Türkei: Billig-Urlaub ist gefährlich

Kommentar: Das Auswärtige Amt warnt seit Monaten vor regierungskritischen Äußerungen in der Türkei. Nun hat es einen deutschen Zahnarzt aus Wuppertal erwischt

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Eigentlich wollte sich der herzkranke 63-jährige Kristian B. in dem beliebten Urlaubsort Antalya erholen. Antalya zählte bis vor kurzem - trotz der explodierenden Corona-Zahlen, die die türkische Regierung verheimlicht hatte -, zu den für den Tourismus freigegebenen Gebieten (Türkei: Nach falschen Corona-Fallzahlen nun der Lockdown).

Statt am Strand sitzt der Zahnarzt seit einem Monat in Untersuchungshaft. Bei seiner Ankunft im Flughafen von Antalya am 4. November gab es einen Streit mit einer Frau am Gepäckband, die sich nicht an die Corona-Abstandsregeln hielt. B. bat sie um mehr Abstand. In dem Wortgefecht habe B. in seinem Ärger eine kritische Bemerkung über Erdogan gemacht, berichtet der Tagesspiegel am 2.12.20. Die Frau alarmierte die Flughafenpolizei und diese beschuldigte ihn, das "Türkentum und Erdogan beleidigt" zu haben.

Laut Tagesspiegel soll er die Türkei als "Scheiß-Land" bezeichnet haben. Nächste Woche soll der Prozess gegen den Zahnarzt wegen "Präsidentenbeleidigung" beginnen, ihm drohen bis zu vier Jahre Gefängnis. Der Anwalt des Deutschen wies die Vorwürfe zurück, sein Mandant sei ein Freund der Türkei, schließlich habe er sich trotz der Corona-Pandemie für einen Urlaub in der Türkei entschieden.

Dieser aktuelle Fall ist nur einer von vielen Fällen, wo die türkische Justiz gegen die noch so kleinste Kritik an der Regierung vorgeht, sei es in Sozialen Medien oder in der Öffentlichkeit, ganz zu schweigen von der Kritik der oppositionellen HDP-Politiker und -Politikerinnen, bei denen zum Teil Jahre zurückliegende Äußerungen ausreichen, um aktuell für Jahre in den berüchtigten türkischen Gefängnissen zu verschwinden. Aber immer wieder werden auch Bundesbürger wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen inhaftiert und angeklagt.

Meist trifft es Bundesbürger türkischer oder kurdischer Herkunft, die besonders im Fokus der türkischen Justiz sind. Oft sind sie Opfer der "Denunzianten-App" der türkischen Regierung.

Erdogan auf Reformkurs?

Auch wenn die Medien aktuell suggerieren wollen, die Türkei sei wieder auf Reformkurs, zeigt dieser aktuelle Fall, dass es sich bei den Äußerungen des Präsidenten, die Zukunft der Türkei liege in Europa, um reine Kosmetik handelt, um bevorstehende Sanktionen angesichts der desaströsen Wirtschaftslage abzuwenden. 2019 gab es 36.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung, 12.000 wurden vor Gericht verhandelt, 4.000 Menschen wurden Geldstrafen und sogar Haftstrafen auferlegt.

Die Belege, die für die angeblichen Reformen in der Türkei als Legitimation für die weitere Unterstützung vor allem in Deutschland herangezogen werden, sind durchsichtig. So berichteten die Stuttgarter Nachrichten am 1. Dezember, dass die Hagia Sophia Kirche in Istanbul und das byzantinische Kloster Chora nun doch nicht zur Moschee umgewandelt werden.

Im Sommer 2020 wurde mit großem Medienrummel in der Türkei die Umwandlung der Hagia Sophia Kirche in eine Moschee gefeiert, um die beunruhigte Bevölkerung zu besänftigen. Jetzt, wo die UNESCO die Prüfung des Sachverhalts angekündigt hat, rudert die türkische Regierung zurück - ohne die Bevölkerung zu informieren. Zu peinlich, dass das Freitagsgebet mit Erdogan am 30. Oktober deshalb klammheimlich abgesagt wurde.

Auch die Abdeckungen der christlichen Wandmosaike sollen abgebaut worden sein. Aber das alles geschah nicht aus Einsicht, sondern weil die UNESCO eine Inspektion des Weltkulturerbes durchführte. Das zeigt einmal mehr, dass Erdogan ein strategisches Verhältnis zur EU hat und sich bei den Despoten in der EU wie z.B. Viktor Orban einreiht.

Entscheidung über Sanktionen

Am 10. und 11. Dezember will die EU über Sanktionen gegen die Türkei entscheiden. Angesichts dessen, dass Erdogan in den türkischen Medien immer wieder die EU oder Deutschland verhöhnt und als zahnlosen Tiger darstellt, wäre es an der Zeit, Zähne zu zeigen. Dazu gehören Sanktionen und deutliche Signale, dass wir Meinungsfreiheit anders definieren.

Dazu gehört aber auch, dass die Repression gegen die türkische, und besonders die kurdische oppositionelle Bevölkerung in Deutschland ein Ende haben muss. Das Urteil in München zu den Fahnen der nordsyrischen kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ sind nur ein erster Schritt (Kurdische Selbstverteidigung siegt in Bayern).

Auch zu den völkerrechtswidrigen Annexionen von Afrin und Serekaniye in Nordsyrien und den Menschenrechtsverletzungen muss die EU endlich Stellung beziehen und die möglichen EU-Sanktionen an den Rückzug aus den besetzten Gebieten knüpfen. Die andauernden türkischen Angriffe auf Nordsyrien und den Nordirak müssen mit auf die Agenda. Die Waffenlieferungen an Libyen, der Konflikt mit Griechenland um die Gasvorkommen in der Ägais, der Unterschlupf für IS -Terroristen in der Türkei, die Entsendung bezahlter islamistischer Söldner wie zuletzt in Berg-Karabach - all das muss auf den Verhandlungstisch, damit endlich Ruhe in die Region einkehren kann.

Die Türkei braucht eine klare Botschaft aus Europa, dass ein demokratischer Umgang mit der Opposition und den Minderheiten im Vielvölkerstaat Türkei erwartet wird. Allein in den vergangenen Tagen wurden mehr als 640 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK festgenommen, berichtete der Deutschlandfunk Ende November.

Das belgische Kassationsgericht hat Anfang des Jahres letztinstanzlich befunden, dass die PKK keine Terrororganisation, sondern eine Kriegspartei in einem innertürkischen Konflikt sei. Mit Blick auf das Verhältnis zu Erdogan und den wirtschaftlichen Verflechtungen konnte sich die Bundesregierung bis heute nicht durchringen, dem Urteil zu folgen.

Ein Sanktionsbeschluss mit einer Liste konkreter Forderungen an die Türkei auf EU-Ebene könnte auch zur Lösung der "Kurdenfrage" in der Türkei beitragen, wenn auch erst mal nur auf politischer Ebene. Denn die Gräben der Vorurteile gegen Minderheiten in der Türkei sind tief.

Egal, ob es Ethnien, Religionsgemeinschaften oder andere Minderheiten sind: Kurden, Armenier, Aleviten, Christen oder Eziden - sie alle werden in der Türkei diskriminiert und stigmatisiert. Europa sollte sich selbstbewusst an den Verhandlungstisch setzen und sagen, dass die Flüchtlingskarte nicht mehr als Druckmittel oder Erpressungsinstrument akzeptiert wird. Stattdessen haben wir Erwartungen in Bezug auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, möchte die Türkei weiter am Verhandlungstisch sitzen.