Keine Angst vor Corona-Toten!

Steigt die Anzahl der positiv auf Sars-Cov-2 Getesteten, dann steigt automatisch auch die Anzahl der scheinbar an Corona Gestorbenen - Ein Kommentar

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Der neue Lockdown wird mit steigenden Zahlen von positiv Getesteten, mit einer großen Angst vor vielen Corona-Toten und mit Berichten über viele Tote in anderen Ländern begründet und medial begleitet. Es ist dann die Rede von "Covid-Horrorzahlen" und von "zu zaghaftem Handeln" der Politik.

Beim Agieren mit der Anzahl der Toten wird allerdings ein statistisches Phänomen übersehen: Steigt die Anzahl der positiv auf Sars-Cov-2 Getesteten, dann steigt automatisch auch die Anzahl der scheinbar an Corona Gestorbenen. In Deutschland werden mittlerweile pro Woche 1,5 Mio. Sars-Cov-2-Tests durchgeführt, das sind etwa zehn Mal so viele wie im März. Davon sind derzeit 7,26% positiv - wobei das Robert-Koch-Institut (RKI) die Falsch-Positiv-Testungen und die Falsch-Negativ-Testungen nicht ausweist.

Bei einer derart großen Anzahl von Tests kann man (abgesehen von Falschtestungen) von einer halbwegs repräsentativen Abbildung der Bevölkerung sprechen. Anlass der Tests ist ja nicht mehr, dass jemand Symptome verspürt, sondern Testanlässe sind Kontakte zu positiv Getesteten, Ängste oder Verpflichtungen zu Tests, z.B. bei Reisen - wir haben also eine recht gutes Abbild der Bevölkerung.

Der Anteil der positiv Getesteten steigt wöchentlich. Ob dies eine Gefahr anzeigt ist unbekannt, denn hier liegt eine "Messung ohne Kalibrierung" vor: Es hat noch nie eine derartige Massentestung der Bevölkerung auf irgendeinen Grippevirus hin gegeben, so dass wir nicht wissen, ob das Ansteigen der Verbreitung von Grippeviren nicht völlig normal ist. Es ist gut denkbar, dass in jedem Herbst jeder Grippevirus einen solchen Zuwachs an Verbreitung in der Bevölkerung aufzeigt.

Wir werden und müssen Tote mit positiver Sars-CoV-2-Testung sehen

Wenn nun aber 7% der Bevölkerung Sars-CoV-2-positiv sind, dann müssen auch ungefähr 7% der Toten Sars-CoV-2-positiv sein. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Sterbende sich nicht anstecken können. Auch sie haben Kontakt zu anderen Menschen. In Deutschland sterben wöchentlich etwa 20.000 Menschen, wobei das Sterben sich in Wirklichkeit sehr ungleich auf das Jahr verteilt. 7% von 20.000 Menschen sind 1400 Menschen. In Deutschland sterben derzeit also jede Woche ungefähr 1400 Menschen, die Sars-CoV-2-positiv sind.

Diese Zahl ist völlig unabhängig davon, ob irgendeiner dieser Toten durch den Sars-Cov-2-Virus zu Schaden gekommen ist. In die Covid-19-Todesstatistik gelangt man nicht, indem man an oder mit Covid-19 stirbt. Man gelangt in diese Statistik, indem man stirbt und gleichzeitig positiv auf Sars-Cov-2 getestet wurde. Das Robert-Koch-Institut (RKI) spricht deshalb von "Todesfällen in Zusammenhang mit Covid-19-Erkrankungen", was unpräzise formuliert ist, weil das Vorhandensein des Sars-Cov-2-Virus ja oftmals gar nicht zu einer Covid-19-Erkrankung führt. Es wird überhaupt nicht die Anzahl der Covid-19-Kranken gezählt, sondern nur die Anzahl der Sars-Cov-2-Infizierten.

Zahlen sind nicht dazu da, unser Denken zu zementieren, sondern sie sollen uns bei der Strukturierung der Wirklichkeit helfen. Was im Zusammenhang mit Covid-19 als problematisch und Panik erzeugend erscheint, erscheint in einen anderen Zusammenhang gesetzt durchaus als sinnvoll. Die Zählung eines Grippe-Infizierten als Grippe-Toten stammt aus der herkömmlichen Grippe-Statistik. Im RKI gibt es eine dauerhafte Arbeitsgruppe zur Grippe. Sie schätzt permanent ab, wie viele Menschen "durch" Grippe sterben. Das dient dazu, bestimmte Hot Spots zu ermitteln, an denen lokale Quarantäne-Maßnahmen erfolgen müssen, und es dient der Festlegung, gegen welche Grippe-Erreger jeweils geimpft werden soll.

Bei der mathematischen Modellierung der Grippe-Toten steht man nun vor folgendem Problem: Man weiß nicht so richtig, woran Menschen sterben. Schließlich will man nicht jeden Toten obduzieren. Und bei Menschen, die an mehreren Krankheiten leiden, kann selbst durch eine Obduktion nur abgeschätzt werden, welchen Anteil am Sterben welche der Krankheiten hatte. Juristisch sagt man: X ist dann Todesursache, wenn der Mensch ohne X nicht gestorben wäre. Auch in diesem Sinne ist es sinnvoll, von mehreren Todesursachen gleichzeitig zu sprechen: Wenn jemand 5 Krankheiten hat, dann kann es sein, dass er nicht gestorben wäre, wenn es nur eine weniger gewesen wäre - und zwar egal welche der fünf.

Im Zusammenhang mit der normalen Grippe-Prävention ist die mathematische Modellierung eines mit Grippe Gestorbenen als an Grippe gestorben also sinnvoll im Sinne dessen, dass man das Problemfeld ja irgendwie pragmatisch abstecken muss. Man hat nur wenige Daten, aus denen man etwas über die aktuelle Verbreitung der verschiedenen Grippe-Viren in der Bevölkerung ableiten kann.

Neu im Zusammenhang mit Sars-Cov-2 ist nun aber, dass man gezielt und in exzessiver Quantität nach genau einem Virus sucht - und ihn eben dann auch massenhaft findet. Der pragmatisch sinnvolle Begriff der Grippe-Toten wird dabei zu dem "blinden" Begriff der Covid-19-Toten. Zahlen sind aber nicht dazu da, eine Politik der Angst zu legitimieren. Wenn eine Zahl wie "die im Zusammenhang mit Covid-19 Gestorbenen" nicht mehr dabei hilft, die Situation besser zu verstehen, dann sollte sie aus der politischen und administrativen Kommunikation eine Weile herausgenommen werden.

Die Angst vor dem bösen Bild

Im ersten Lockdown war das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Deutschland hatte pro Einwohner etwa doppelt so viele Intensivbetten wie zum Beispiel Italien oder Frankreich. Es sind mehr als 28.000, das sind 34 pro 100.000 Einwohner. Hinzu kommen zusätzlich über 12.000 Betten als freie Notfallreserven, die innerhalb einer Woche mobilisiert werden können.

Diese Zahlen sind recht abstrakt. Wenn man sie von Nahem ansieht, dann sieht man, in welch komfortablen Situation wir sind. Schauen wir beispielhaft auf eine Stadt wie Potsdam mit 180.000 Einwohnern und einer Versorgungsfunktion für das Umland. Potsdam hat rund 70 Intensivbetten, von denen noch nie mehr als 25 mit Covid-19-Patienten belegt waren. Das städtische Klinikum kann kurzfristig auf bis zu 128 Covid-Betten aufstocken.1 Unter italienischen Verhältnissen hätte Potsdam 35 Intensivbetten, und bereits bei 40 Intensiv-Patienten hätten wir Fernsehbilder von Patienten auf Klinikfluren - was die Hauptangst der deutschen Gesundheitspolitik zu sein scheint.

Von Nahem sehen auch die Tode weniger abstrakt aus: In Potsdam starben bis zum Frühjahr 47 mit Corona Infizierte. Davon haben sich 44 erst im Krankenhaus angesteckt. Von Nahem besehen hätte man also keine Maskenpflicht eingeführt, sondern man hätte Hygieneprobleme des Krankenhauses bearbeitet. Von Nahem besehen gab es im Herbst in Potsdam bislang einen "Corona-Toten". Das war ein 85-Jähriger, der positiv getestet wurde und eine Behandlung abgelehnt hat. Ein Lockdown erscheint unter diesen Umständen als wenig zielsichere Maßnahme.

Nun ist viel davon die Rede, dass zu wenig Personal zum Betreiben der Betten vorhanden ist und dass man deshalb einen Lockdown bräuchte. Diese Sichtweise ist erstaunlich statisch. Wenn wir wirklich in Not geraten, dann wird der Gesundheitsminister hoffentlich nicht darauf beharren, dass der gesetzlich vorgeschriebene Personalschlüssel eingehalten wird. Der Betriebsrat wird ausnahmsweise mehr Überstunden zulassen. Die Teilzeitangestellte wird ausnahmsweise Vollzeit arbeiten. Die berentete Krankenschwester wird nicht wie bislang sagen: "Ihr fahrt den Laden seit Jahren auf Verschleiß, ich helfe euch nicht bei der Umsetzung eurer miesen Personalpolitik."

Ebenso statisch ist die Wahrnehmung der medizinischen Praxis: Man weiß heute viel mehr als noch vor einem halben Jahr über die Behandlung Covid-19. Die Wahrnehmung der Gefahrenlage ist aber immer noch so, als ob wir über das unbekannte Dunkle sprechen.

Technokratische Allmachtsphantasien statt Lob des eigenen Handelns

Die etwas bizarre Weigerung von Politik und Öffentlichkeit, sich beruhigen zu lassen, hängt mit einem politischen Fehler des Frühsommers zusammen: Die Politik hat sich selbst zu wenig gefeiert. Eine Überlastung des Gesundheitssystems lag niemals vor. Deutschland hat die Covid-19-Grippe mit viel weniger Toten absolviert als die großen Grippewellen des vergangenen Jahrzehnts, wenn auch zu einem absonderlich hohen Preis. Statt sich nun aber auf die Schulter zu klopfen und diesen politischen Erfolg zu zelebrieren, führten Bund und Länder ein neues Ziel ein, nämlich den Sieg über den Virus. Dieser Sieg wurde zur Voraussetzung dafür erklärt, dass die Regierenden den Menschen ihr Einkommen und ihre politischen Rechte wieder zurückgeben. Die einschränkenden Maßnahmen sollten erst enden, wenn ein Impfstoff vorläge.

Dies ist nun eine klassische technokratische Allmachtsphantasie. Das Eintrocknen von Viren dauert Jahre. Die Ankündigung, dass wir unsere Rechte und Freiheiten erst wiederbekommen, wenn ein Impfstoff vorhanden ist, ist in einer Demokratie eine bislang nicht denkbare Unverschämtheit. Wir können unser politisches System nicht an den Zufall einer technischen Problemlösung hängen. Wir kennen so etwas bislang als politischen Traum: Sieg über die Armut, über den Hunger, über die Ungleichheit, über die Organisierte Kriminalität, über den Klimawandel, über den Zuzug von Fremden, über die Ablehnung des Zuzugs von Fremden usw.

Wenn solche Träume zur Voraussetzung von politischer und menschlicher Normalität erklärt werden, dann erzwingt man Lügen und Täuschungen: Wenn kein sicherer Impfstoff gefunden werden kann, dann wird man irgendeinen Impfstoff als sicher erklären müssen. Wenn man Orte nicht virenfrei bekommen kann, dann wird man Techniken einsetzen, um eine Suggestion von Virenfreiheit zu schaffen usw.

Diese technokratischen Allmachtsphantasien zeigen sich auch in der derzeitigen Kritik an den Gesundheitsämtern. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie nicht mehr alle Kontakte verfolgen können. Wieder hilft ein Blick vor Ort: In Potsdam gibt es derzeit etwa 100 bis 200 positiv Getestete, 900 Personen werden in Quarantäne gehalten. Es gibt in freiheitlichen Systemen keine Institution, die eine vollständige Kontaktverfolgung für so viele Personen sinnvoll leisten kann. Man kann das lediglich suggerieren. Man sollte den Gesundheitsämtern Raum für ihre Kernkompetenz geben, die darin besteht, lokale Infektions-Häufungspunkte zu identifizieren und dort Maßnahmen umzusetzen.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass die technokratischen Phantasien des Sieges über den Virus mit Bestrafungsstrukturen einher gehen. Es wird in vielen Bundesländern eine Maskenpflicht für Oberstufenschüler während des Unterrichts verordnet. Diese Maßnahme dient offensichtlich keinem Schutz, denn die Schüler sind an anderen Orten nah beieinander und es gibt auch auffällig wenige Ansteckungen in Klassenzimmern. Die Maskenpflicht im Unterricht ist eine Maßnahme der kollektiven Bestrafung. Die Jugendlichen werden dafür bestraft, dass einige von ihnen in großen Gruppen an öffentlichen Plätzen herumgelungert haben und bei Erwachsenen dadurch ein Gefühl von Superspreader-Partys hervorgerufen haben. Nachgewiesen wurde nie, dass eine Gefahr besteht, es geht nur um das Bauchgefühl von Erwachsenen gegenüber jugendlichem Verhalten.

Auch die Lokalschließungen und Beherbergungsverbote erscheinen nicht als Folgen von Erkenntnissen über Ansteckungswege, sondern wie das hilflose Strampeln einer Gruppe von Ertrinkenden. Allerdings ertrinken die Entscheidungsträger gerade nicht im vorhergesagten Meer der Toten, sondern im Strudel großer Zahlen, die sie nicht zu deuten wissen.

Es gibt tausende Viren und tausende Virologen, deren Karrieren daran hängen, dass sie Viren entdecken, die dann als gefährlich gelten. Wenn Regierende früher ihr Volk disziplinieren wollten, dann mussten sie mühsam Feinde aufbauen, gegen die man dann in Kriege ziehen konnte, um das Volk hinter sich zu versammeln. Künftig kann man jederzeit einfach einen beliebigen Virus aus dem Portfolio ziehen und diesem den Krieg erklären. Die Angst vor Toten scheint immer zu wirken. Momentan sieht es so aus, als ob dies eine sehr effiziente Herrschaftsstrategie wird.

Wolfram Meyerhöfer war 13 Jahre Professor für Mathematikdidaktik, zuletzt an der Universität Paderborn. Seit kurzem ist er Lehrer im Schulzentrum am Stern in Potsdam.