Das Madrider Wunder, das es nicht gibt

"Alle Aktiviten sind lebenswichtig, wenn Menschen davon leben." Proteste aus dem Gaststättengewerbe in Donostia/San Sebastian. Bild: Ralf Streck

Die Zahlen, die vor allem die Regionalregierung Madrid liefert, sind nur mit großer Vorsicht zu genießen, denn sie sind manipuliert und verzerrt

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Zunächst waren es rechte spanische Medien wie die konservative Tageszeitung El Mundo, die von einem "milagro" (Wunder) bei der Corona-Bekämpfung in Madrid geschrieben haben. Der Inhalt dieser Artikel wurde im deutschsprachigen Raum dann über die Deutsche Presseagentur dpa breit gestreut. Auch die konservative Welt titelte am Freitag: "Das 'Wunder von Madrid' - Wie die Infektionen trotz 'Highlife' sinken." Vorgeprescht war nach dem Artikel in El Mundo die Süddeutsche Zeitung (SZ), die sogar ein "spanisches Wunder" sehen will.

"Ende September, als die Corona-Lage anderswo noch relativ entspannt war, hatte die Region Madrid mit 813 Infektionen pro 100.000 Einwohnern binnen 14 Tagen noch die bei weitem schlechtesten Werte Westeuropas", schreibt zum Beispiel Die Welt. Korrekt gibt sie an, dass diese sogenannte 14-Tage-Inzidenz zuletzt nur noch 328 betrug. Die SZ hatte dagegen zuvor falsch behauptet, die 14-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von 14 Tagen, sei in Madrid sogar "niedriger als in Berlin". Das ist schlicht falsch, denn sie lag in Deutschland auch am Freitag mit 195 noch immer deutlich niedriger. Verglichen wurden zudem Äpfel mit Birnen, da das Robert Koch-Institut (RKI) nur eine 7-Tage-Inzidenz ausweist.

Die Artikel behaupten, dass in Madrid die Infektionszahlen angeblich deutlich gesenkt wurden, obwohl das öffentliche Leben "kaum eingeschränkt" worden sein soll. "Während in vielen anderen Städten Spaniens und Europas neben Gastronomiebetrieben auch Kultur- und Freizeiteinrichtungen teils völlig dicht sind, darf man in der spanischen Hauptstadt bis Mitternacht in Bars und Restaurants sitzen", heißt es im dpa-Bericht, der offensichtlich auch die Grundlage für den Bericht in der Welt war.

Sich aber vor allem auf die Inzidenz zu stützen, ist hochgradig bedenklich. Denn dieser Indikator kann über die Anzahl von Tests und die Art, wie man testet, leicht manipuliert werden. Telepolis hatte darüber im Sommer mehrmals berichtet. So wurde an dieser Stelle aufgezeigt, dass in Madrid zum Beispiel kaum getestet wurde, womit die Zahl künstlich tief gehalten wurde. Darauf fiel auch das Auswärtige Amt herein.

Es sprach Reisewarnungen für alle möglichen Regionen aus, die vernünftige Daten wie Katalonien, Navarra oder Aragon geliefert hatten, aber nicht für Madrid. Dort war die Lage längst unangenehm, wenn man sich die Zahl der Einlieferungen in Hospitäler und die Verlegungen auf Intensivstationen anschaute.

Die große Ausfahrt

Und wie hier vermutetet wurde, hat sich das Virus über die Urlauber im Sommer in ganz Spanien und in ganz Europa ausgebreitet. So hatte das Spektrum der Wissenschaft kürzlich getiteln: "Neue Variante von Sars-CoV-2 kam im Sommer aus Spanien." Eine Variante des Virus, das in Spanien entstanden sein soll, ist nun heute in Teilen Europas stark vertreten, weil die gelockerten Reise- und Kontaktbeschränkungen bei der Ausbreitung halfen. Sie sei über Touristen in etliche europäische Länder verteilt worden, berichtet die Zeitschrift in Bezug auf Wissenschaftler um Emma Hodcroft von der Universität Basel nun in einer vorab veröffentlichten Studie.

Dass Hotspots wie Madrid, in der im August erneut die "große Ausfahrt" beginnen konnte, nicht frühzeitig abgeriegelt wurden, dürfte daran einen wesentlichen Anteil gehabt haben. "Hunderttausende Madrider werden, etliche davon mit dem Virus im Gepäck ausströmen", stellte Telepolis Ende Juli fest. Und darüber wurde die neue Variante vermutlich breit verteilt. Ein Fehler aus dem Frühjahr wurde wiederholt.

Es war auch nicht schwer vorhersehbar, so hatte es Telepolis ebenfalls angekündigt, dass angesichts der absoluten Untätigkeit, welche die rechte Regionalregierung unter Isabel Díaz Ayuso lange an den Tag legte, die Hauptstadtregion zum Hotspot werden und über die Ausfahrt das Virus wieder in ganz Spanien außer Kontrolle geraten würde. Einige Wochen später wurde Madrid zur Coronavirus-Hauptstadt in Europa. Und damit kamen dann auch Maßnahmen, wie Maskenpflicht, nächtliche Ausgangssperren und Abriegelungen.

Ausgestorbene Straßen geschlossene Kneipen in Donostia/San Sebastian. Foto: Ralf Streck

Dass Teile der Hauptstadtregion längst unter Quarantäne gestellt worden waren, vor allem arme Städte und Stadtteile, das fällt in den Jubelartikeln ganz oder weitgehend unter den Tisch.

In diesen Artikeln wird völlig ignoriert, was investigative Journalisten längst aufgezeigt hatte, dass in Madrid nämlich die "Zahl von Neuinfektionen gefälscht" wird. Trickreich erwähnt man "tausende Fälle" nämlich zunächst nicht. Die werden erst im Laufe der kommenden Tage erst nachgemeldet, womit alle Angaben, die auf Test beruhen, massiv verzerrt werden. Die Zahl der Neuinfektionen an einem Tag könne sich im Laufe einer Woche sogar mehr als verdoppeln.

Aus angeblich 1.005 Neuinfektionen am 2. Oktober wurden im Laufe einer Woche real 2422. Noch krasser zeigte sich der 24. September. Von angeblich 828 verfünffachte sich die Zahl im Laufe der Zeit sogar auf 4.324! Dass seit fünf Wochen die Tests im Umfeld von Infizierten stark eingeschränkt wurden, weist auch darauf hin, dass man Infektionszahlen bewusst drücken will.

Ohnehin ist klar, dass es in Madrid an Nachverfolgung nicht nur mangelt, sondern dass sie eigentlich fast durch Abwesenheit glänzt, wie diverse Medien feststellen. Dass dieses Manko angeblich über viele Antigentests und "Test-Offensiven" aufgefangen werden kann, ist mehr als fraglich. Sogar die SZ stellt fest, dass "in den vergangenen Wochen die Zahl der PCR-Tests auf etwa ein Drittel heruntergefahren" und diese durch Antigentests ersetzt wurden. Die sollen, so schreibt auch die SZ, aber noch unsicherer sein, weshalb viele "asymptomatische Fälle übersehen" werden können.

Spanische Zahlen

Dass angeblich in Madrid massiv getestet wird, ist aber leider auch nur ein Märchen. Nach neuesten Angaben des Gesundheitsministeriums wurden in Madrid in der vergangenen Woche nur 57.000 PCR-Tests durchgeführt und 132.000 Antigentests. In Katalonien, von der Bevölkerungszahl her vergleichbar, waren es dagegen 180.000 PCR-Tests und zusätzlich 62.000 Antigentests.

Insgesamt hat Katalonien also 50.000 Tests mehr gemacht als Madrid und ist real bei Tests Spitzenreiter. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl dürfte das Baskenland am stärksten testen, dass nur etwa ein Drittel der Bevölkerung wie Katalonien oder Madrid hat, aber mehr als 91.000 Tests durchgeführt hat, fast ausschließlich PCR-Tests.

Deshalb ist die Feststellung im DPA-Text sehr merkwürdig, dass Madrid "Ende September fünf Millionen" Antigentests gekauft habe. Man sollte dann schon überprüfen, ob die tatsächlich auch eingesetzt werden, was nicht der Fall. Jedenfalls weist auch die Expertin Gloria Hernández Pezzi, Ex-Chefin Epidemiologischer Überwachungsdienst des Gesundheitsinstituts Carlos III, auf das "offensichtliche Zusammenfallen" der Tatsache hin, dass die Zahl festgestellter Infektionen dann in Madrid stark zurückgegangen ist, als die PCR-Tests massiv zurückgefahren wurden.

Mit ihr stimmen auch andere Experten überein. Daniel López-Acuña, ehemaliger Direktor der WHO für Gesundheits-Krisensituationen hält "das abrupte Abflachen der Kurve für sehr merkwürdig", da sie sich üblicherweise zunächst stabilisiere und dann langsam abfalle. Und der Epidemiologe Fernando García meint zusätzlich, dass ein PCR-Test genauer ist, die Antigentests weniger sensibel seien. Experten zweifeln also ebenfalls stark ein "Madrider Wunder" an.

Dass die Zahl der Corona-Toten am Donnerstag in Madrid auf 41 und damit auf den höchsten Wert in der zurückliegenden Woche gestiegen ist, weist ebenfalls in eine andere Richtung. Auch die Zahl der Neuinfizierten ist am Donnerstag gegenüber dem Vortag wieder auf fast 2.400 gestiegen. Jetzt könnte noch der Einwand kommen, dass die Todeszahl am Freitag wieder auf 20 zurückgegangen ist.

Allerdings ist die Zahl am Samstag wieder auf 34 angestiegen. Und die dürfte, wie immer an Wochenenden, nicht sonderlich real sein, da dann stets erst nicht alle Tote und Infizierte gemeldet werden, sondern viele Anfang der nächsten Woche nachgemeldet werden.

Beschäftigten im Madrider Gesundheitswesen macht allein Hoffnung, dass der Druck auf die Hospitäler etwas nachgelassen hat, die zum Teil wieder am Kollabieren waren. Dass wieder weniger Covid-Fälle in Krankenhäuser eingeliefert werden und die Zahl derer sinkt, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen, bestätigt auch ein glaubwürdiger Zusammenschluss von Ärzten aus 61 Madrider Krankenhäusern.

Dieser Zusammenschluss von Ärzten hatte Ende September aufgezeigt, wie die Madrider Regionalregierung ihre Zahlen zur Belegung der Intensivstationen schöngerechnet hat. Die Koalitionsregierung von Ayusos Volkspartei (PP) und der rechts-liberalen "Ciudadanos", die sich von der ultrarechten Vox stützen lässt, hatte damals behauptet, Intensivstationen seien nur zu 36 % ausgelastet. Real waren es 95 %, wie Telepolis mit Bezug auf den spanischen Professor an der renommierten Harvard-Universität Miguel Hernán berichtet hatte.

Denn auch hier zeigte Ayuso einen sehr kreativen Umgang mit Zahlen und Fakten. Ihre Regierung wertete plötzlich alle Betten als Intensivbetten, wenn ein Beatmungsgerät angeschlossen werden kann. Angesichts dieser Vorgänge hatte der Professor Hernán, der die spanische Zentralregierung im Frühjahr beraten hat, einen neuen "ernsthaften Gesundheitsnotstand" vorhergesagt, wie er sich dann auch gezeigt hat. Er forderte dabei auch alle Journalisten auf, Daten der Regionalregierung nicht mehr zu benutzen. Berücksichtigt wird das nicht, wie die Berichte von SZ, dpa und der Welt zeigen.

"Wenn du mich dichtmachst, zahlst du auch", Donostia/San Sebastian. Bild: Ralf Streck

Deutsche Medien gehen der rechten Propaganda der "Kastilischen Replik von Donald Trump" auf den Leim, wie zum Beispiel die Huffington Post sie nennt. Denn auch Ayuso nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, wirft aber anderen gerne Fake vor. Auch sie bemüht ebenfalls gerne hanebüchene "Argumente".

Auf Twitter gibt es schon einen eigenen Hashtag mit dem Titel "Ayusadas", was man etwas mit Ayuso-Dummheiten übersetzen kann. Diese Tage fiel sie zum Beispiel damit auf, dass sie behauptete "geimpft zu sein und Antikörper zu haben". Damit rechtfertigte sie die Extrawurst, trotz Kontakt mit einem Positiven nicht in die übliche Quarantäne zu müssen.