kann man den Kapitalismus beim besten Willen nicht so abändern, dass die Ausbeutung zum Verschwinden gebracht werden könnte."

Dies wurde so pariert:

Hier gilt das, was oben über Mathematik steht: Jede Schlussfolgerung braucht gewisse Definitionen, Prämissen, Axiome, kurz Voraussetzungen. Und die kann man willkürlich so festlegen, dass immer das "richtige" Ergebnis rauskommt.

Forist "Nützy"

Ja, das kann man in der Tat. Die VWL demonstriert dies regelmäßig eindrucksvoll und Marxisten haben es ihr zu Genüge nachgewiesen. Umgekehrt muss man aber, wenn man solche Behauptungen in die Welt hinausposaunt, auch bitte schön liefern und genau aufschlüsseln, wo Marx sich dieses unredlichen Manövers bedient. VWLer sind sich des missbräuchlichen Gebrauchs der Mathematik zum Zwecke der Legitimierung politischer Anliegen durchaus selbst bewusst. Sie tragen diesen Streit im Rahmen einer eigenen Methodendebatte aus. Sie hüllen ihre Theorien sehr wohl in Axiome, um diesen so den Glanz echter Wissenschaft zu verleihen. Ihre Axiome sind halt Quatsch, das wissen sie auch selbst, aber sie relativieren den Fehler, indem sie z.B. ihre theoretischen Resultate viel stärker betonen als die Axiome zu problematisieren, auf denen sie fußen. Solche wissenschaftlichen Leistungen können hochkomplex sein, da können in die mathematische Beweisführung zum Teil Jahre an Denkarbeit eingeflossen sein, aber wenn sie am Ende nichts über die Wirklichkeit der Welt sagen, weil das Theorieschloss von Anfang an auf Sand gebaut ist, sind sie wissenschaftstheoretisch betrachtet nicht besser als das alltagsbürgerliche Bauchgefühl, und das irrt an vielen Stellen. Politisch betrachtet taugen sie jedoch sehr viel. Jeder Politiker, der sein Projekt durchsetzen will (z.B. Mindestlohn, Verlängerung der Ladenöffnungszeiten, Subventionen, Senkung der Steuern und sozialen Leistungen, etc.), verweist einfach auf eine Studie oder einen Gutachter, der seiner Gesinnung am nächsten steht und diese mit einem mathematischen Modell theoretisch untermauert.

Augustus de Morgan10:

Es gibt einen Fehler, auf den manche verfallen. Sie haben damit andere getäuscht und vielleicht auch sich selbst, indem sie falsche Schlussfolgerungen in ein, wie sie es nennen, mathematisches Gewand kleiden.

Mathematik, missbräuchlich angewandt, ist ein Täuschungsmittel, eine manipulative Methode, die Objektivität vorgaukeln soll.11 Im Gegensatz zu anderen Täuschungsmitteln präsentiert sie mit sich selbst gleichzeitig auch das Gegenmittel. Will sagen: Wenn man von jemandem angelogen wird, wird man unter Umständen nie die Möglichkeit haben, zu erfahren, dass es so ist. D.h., wenn jemand ein Faktum verdreht, muss man halt dieses Faktum kennen. Und wenn man nicht weiß, wo es zu finden ist, oder wenn es sogar prinzipiell unauffindbar ist, weil es z.B. in der Vergangenheit liegt, dann muss man es halt glauben oder auch nicht, um seine entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen.12 Wenn aber jemand ein mathematisches Argument, oder grundsätzlich eine logische Beweisführung, eine Ableitung (s.o.), präsentiert, dann hat man alles in der Hand, was es braucht, um die Behauptung zu überprüfen. Sie lebt nicht von Fakten, die man deshalb auch nicht abgleichen muss. Man kann jeden einzelnen Gedankengang nachvollziehen, an jedem Schritt der Beweisführung innehalten und sie von allen Seiten attackieren, um sie auf ihre Hieb- und Stichfestigkeit hin zu untersuchen13:

Mathematik ist eine basisdemokratische Wissenschaft. Jeder kann eine logische Argumentation nachvollziehen.

Albrecht Beutelspacher

In der Mathematik gibt es keine Autoritäten. Das einzige Argument für die Wahrheit ist der Beweis.

Kazimierz Urbanik

Und ich betone hiermit ausdrücklich, dass weder Pater Kino noch irgendein anderer Mathematiker, und sei es Ptolemäus höchstselbst, irgendwelche Dogmen aufstellen kann in dieser Wissenschaft, denn Autorität hat darin nicht den geringsten Platz, sondern allein der Beweis.

Carlos de Sigüenza y Góngora

Ein bekannte Methode, die eigenen fehlerhafte mathematische Beweisführungen wie man sie aus der VWL kennt (vgl. Einwand 2g), zu relativeren, und somit doch als irgendwie richtig darzustellen, besteht darin, stets darauf zu verweisen, dass ein (mathematisches) Modell der Wirklichkeit ja nie die Wirklichkeit selbst, sondern nur unser geistiges Bild von ihr ist, dass es also immer bloß eine Annäherung an die Wahrheit14 sein kann, folglich unser Denken über sie notwendig stets mit einem Makel behaftet sein muss. Nach dem Motto: Die Realität ist zu komplex, man müsse halt irgendwo Abstriche machen. Wo das geschieht, entscheiden sie sehr kalkuliert ganz nach eigenem Gusto, sprich nach eigener Beweisabsicht.

Theorien sind [...] formale Spiele, die man nicht mit der Realität verwechseln sollte. Selbst die genausten und besten Theorien wie die Quantenmechanik sind nur eine Näherung an die Realität.

Forist "Rimaan"

Immerhin wird nicht die Existenz von Wahrheit an sich bestritten, sondern nur auf die Unmöglichkeit verwiesen, ihr beizukommen. Das ist schon mal ein Fortschritt gegenüber Gepflogenheiten "postmoderner" Philosophie. "Rimaan" möge aber über folgende Frage mal ein paar Minuten lang nachdenken: Wie gut ist denn überhaupt die Näherung der Quantenmechanik an die Realität? Wo gibt es Abweichungen? Wie stark sind sie? Was sind die Kriterien und Methoden, dies zu ermitteln?

Dort, wo die Quantenmechanik umstritten ist, gibt es handfeste Gründe, welche die Physiker von Kollegen zu Kollegen sich untereinander vorlegen. Das ist nicht bloß grundloser Zweifel. Die zermartern sich in jahrzehntelangen Debatten das Hirn daran, jedenfalls soweit ich das als Außenstehender von der Seitenlinie aus mitbekomme.

Umgekehrt: Dort, wo die Quantenmechanik komplett unumstritten ist, wird sie ausgiebig und mit unzweifelhaftem Erfolg von allen Parteien benutzt, z.B. in der Mikroelektronik. Solange man keine bessere Theorie hat, arbeitet man eben mit der besten, die gerade vorzufinden ist. Solche Debatten gab es übrigens auch für die Relativitätstheorie, gibt es vielleicht in den Nischen des physikalischen Forschungsbetriebs sogar immer noch, ich weiß es nicht, bin kein Physiker. Jedenfalls würde ich mich ohne Kenntnis der Materie nicht zu Sätze folgender Art hinreißen lassen:

Die Relativitätstheorie hatte in der Sowjetunion anfangs einen schweren Stand. Meines Wissens wurde sie sogar zeitweise verboten. So erging es auch anderen "bürgerlichen Wissenschaftlern". Nur mal so als kleine Anmerkung, welcher strahlenden Zukunft wir in einer marxistischen Kommandowirtschaft entgegen treten würden.

Forist "Nützy"

Um "meines Wissens" sagen zu können, muss man über den realen Sachverhalte in der Wirklichkeit rein gar nichts wissen. Man kann etwas behaupten, und damit hat sich die Sache auch schon erledigt. Und ist das getan, kann man diesen selbst ausgedachten Befund direkt verallgemeinern, erst auf "andere bürgerliche Wissenschaften", dann auf die "marxistische Kommandowirtschaft", als würden die inhaltlich irgendwie miteinander zusammenhängen.

Ob es vielleicht, wenn es sich denn wie von "Nützy" behauptet, genauso zugetragen hat, ob man wirklich von "Verbot" sprechen kann oder bloß keine Mittel für "Lehrstühle" bewilligt wurden, ob dies auf wissenschaftlichen Einwänden gegen die Relativitätstheorie seitens der Fachleute beruhte, vielleicht auch nicht nur in der UdSSR, sondern unter den Physikern weltweit, welcher konkreten Art diese Einwände waren, und was dann schließlich zu einem allgemeinen Umdenken geführt haben mag - das alles weiß "Nützy" nicht und muss er auch letztlich gar nicht wissen, um mit Storys solcher Art ein Urteil zu verbreiten, welches er ohnehin schon hat: Da drüben herrschte Unfreiheit! Dafür ist ihm jedes noch so beliebige Belegmaterial recht. Das ist Framing, gehüllt in wissenschaftsfreundliches Bedenkentragen. Als ob es ihm um Wissenschaft ginge. Solange Einstein noch nicht die Newtonsche Mechanik zum Spezialfall seiner Relativitätstheorie erklärt hatte, haben alle Himmelsmechaniker unter den Astronomen (z.B. Laplace, Lagrange, Euler etc.) mit Newtons Methoden gerechnet, vorher mit den Methoden von Kopernikus und Kepler und davor mit denen von Aryabatha, Brahmagupta, Ptolemäus, Nasir Ad Din At Tusi, Al Kashi, Guo Shoujing, Tycho Brahe, etc. - je nach Weltregion, Epoche und astronomischer Schule -, davor nach Eudoxos und Aristarchos, davor und daneben nach den Methoden der Maya und der Babylonier, die z.B. schon Planetenbahnen durch lineare Interpolation und wohl auch einige Sonnenfinsternisse vorausberechnen konnten usw.

All ihre Resultate wurden durch das Finden einer jeweils besseren Theorie modifiziert und in die fortentwickelte Variante eingepflegt. Man weise Marx also zunächst seine Fehler nach, und dann schauen wir, wie wir die Theorie modifizieren müssen und was sich unter dem Eindruck einer neuen Theorie von seine bisherigen Ergebnissen noch retten lässt, anstatt alles auf einmal zu verwerfen. So geht Wissenschaft in der Praxis. Die vorgebrachte Kritik von "Rimaan" will im Hegelschen Dreischritt "These → Antithese → Synthese", ganz ohne Angabe von Gründen den zweiten Schritt einfach überspringen. So einfach hat sich das Kopernikus aber nicht gemacht, als er unser Weltbild revolutionierte. Der musste schon ordentlich abliefern, um überzeugend zu sein. Und auch Marx hat einen ganzen Katalog an gewaltigen Einwänden gegen das bis dato herrschende Wirtschaftsverständnis vorgelegt und hat dadurch unser Weltbild nicht minder erschüttert.

d) Marx falsch, weil jemand anderes anderer Meinung ist

Auf eine Unart der Diskussionsführung würde ich gern hinweisen, weil sie im Forum nahezu pandemisches Ausmaß annimmt. Es ist das Lies-mal-hier-Argument. Dann werden unvermittelt einfach irgendwelche Listen mit Links gepostet, die angeblich alle den eigenen Standpunkt unterstreichen. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass die Linkposter noch nicht einmal selbst gelesen haben, was sie da als Argument für ihre eigene Sache vorbringen. So zum Beispiel bei der Tulpenmanie, auf die gleich mehrere Foristen mit dem entsprechenden Wikipedia-Link verwiesen haben. Ich selbst habe meine Gegenüberlegungen ebenfalls allein auf den Daten besagter Wikipedia-Seite erarbeitet. Das hätten jene Foristen aber auch selbst schaffen können, wenn sie sich nur die entsprechende Mühe gemacht hätten, sich in das Problem einzudenken.

Ich habe nichts dagegen, dass Links gepostet werden. Man muss nicht alles selbst ausführen, wenn einer schon die Vorarbeit geleistet hat. Aber man sollte doch auch ein wenig herausarbeiten, worauf man jetzt beim Lesen überhaupt achten soll, auf welche Abschnitte man sich beschränken darf. Oder ist etwa verlangt, dass man eine gesamte PDF im Umfang von 300 Seiten lesen muss, um den einen bestimmten Punkt widerlegt zu bekommen?15 Kann sein, dass die jeweilige Schrift von solch zentraler Bedeutung ist, dass ihre Lektüre sich wirklich lohnt, aber dann muss dies auch entsprechend rechtfertigt werden, und da reicht nicht, dass man die gut findet. Da müssen schon paar Argumente zitiert werden oder eine Inhaltsdarstellung, was zu erwarten ist. Macht mal bitte ein bisschen mehr Werbung für eure Links. Vielleicht einen kleinen Abriss über den Inhalt verfassen oder paar Argumente hervorheben, wenigstens ein paar Zitate, wenn man nicht selbst tippen möchte, an denen man dann hoffentlich erkennt, inwiefern der jeweils gegebene Link eine Für- oder eine Gegenrede ist für das Vorgebrachte. Die Minimalvoraussetzung ist es aber, die Links zumindest mit Überschriften zu versehen. Ohne all diese Vorleistungen reduziert sich die Beweisführung auf das Verweisen auf irgendwelche (wissenschaftlichen) Autoritäten. Das ist kein Argumentieren mehr, sondern ein Flächenbombardement mit ganzen Linksammlungen, nach dem Motto: "Hier, lies mal meine Bibliothek, dann weißt du Bescheid wie ich, ein zufälliger anonymer Mensch aus dem Internet, überhaupt so ticke." Das ist unzumutbar.

Wer bei einem Streitgespräch auf eine Autorität verweist, benutzt nicht seine Intelligenz, sondern bloß sein Gedächtnis.

Leonardo da Vinci

Da etliche von euch sich schon fertige Linksammlungen zurecht gelegt haben, die sie immer wieder auftischen und die, wie ich annehmen darf, in einer separaten Textdatei thematisch vorsortiert vorliegen, ist es ja vermutlich keine große Arbeit, diese Links noch nachträglich mit einem Default-Text aufzuhübschen und bei Bedarf an das jeweilige Gespräch geringfügig anzupassen.

It leaves a question of method. Not exactly urgent, but obscurely pressing.

Nick Land