Das sind die Bedingungen für Frieden mit Russland

Staats- und Regierungschefs bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Salles des Fetes, Palais de L'Elyses, Paris, Frankreich, 19.11.1990. Bild: OSZE/George H.W. Bush Presidential Library and Museum, CC BY-ND 4.0

Die Nato hat mit den Versprechen gegenüber Moskau gebrochen und in Großbritannien wird von einem neuen Krieg schwadroniert. Ein Plädoyer für eine friedliche Koexistenz

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Im Jahr 1963 hielt Egon Bahr seine berühmte Rede, die unter dem Stichwort "Wandel durch Annäherung" die damalige Ostpolitik der Bundesregierung bestimmt hat. Nur ein Zitat aus dieser Rede:

Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, dass unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen.

Lassen wir einmal den Streit darüber beiseite, wessen Welt die bessere ist, so enthalten diese Sätze zumindest eine Erkenntnis, die nach wie vor auch heute Gültigkeit hat: Druck und Gegendruck führen nur zu der Erstarrung des Status Quo.

Die aktuelle Ostpolitik der Nato-Staaten führt das gerade vor: Russlands Außenminister Sergej Lawrow beklagte in einer seiner jüngsten Pressekonferenzen am 9. Oktober, dass die Beziehungen zwischen Russland und der EU rapide bergab gingen. Einen Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas in Moskau hatte er gerade abgesagt.

Er wollte sich wohl nicht die üblichen Vorwürfe, Mahnungen und Drohungen wegen der Sezession der Krim und ihrer Aufnahme in die Russische Föderation, die immer noch nicht geklärte Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny und die Unterstützung der Regierung von Präsident Baschar al-Assad in Damaskus anhören.

Vielleicht wartet Lawrow auch den Präsidentenwechsel in den USA ab, da sich die deutsche Außenpolitik ohnehin im Bollerwagen der US-Außenpolitik nicht zu rühren wagt.

Die alte Konfrontation des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion ist mit ihrem Untergang nicht aufgegeben worden, sie hat sich nur verändert. Und sie begann mit dem Bruch des Versprechens, die Nato nicht über die Grenzen des neuen um die Gebiete der alten DDR erweiterten Deutschlands gen Osten zu erweitern.

Horst Teltschik hat zwar in seinem letzten Buch die These vertreten, dass der damalige US-Außenminister James Baker keinen Verzicht auf die Osterweiterung gegenüber Michail Gorbatschow gegeben habe. Das stimmt nur insoweit, als es keine durch Vertrag abgesicherte und völkerrechtlich verbindliche Zusage gegeben hat.

Dennoch haben deklassifizierte US-Dokumente eindeutig erwiesen, dass Baker einen solchen Verzicht gegenüber Gorbatschow ausgesprochen hat, dem auch der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher seinerzeit zugestimmt hat. Wieweit ein solches Gentleman’s Agreement verbindlich ist, darüber kann man streiten. Auf jeden Fall haben Gorbatschow und die russische Seite bei der so folgenreichen Entlassung der DDR aus ihrem Einflussbereich darauf vertraut.

Verrat der KSZE und ihrer "Charta von Paris"

Nicht lange zuvor, Ende November 1990, hatten sich alle Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Paris getroffen und feierlich die "Charta von Paris für ein neues Europa" verabschiedet.

Dort wurde zwar nicht über die zukünftigen Grenzen der Nato gesprochen, aber die Charta troff über von hohen Bekenntnissen zu Freundschaft, Zusammenarbeit, friedliche Streitlösung und Achtung wechselseitiger Souveränität und Sicherheit. Dort hieß es zum Beispiel:

In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten.

Mit der Aufnahme der Nachbarstaaten Russlands in die Nato wird nun nicht die territoriale Integrität Russlands angegriffen und seine politische Unabhängigkeit unmittelbar bedroht, aber doch sein Sicherheitsgefühl massiv beeinträchtigt. Man stelle sich nur vor, Russland würde Militärstützpunkte in Mexiko und Kanada errichten und Militärmanöver an den Grenzen der USA abhalten.

Eine völkerrechtlich verbindliche Erklärung hätte Russlands Präsidenten Wladimir Putin bei der aktuellen unberechenbaren US-Außenpolitik wohl auch nichts genützt. In den Folgejahren hat die Nato einen nach dem anderen osteuropäischen Staat in ihre Reihen aufgenommen und ist damit immer näher an die russische Grenze vorgerückt, bis sie nun endgültig vor der Ukraine steht, die Putin zur roten Linie erklärt hat.

Noch zögert die Nato, aber nichts spricht dafür, dass sie ihren bisherigen Kurs ändert und die russischen Ängste vor einer unmittelbaren Nato-Bedrohung an der Südflanke ernstnimmt.

1997 schrieben der ehemalige Außenminister Robert McNamara und über 40 hochrangige Politiker einen offenen Brief an Präsident Bill Clinton, in dem sie eine mögliche Osterweiterung einen "Fehler von historischem Ausmaß" nannten. Und George F. Kennan, Diplomat und führender Stratege im Kalten Krieg, warnte in der New York Times, dass die Ausweitung der Nato bis an die Grenzen Russlands der verhängnisvollste Fehler US-amerikanischer Politik nach dem Kalten Krieg sein würde.

Er warnte vor allem davor, dass eine solche Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in Russland anheizen könne und einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie haben würde.

Erinnern wir uns: Schon einmal hatten wir eine ähnliche Situation, als die USA 1978 mit Hilfe der Mudjaheddin in Afghanistan Fuß fassen wollten. Sie hatten ihre Stützpunkte in Iran an der Südflanke der Sowjetunion durch die Chomeini-Revolution verloren. Die Sowjetunion reagierte mit einer Intervention in Afghanistan, die zwar völkerrechtswidrig, aber rein defensiv war.

Sie wollte nicht zu den warmen Gewässern des indischen Ozeans vorstoßen, wie es ihr der Westen unterstellte. Sie wollte verhindern, dass die USA ihre militärischen Stützpunkte und Raketenstationen nur ostwärts von Iran nach Afghanistan an den Amu Darja an die Südgrenze der Sowjetunion verlagerten.

Die Expedition endete zwar für beide Länder in einem Desaster und konnte die USA schließlich nicht von ihren langfristigen Plänen abbringen, sich in diesem strategisch so wichtigen Erdteil festzusetzen. Aber trotz des gewaltigen Umbruchs der Weltarchitektur in den Jahren 1989/90 mit der Auflösung der Sowjetunion ist eines unverändert geblieben: die imperiale Aggressivität der USA und mit ihr der Nato.

Nato machte nach dem Kalten Krieg einfach weiter

Nach dem Untergang des Ostblocks und des Warschauer Paktes sah die Nato gar keine Veranlassung, ihr eigenes Drohpotential ebenfalls abzurüsten. Sie treibt der gleiche Hegemonieanspruch wie die USA. Sie suchte einen neuen Feind, der ihre Fortexistenz sicherte, und fand ihn zunächst im internationalen Terrorismus. Er öffnete den USA den Weg nach Afghanistan nunmehr mit breiter internationaler Zustimmung.

Doch war der Terror in langer Perspektive kein adäquater Gegner, mit dem sich die Aufrüstung der Nato begründen ließ und die geostrategischen Interessen plausibel verfolgt werden konnte. Der alte Feind Sowjetunion entstand in Russland nach Boris Jelzin erneut.

Nach wie vor arbeiten Wissenschaftler und Forscher in gemeinsamen Projekten ob im Weltraum oder in der Arktis zusammen, aber auf der Ebene der Politik ist eine Konfrontation wiedererwacht, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert.

Die Abrüstung auf allen Gebieten wurde fast vollkommen gestoppt, neue Rüstungsprojekte vor allem bei den Atomwaffen aufgelegt, alle Verträge, die der gemeinsamen Sicherheit dienen, aufgekündigt, Russland wird mit Sanktionen erpresst und seine Kooperationen mit anderen Staaten aggressiv angegriffen, wie etwa das Nordstream-2-Projekt.

Dahinter steht eine Bedrohungsanalyse, die vor allem Russland und die Volksrepublik China zum Feind erklärt. Sie ist unter dem nun abgewählten Präsidenten Donald Trump entwickelt worden und wird weitgehend in der Nato geteilt.

Niemand weiß bisher, ob sie unter dem designierten US-Präsidenten Joe Biden entschärft wird. Wenn der Generalstabschef der britischen Armee, Sir Nicolas Carter, in einer Rede im Januar 2018 vor dem Royal United Services Institut Russland als den "archetypischen Vertreter einer staatlichen Bedrohung für sein Land" bezeichnet. Mit Sätzen, wie den folgenden bereitet er seine Zuhörer auf einen Krieg mit Russland vor:

Die Parallelen zu 1914 sind überdeutlich. Unsere Generation hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges daran gewöhnt, Kriege nicht wirklich führen zu müssen - aber wir haben vielleicht keine Wahl hinsichtlich eines Konflikts mit Russland. (…) Als nächstes denke ich, müssen wir zeigen, dass wir kampfbereit sind. "Boots on the Ground" ist derzeit kein positiver Begriff, aber unsere Verbündeten an der Ostflanke der Nato wissen es absolut zu schätzen, dass ein Infanteriezug so viel wert ist wie ein Geschwader F-16, wenn es um Kampfbereitschaft am Boden geht.

Bei solchen Sätzen muss man sich fragen, wer eine Bedrohung für den Frieden in Europa ist. Gewiss nicht Russland, von dort kommen nicht solche Reden. Dieser General ruft zur Mobilmachung gegen den alten Feind auf. Nun wird wohl allen deutlich, weswegen die Osterweiterung der Nato zu Recht von Russland als Bedrohung gesehen werden muss und das Gegenteil einer guten Nachbarschaft ist.