"Sie machen den Leuten Angst"

Kloster Mar Saba in der palästinensischen Wüste. Bild: Peter Schäfer

Auswirkungen der israelischen Besatzung auf Tourismus in Palästina

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Interview mit Rafat Shomali, christlicher Palästinenser aus Beit Sahour. Er führt seit über 15 Jahren internationale Reisegruppen durch Bethlehem und ist heute Inhaber des Reisebüros Peace by Piece.

Der Blick auf Israel/Palästina ist in der Bundesrepublik Deutschland durch die Geschichte von Antisemitismus und Judenvernichtung geprägt. Das führt dazu, dass nicht nur Deutsche, sondern auch Palästinenser und jüdische Israelis immer wieder pauschal delegitimiert werden, wenn sie die israelische Besatzungspolitik oder Diskriminierung palästinensischer Israelis kritisieren, selbst wenn sie sich dabei auf die Menschenrechte und das Völkerrecht beziehen.

Dies trifft in den letzten Jahren in besonderem Maße auf die BDS-Kampagne zu. Diese fordert Boykott und Sanktionen gegen Israel, bis das Land Resolutionen der Vereinten Nationen hinsichtlich einer Zwei-Staaten-Regelung umsetzt. Die Boykottforderung richtet sich auch gegen israelische Künstler und gegen aus staatlichen israelischen Mitteln finanzierte Kulturveranstaltungen.

Der Bundestag, viele Landtage und Stadträte haben beschlossen, BDS sei antisemitisch und dürfe nicht mit öffentlichen Geldern, Räumen, etc. unterstützt werden. In Folge müssen Veranstaltungen zum Thema Palästina/Israel oft abgesagt werden, weil bereits zugesagte Räume entzogen werden - aus Angst von Vermietern, öffentliche finanzielle Unterstützung zu verlieren oder selbst in die Kritik zu geraten.

Zugleich setzt Israel seit über 50 Jahren militärische und administrative Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung in Westjordanland und Gazastreifen um, die in ihrer Wirkung mit einem umfassenden Boykott und Sanktionen vergleichbar sind. Dies führt in Deutschland jedoch nicht zu einer entsprechenden Ausgrenzung.

Mit einer Reihe von Interviews thematisieren wir die Auswirkungen entsprechender israelischer Politik in verschiedenen Bereichen, zuletzt auf die palästinensische Wirtschaft (Es geht schon lange um Annexion) sowie Kunst und Kultur (Die ganze Odyssee ist absurd).

Israelische Sperrmauer um Bethlehem. Bild: Peter Schäfer

Bethlehem ist für christliche Menschen aus aller Welt ein zentraler Ort, den auch viele besuchen. Was bedeutet dieser Tourismus für Bethlehem?

Rafat Shomali: Wirtschaftlich gesprochen ist Tourismus die Haupteinkommensquelle für uns in Bethlehem und Beit Sahour. Auch für die vielen lokalen Betriebe, die die Souvenirläden beliefern. In Beit Sahour speziell empfangen wir häufig Gemeindegruppen, die bei palästinensischen Gastfamilien übernachten wollen. Und für die ist das ein hilfreiches Zusatzeinkommen.

Durch diese ökonomische Brille wird Tourismus global auch hauptsächlich gesehen. Für uns ist es aber mehr. Der Tourismus ermöglicht uns nämlich auch, Gehör für unsere Anliegen zu finden. Wir leben unter israelischer Militärbesatzung und in den internationalen Medien werden wir oft sehr einseitig dargestellt. Deshalb ist Tourismus für uns auch eine Möglichkeit, unsere Sicht direkt zu vermitteln.

Sehen Sie Auswirkungen der israelischen Besatzung auf die Anzahl der Touristen in Bethlehem?

Rafat Shomali: Der Flughafen und unsere Grenzübergänge, auch die in Richtung Jordanien, sind unter israelischer Kontrolle. Wenn die Menschen also ankommen, werden sie über den Grund ihres Besuchs befragt, und sie müssten dann eigentlich sagen, dass sie Orte in Israel besuchen wollen. Wenn sie nämlich sagen, dass sie nach Palästina wollen, könnten sie Probleme bekommen. Viele wurden an der Grenze abgewiesen aus dem einfachen Grund, dass sie zu uns kommen wollten. Aber viele Menschen wollen eben nicht lügen und sagen, dass sie über ein palästinensisches Reisebüro nach Bethlehem und vielleicht sogar ehrenamtlich arbeiten wollen. Es folgt dann mindestens eine gründliche Befragung, oft eine Untersuchung, und auf viele wirkt das abschreckend.

Wenn sie dann in eine palästinensische Stadt kommen, sehen sie die großen, roten israelischen Schilder, die sagen, dass es gefährlich sei, zu uns zu kommen. Wenn man also zum ersten Mal hier ist und nicht viel weiß, hat man Angst. Generell entmenschlichen sie uns und schüchtern die Leute ein.

Generell sehen wir einen Rückgang der touristischen Übernachtungen. In diesem Kontext sind wir also abhängig von Gästen, die mehr als einmal kommen. Denn die meisten halten sich bei ihrem ersten Besuch, wenn sie mit einer israelischen Agentur kommen, nur zwei, drei Stunden in Bethlehem auf. Sie gehen durch die Geburtskirche, sehen vielleicht noch einen der Souvenirläden und fahren wieder weg. Das heißt, ein Tourist kostet uns mehr, als wir an ihm verdienen. Sie nutzen unsere Infrastruktur, geben aber kein Geld aus.

Es kommen viele solcher Gruppen. Sie bitten dann auch darum, palästinensische Christen zu treffen oder zusammen mit einer einheimischen Gemeinde zu beten. Sie merken, selbst wenn sie nur kurz hier sind, dass wir freundliche Menschen sind und viele wollen dann für einen längeren Aufenthalt wieder kommen. Ich betreue zum Beispiel eine baptistische Gruppe. Sie waren letztens schon zum dritten Mal hier und haben zuletzt beim Tent of Nations mitgearbeitet. Es ist ein langsamer Prozess, aber die Menschen ändern ihre Sichtweise.

Israel verbietet seinen Staatsbürgern den Zutritt zu palästinensischen Städten im Westjordanland (Zone A). Bild: Peter Schäfer

"Israel nutzt seine Kontrolle über das Wasser gegen uns"

Gibt es Auswirkungen der israelischen Besatzung auf die touristische Infrastruktur generell?

Rafat Shomali: Ja, aber die betreffen uns alle. Zugang zu Wasser zum Beispiel. Wenn jemand ein neues Hotel bauen will, muss das mitgedacht werden. Die Menge unserer Wasserzuweisungen durch Israel ist dieselbe wie vor 15 Jahren, obwohl die Bevölkerung gewachsen ist. Wir müssen also unser eigenes Wasser, also das Wasser unter unseren Füßen, von Israel kaufen. Im Oslo-Abkommen wurde dafür eine Obergrenze festgelegt. Oft kommt also nichts aus der Leitung. Das betrifft alle in Palästina und natürlich auch diejenigen, die uns besuchen.

Die israelische Siedlung Har Homa, hier nebenan, gebaut auf dem Land von Beit Sahour, hat immer und unlimitiert Zugang zu Wasser. Wir nicht. Israel nutzt seine Kontrolle über das Wasser gegen uns.

Ich nehme an, die meisten Pilger wollen mehrere christliche Orte besuchen, in Israel und in Palästina. Wie organisieren Sie das?

Rafat Shomali: Ja, die Gruppen wollen auch nach Nazareth und Tiberias, wofür wir israelische Busse nutzen müssen. Deshalb koordinieren wird das mit israelischen Reisebüros. Wir drängen aber darauf, dass sie in christlichen Hotels und Pensionen übernachten, um die christliche Wirtschaft zu unterstützen. Dasselbe gilt für Jerusalem, wo wir Palästinenser mit vielen Schwierigkeiten klar kommen müssen.

Das heißt, jede Reisegruppe bedeutet einen Kampf um Ressourcen, richtig? Je mehr Zeit eine Gruppe mit der anderen Agentur verbringt, desto weniger sind sie bei Ihnen.

Rafat Shomali: Es geht aber nicht nur um Geld. Es geht auch darum, das zu vermitteln, was gemeinhin "Nahostkonflikt" genannt wird. Viele israelische Reiseleitungen erwähnen uns nicht einmal, wir existieren für sie nicht. Und viele Gäste wissen sowieso nicht viel über uns, speziell die Gruppen aus den USA. Sie kommen, sie gehen, sie sehen die Mauer, wenn sie nach Bethlehem kommen. Ein israelischer Reiseleiter ignoriert das aber einfach.

Sicher ist, jeder Tourist besucht die Geburtskirche in Bethlehem. Im Jahr 2002 erzählte mir mein Vater über die damals stattfindende Belagerung Bethlehems. In der Kirche waren Menschen 40 Tage lang eingesperrt und unter Beschuss durch die israelische Armee. Diese Erfahrung führte letzten Endes dazu, dass meine Eltern das Land in Richtung Kanada verließen. Sie fühlten sich nicht mehr sicher hier. Das ist auch Teil unserer Geschichte. Wir leben unter einer brutalen Militärbesatzung und das sollte von den Reiseleitern nicht verschwiegen werden.

"Für mich ist Bethlehem aber kein mystischer Ort. Wir leben hier schon seit 2000 Jahren"

Und was machen Sie, wenn Sie Ihre Gruppen auf die israelische Seite begleiten?

Rafat Shomali: Ich habe meine Lizenz als Reiseführer seit 2007, habe aber noch nie die israelische Genehmigung zur Reisebegleitung nach Jerusalem und so weiter bekommen. Ein Anhang zum Oslo-Abkommen von 1994 besagt, dass nur 42 palästinensische Reiseführer diese Genehmigung bekommen sollen. Das Abkommen war ja eigentlich nur auf kurze Zeit angelegt und sollte ursprünglich ab 1999 in einen abschließenden Statusvertrag münden. Aber das passierte nie und die Israelis halten weiterhin an den Genehmigungen für nur 42 palästinensische Reiseführer fest. Ein paar sind mittlerweile verstorben und nach einigem Hin und Her haben sie zugestimmt, diese Genehmigungen auf neue Kollegen zu übertragen.

Wir haben die Palästinensische Autonomiebehörde dazu aufgefordert zu reagieren und die Zahl der israelischen Reiseführer bei uns ebenfalls zu beschränken. An der Geburtskirche sehen Sie viele israelische Busse mit israelischen Reiseführern. Sie nehmen uns das Geschäft weg. Wenn das möglich ist, sollten sie wenigstens auch uns auf die andere Seite lassen.

Was sind Ihre Möglichkeiten, diese Forderungen durchzusetzen?

Rafat Shomali: Wir hatten schon mal so eine Vereinbarung, für ungefähr zehn Jahre. Das wurde aber 2010 gestoppt. Damals durften israelische Reisebusse nicht zu uns kommen. Wenn also eine Reisegruppe am israelischen Kontrollpunkt am Eingang zu Bethlehem ankam, stiegen sie aus dem Bus aus und gingen zu Fuß auf die andere Seite. Ein palästinensischer Reiseführer holte sie ab und brachte sie ans Ziel.

Sie kamen also zu Fuß durch den Kontrollpunkt und nahmen ihn somit auch wahr, auch wenn das nur eine kleine Kostprobe dessen ist, was palästinensische Arbeiter auf dem Weg nach Israel täglich durchmachen. Und sie nutzten natürlich palästinensische Busse und unterstützen die lokale Wirtschaft. Diese Firmen gingen nach 2010 natürlich Bankrott. Aber zuvor hatten wir alle Arbeit. Reisegruppen den ganzen Tag lang.

Warum wurde diese Vereinbarung gestoppt?

Rafat Shomali: Ich weiß es nicht. Vielleicht war es ein politischer Handel, vielleicht haben sie es einfach gemacht. Zugleich sagt Israel, dass ein Besuch israelischer Staatsbürger in palästinensischen Städten zu gefährlich ist. Offenbar gilt das nicht für israelische Reiseleitungen.

Von der Angstmache und der einseitigen Darstellung der palästinensischen Seite durch die israelischen Reiseagenturen haben mir deutsche Touristen auch schon erzählt.

Rafat Shomali: Ja, die Art und Weise, wie viele Touristen uns sehen, ärgert mich wirklich. Viele US-Amerikaner kommen und fragen mich, wann ich zum Christentum konvertiert bin. Meine Antwort ist, dass sie mal die Bibel lesen sollten, da steht drin, wann wir konvertiert sind. Sie denken, wir sind neu dabei.

Das Beste, das wir als palästinensische Reiseleiter tun können, ist die Verbindung zwischen Jesus, Land und Leuten herzustellen. Das biblische Hirtenfeld, das wir dann besuchen, gehörte vor langer Zeit einmal meiner Familie. Als Jugendliche hingen wir dort ab. Und die Leute wollen nicht nur Geschichten über tote Steine hören, sondern wollen was über die Lebendigen wissen, die einheimische christliche Gemeinde, die bis heute hier lebt.

Die Gegend ist für Muslime, Juden und Christen von großer Bedeutung. Viele sind deshalb davon überzeugt, dass das Grundproblem mit Israel und Palästina religiöser Natur ist.

Rafat Shomali: So bekommen sie das auch von den israelischen Reiseleitungen erklärt. Unser Problem ist aber nicht Religion, sondern die Besatzung. 1948 haben sie Menschen mit Lastwägen weggefahren. Die Idee heute ist noch dieselbe, nur die Mittel sind andere. Sie machen uns das Leben so schwer, dass wir von selbst gehen. Aber darüber sprechen israelische Reiseleitungen nicht, es ist auch nicht Teil ihres Lebens.

Manche Touristen bezeichnen sich selbst ja als Pilger. Sie wollen die Stellen besuchen, an denen Jesus war. Für mich ist Bethlehem aber kein mystischer Ort. Wir leben hier schon seit 2000 Jahren.