Anis Amri: "Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Helft mir!!!"

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Der angebliche Attentäter vom Breitscheidplatz soll sich gegenüber Bekannten von der Tat distanziert haben - Das BKA weiß von dem Sachverhalt

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Der Tunesier Anis Amri, nach offiziellen Angaben der Fahrer des Tat-LKW vom Breitscheidplatz in Berlin, soll gegenüber Bekannten und Freunden in einer Whats-App-Nachricht bestritten haben, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Das geht aus den Ermittlungsunterlagen des Bundeskriminalamtes (BKA) hervor.

Bemerkenswert ist das vor allem deshalb, weil Amri nicht nur seit vier Jahren als der alleinige Attentäter gehandelt wird, sondern sich laut offizieller Auslegung außerdem auch zu der Tat, bei der zwölf Menschen starben, bekannt haben soll. Beispielsweise durch das demonstrative Zeigen des islamistischen Grußes in eine Überwachungskamera am U-Bahnhof Zoo wenige Minuten nach dem Anschlag.

Der Aktenfund widerspricht dieser Bewertung. Der Sachverhalt konkret: Mohamed A., der Bruder von Khaled A., mit dem sich Amri bis zum Anschlagstag ein Zimmer teilte, erhielt auf seinem Mobiltelefon ein Posting von Anis Amri, versehen mit einem Passbild von ihm und einem Text mit folgendem Wortlaut:

"Leute, ich kann mich nicht öffentlich zeigen, ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Ich würde so was nie im Leben machen. Alles gelogen!! Bitte teilt ALLE diesen Beitrag und glaubt nicht diesen Medien. Helft mir!!! Gott beschütze euch alle meine Brüder und Schwester."

Eine Botschaft, die das Gegenteil der Märtyrerpose ist. Wann und von wo die Nachricht abgesetzt wurde, ist unklar. Es müsste im Zeitraum zwischen der öffentlichen Fahndung nach Amri (21. Dezember) und seinem Tod (23. Dezember 2016) gewesen sein. Die Ermittler des BKA sind darauf gestoßen, weil ihnen der Zeuge Rachid C. seine Whats-App-Kommunikation mit Mohamed A. offengelegt hatte. Das Amri-Posting hatte Mohamed A. am 31. Dezember 2016 an Rachid C. weitergeleitet.

Warum haben BKA und Bundesanwaltschaft die Amri-Botschaft nicht problematisiert

Dem BKA muss die Brisanz dieses Sachverhalts bewusst gewesen sein, denn es fasste ihn in einer extra Anmerkung zusammen. Unklar ist, wie die Ermittler damit umgegangen sind. Sie schienen jedenfalls weder bei den Zeugenvernehmungen von Mohamed A., noch von Khaled A., noch von anderen engen Kontaktpersonen Amris, wie beispielsweise Ben Ammar, der Spur nach gegangen zu sein. Entsprechende Fragen an sie gibt es nicht. Zumindest nicht in den Akten, die für die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und die Anwälte der Opfer zusammengestellt wurden.

Warum haben BKA und Bundesanwaltschaft die fragwürdige Amri-Botschaft bisher nicht problematisiert? Weil sie dessen Täterschaft in Zweifel ziehen könnte, ein weiteres Mal?

In den Akten setzt das BKA den Namen in Anführungszeichen und spricht von einem "Anis Amri", der den Whats-App-Post verschickt hatte. Mit der Textnachricht und dem Passbild soll außerdem ein Bild einer nicht benannten Stadt und der "Polizei im Hintergrund" verknüpft worden sein. Ob die Ermittler die Echtheit der Amri-Nachricht und ihres Urhebers überprüft haben, ist nicht ersichtlich. Welche Stadt, was für eine Polizei? Auch hier ist offen, ob das BKA diesen Fragen nachgegangen ist.

Eine Bekannte Amris in Berlin erhielt über Facebook am 22. Dezember 2016 um 12:32 Uhr noch eine Nachricht von ihm. Das geht ebenfalls aus den Ermittlungsunterlagen hervor. Welchen Inhalt die Nachricht hatte, steht nicht in den Papieren.

Dass ein Täter sich von einer Tat distanziert, ist nicht ungewöhnlich. Doch hier liegt der Fall anders. Im Tatfahrzeug lag ein Handy von Amri, es fand sich eine Geldbörse mit einer Duldungsbescheinigung der Ausländerbehörde von Kleve auf einen Aliasnamen von ihm, und obendrein steckte sein zweites Handy der Marke HTC außen in einem Loch der LKW-Karosserie. Die verantwortlichen Ermittlungsbehörden Bundesanwaltschaft und BKA erklären diese Funde als Zeichen der Tatbekennung. Hinzu kommt eine Videoaufnahme der Berliner Verkehrsbetriebe, auf der etwa fünf Minuten nach der Tat ein seltsam entspannt wirkender Amri scheinbar demonstrativ den ausgestreckten Zeigefinger in die Videokamera hält. Das gilt als Geste des Dschihad und wird ebenfalls als Tatbekennung gewertet.

Dazu passen nun die Sätze des möglichen Absenders Amri nicht so richtig: "Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun... Ich würde so was nie im Leben machen... Glaubt nicht diesen Medien... Helft mir".

Anis Amri kann zumindest als Tatbeteiligter gelten

Aber auch die angeblichen handfesten Beweise sind mit einigen Makeln behaftet. Das Handy im LKW-Cockpit hatte keine SIM-Karte. Die Geldbörse lag unter einer Decke. Das HTC-Handy muss jemand in das Karosserieloch gesteckt haben, obendrein wurde seine SIM-Karte an dem Tag gar nicht benutzt. Die Videoaufnahme im U-Bahnhof Zoo wiederum dokumentiert, dass Amri, wäre er vom Tatort am Breitscheidplatz gekommen, einen völlig ungewöhnlichen Weg gewählt hätte. Er floh nämlich nicht etwa zur U-Bahn hinunter, sondern unterquerte den Hardenbergplatz in umgekehrter Richtung und ging dann wieder nach oben Richtung Tatort.

Dass Amri mit der "Sache" überhaupt "nichts zu tun" hatte, lässt sich andererseits allerdings auch nicht sagen. Er war zu einem bestimmten Zeitpunkt zumindest am Tat-LKW, wo sich außen Fingerabdrücke von ihm fanden. Er hatte die Tatpistole, mit der der polnische Fahrer erschossen wurde, bei sich, als er selber in Italien getötet wurde. Und die genannten Gegenstände in und an der Zugmaschine gehörten ihm - wie auch immer sie dorthin gelangt sind.

Anis Amri kann zumindest als Tatbeteiligter gelten. Aber war er auch der Haupttäter, der am 19. Dezember 2016 den 40-Tonnen schweren Sattelschlepper in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz steuerte, wo insgesamt zwölf Menschen starben und Dutzende verletzt wurden? Wenn Amri nicht der Fahrer war, gab es mindestens einen weiteren Täter. Stand etwa eine größere Tätergruppierung hinter dem Anschlag und Amri realisierte durch die öffentliche Fahndung, dass nur er allein für den Mehrfachmord verantwortlich gemacht werden sollte? Wollte er mit seinem Whats-App-Dementi dagegen widersprechen?

Welchen Hintergrund hat das Attentat tatsächlich? Wer zählte alles zum potentiellen Täterkreis? An diesen Fragen knüpft auch der bisher erst in Anfängen aufgeklärte Vorgang mehrerer Sicherheitsbehörden namens "Opalgrün" an. Danach sollen Strukturen der Organisierten Kriminalität (OK), möglichweiser ein arabisch-stämmiger Clan, mit den nominellen Islamisten in Verbindung gestanden sein. Die Bundesanwaltschaft ermittelt seit über einem Jahr in dem Komplex.

Von Anis Amri wurden in der Fahrerkabine des LKW an festen Teilen keine Fingerabdrücke und vollwertige DNA gefunden. Lediglich die genannten persönlichen Dinge wie Handy und Geldbörse, die aber gravierende Fragen aufwerfen. Stattdessen wurden Spuren von anderen Personen gesichert, die bisher nicht identifiziert sind.

Blut einer weiteren zunächst "unbekannten Person"

Beispielsweise findet sich DNA-Material einer "unbekannten Person", genannt UP 2, an gleich vier Stellen: Unter anderem an der Kopfstütze des Fahrersitzes, am Griff der Sitzverstellung und am inneren Öffnungshebel der Fahrertür. Die Person saß offensichtlich auf dem Fahrersitz und hat ihn möglicherweise verstellt.

Blut einer weiteren zunächst "unbekannten Person", genannt UP 8, wird laut einer Spurentabelle des BKA, die erst im Sommer 2020 extra für den Untersuchungsausschuss erstellt wurde, mittlerweile einer getöteten Person zugeordnet (Blut von unbekannter Person im Anschlags-LKW).

Das war Telepolis im Oktober 2020 noch nicht bekannt, als wir auf die Spur hingewiesen haben. Das kriminaltechnische Ergebnis selber soll erst am 5. August 2020 (!) vorgelegen haben. Seltsam ist, wo das Blut aufgenommen worden sein soll: vom Asphalt der Straße links des LKW. Wieso, geht aus der Auflistung nicht hervor.

Die beiden Asphaltproben der damaligen UP 8 wurden zusammen mit einer dritten Asphaltprobe in Höhe des rechten Vorderreifens des LKW zur Untersuchung gegeben. Dieses Blut gehörte dem polnischen Speditionsfahrer Lukasz Urban. Der Breitscheidplatz war voll mit Blut, aber warum wurden in diesen beiden Fällen Blutspuren gesichert und zur Auswertung gegeben?

An der Tatpistole Marke Erma, mit der Urban erschossen wurde, sicherten die Techniker DNA von Amris Mitbewohner Kamel A..

Das BKA tut diesen Fund ab. Die beiden seien schließlich Mitbewohner gewesen, da könne schon mal Genmaterial an die Waffe gekommen sein. Außerdem habe Kamel A. erklärt, so das BKA, er kenne die Waffe nicht. Tatsächlich soll Kamel A. schon in einer der ersten Vernehmungen eingeräumt haben, dass er von der Waffe wusste. Das erschließt sich indirekt durch die Zeugenvernehmung mit Khaled A., dem Zimmergenossen von Amri. In den fünf vorliegenden Vernehmungen mit Kamel A. kann man es nicht lesen. Sind die vorgelegten Akten frisiert?

Die kritische Arbeit von Parlamentariern im Untersuchungsausschuss hat das BKA in Beweisnot gebracht

Immer wieder muss es Nachermittlungen anstellen. Ende Juli 2020 (!) nahm es in der Wohnung von Kamel A. in der Freienwalder Straße in Berlin, wo Khaled A. und Amri bis zum Tattag untergekommen waren, erneut Spurensicherungen vor. Und auch an Amris Kleidung, die in Italien asserviert ist, wurden im Juli 2020 erneut DNA-Proben genommen. Die BKA-Aktivitäten könnten in Zusammenhang mit dem Beschluss des Untersuchungsausschusses stehen, externe Sachverständige mit der Überprüfung der gesicherten Spuren zu beauftragen.

Wenn Amri den Post, er habe mit der Sache nichts zu tun, tatsächlich verschickt hat: An wen alles? Khaled A., der Bruder von Mohamed A., der den Amri-Post erhielt und ihn an Rachid C. weiterleitete, hat unmittelbar nach dem Anschlag seine beiden Handys entsorgt. Eines will er verkauft, das andere weggeworfen haben. Ob er die Nachricht ebenfalls erhielt, ist also nicht mehr feststellbar.

Dasselbe gilt für Bilel Ben Ammar. Er will nach dem Anschlag alle Whats-App-Nachrichten von Amri gelöscht haben, erklärte er gegenüber den Vernehmern im Januar 2017.

Khaled A. soll sich, das ergeben Auswertungen von Videoaufnahmen der Berliner Verkehrsgesellschaft, eine halbe Stunde nach dem Anschlag im U-Bahnhof Zoologischer Garten aufgehalten haben. Anschließend war er 15 Tage lang verschwunden, ehe er bei seinem Bruder Mohamed A. gefasst wurde.

Damit war er länger untergetaucht als Bilel Ben Ammar, der nach zehn Tagen aufgespürt wurde. Ben Ammar wurde hinter Amri als zweiter Mitbeschuldigter geführt, unter anderem weil sich beide am Vorabend in einem Restaurant in Berlin-Wedding getroffen hatten. Auch er war möglicherweise zeitlich und räumlich in der Nähe des Tatorts. Auf seinem Mobiltelefon waren Fotos vom Breitscheidplatz nach dem Anschlag gespeichert.

Bei dem Treffen am Vorabend der Tat - am Sonntag, 18. Dezember 2016 - könnten noch mehr Personen beteiligt gewesen sein. Drei weitere aus dem Umfeld von Amri suchten den Ort auf, darunter sein Mitbewohner Khaled A. Ein anderer war Belhassen K., der zusammen mit Kamel A., dem Wohnungsgeber von Amri und Khaled A., mehrmals im Jahr Kurierfahrten zwischen Berlin und Tunesien unternahm.

Ben Ammar wurde am 1. Februar 2017 in einer konzertierten Aktion von BKA, Bundesanwaltschaft, Berliner Generalstaatsanwaltschaft, Bundesinnenministerium und Bundesjustizministerium nach Tunesien abgeschoben, Khaled A. am 22. Februar 2017, in den Wochen danach folgten weitere Kontaktpersonen von Amri.

Amri bewegte sich zwischen dem Abend des 19. Dezember und dem 23. Dezember 2016 durch Deutschland, die Niederlande, Belgien, Frankreich nach Norditalien. Eine Tour, deren Logik sich nicht so richtig erschließt. Jedenfalls muss er ein Mobiltelefon bei sich gehabt haben, darauf gibt es mehrere Hinweise. So von einem Zeugen, der Amri frühmorgens am 21. Dezember zufällig in Emmerich traf. Außerdem legen es Videobilder auf Bahnhöfen nahe.

Auch das Lebenszeichen, das die Berliner Bekannte am 22. Dezember 2016 um 12:32 Uhr erhielt, wäre ein Beleg, dass er da noch ein Telefon bei sich gehabt hat. Amri befand sich zu diesem Zeitpunkt in Lyon, von wo aus er mit dem Zug Richtung Turin und Mailand weiterfuhr.

Und auch in italienischen Ermittlungsakten steht, dass er ein Handy bei sich getragen haben soll, als er am frühen Morgen des 23. Dezember 2016 im Mailänder Vorort Sesto San Giovanni von Polizeibeamten erschossen wurde. Offiziell heißt es allerdings heute, Amri habe kein Telefon bei sich gehabt. Hat die Polizei es verschwinden lassen? Wenn er es vorher weggeworfen hätte, warum? Warum kurz vor seinem Tod?

In den Unterlagen der italienischen Staatsschutzermittler finden sich auch Hinweise, dass der zweite Amri in der Szene, Soufiane Amri, bei dem Anschlag eine Rolle gespielt haben soll. Soufiane A. ist ein in Berlin geborener Deutsch-Marokkaner, der zum inneren Kreis der damaligen radikalen Fussilet-Moschee zählte. In abgehörten Telefonaten ließen sich Mitstreiter darüber aus, dass "Fuffy" etwas mit dem Lastwagen zu tun gehabt habe. Für die Italiener ist "Fuffy" ein Spitzname, der eindeutig für Soufiane stehe (Die zwei Amris).

Dem zum Trotz erklären die deutschen Ermittler ziemlich freihändig, es handle sich um einen Hörfehler, mit "Fuffy" sei in Wirklichkeit der Begriff "Vorfall" gemeint. Das macht im Gesamtzusammenhang der abgehörten Kommunikation aber keinen Sinn. Die Tondateien der überwachten Gespräche wurden dem Untersuchungsausschuss bisher nicht zur Verfügung gestellt.

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