Runter auf Null, aber solidarisch

Eine initiative fordert den besseren Lockdown

"Zero Covid" – wie schön das wäre. Möglich scheint es ja zu sein: Länder wie Australien, China und Neuseeland haben es vorgemacht. Die "Zero-Covid"-Initiative will jetzt das Gleiche für Europa.

Man kann sich lange darüber unterhalten, was wäre, wenn es den jetzigen, halbherzigen und widersprüchlichen Lockdown in Deutschland nicht gäbe. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre dann das Gesundheitssystem schon längst zusammengebrochen, und die grausige Bilanz, die den Deutschen mittlerweile eine höhere Todesrate pro Tag und Million Einwohner als in den USA beschert hat, würde noch viel ernüchternder ausfallen.

Fakt ist: Das Gesundheitssystem steht nach einem zweiten halbherzigen und widersprüchlichen Lockdown am Rand des Zusammenbruchs, die Auszahlung dringend benötigter Stützungsgelder wird durch peinliche Pannen verzögert, die Impfkampagne läuft äußerst schleppend an. Auf eine neue Welle mit noch aggressiveren Sars-CoV2-Mutationen wirkt das Land denkbar schlecht vorbereitet.

Sogar die Verteilung von kostenlosen oder preisreduzierten FFP2-Masken durch die Apotheken trifft auf logistische Schwierigkeiten, über die man sich nur wundern kann. Dieses unschöne Bild wird auch nicht dadurch schöner, dass es in anderen europäischen Ländern mindestens ebenso schlecht aussieht, wenn nicht noch schlechter.

Die Initiative "Zero Covid" möchte mit den halben Sachen Schluss machen. Das Flickwerk und sinnlose Herumgedoktere soll durch einen entschiedenen Lockdown ersetzt werden, der die aktuelle Notlage wirklich ernst nimmt und die Infektionszahlen energisch Richtung Null drückt. Endlich sollen in Deutschland flächendeckend auch die Schulen lange genug geschlossen bleiben, ebenso wie nichtessentielle Arbeitsstätten.

"Zero Covid" kann sich dabei in wissenschaftlicher Hinsicht auf den Aufruf für eine konsequente Eindämmung der Corona-Epidemie stützen, der unter anderem von Viola Priesemann, Melanie Brinkmann und Sandra Ciesek verfasst wurde, also Wissenschaftlerinnen, die sich in der laufenden Pandemie immer wieder mit klaren Statements zur Lage geäußert haben.

Ebenso wie der internationale Aufruf der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betont "Zero Covid" die Notwendigkeit der länderübergreifenden Zusammenarbeit. Schließlich macht es keinen Sinn, in Deutschland einen wirklich harten Lockdown zu fahren, wenn alle drumherum wie bisher weiterwurschteln. Über den Impuls des wissenschaftlichen Aufrufs geht "Zero Covid" aber deutlich hinaus. Die politisch-gesellschaftliche Dimension sei genauso wichtig wie die medizinische, heißt es. Daher der Appell nicht zu einem bloß verschärften, sondern vor allem zu einem "solidarischen" Lockdown:

Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.

Der Gesundheits- und Pflegebereich sollen massiv ausgebaut, die Gesundheitsämter gestärkt werden. Impfstoffe seien keine Privatangelegenheit, sondern ein globales Gemeingut. Wie sollen diese ehrgeizigen Pläne finanziert werden?

Darum verlangen wir die Einführung einer europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen.

Zum Schluss bringt man das Spannnungsfeld zwischen Demokratie und Gesundheitsschutz auf die Formel:

Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat.

Die Einwände gegen den Text sind die erwartbaren. Das sei ja wieder einmal Sozialismus über die Umverteilungsschiene, tönt es von rechts. Forschungsergebnisse privater Firmen wie die neuen mRNA-Impfstoffe seien das Eigentum dieser Firmen. Der ganze Aufruf – völlig unrealistisch.

Sozialismus? Der wäre so billig wie mit einer bloßen "Reichensteuer" nicht zu haben. Als Jonas Salk, der Entwickler der Polio-Impfung, 1955 gefragt wurde, wem denn das Patent an seiner Impfung gehöre, sagte er: "Naja, ich würde sagen, den Menschen. Es gibt kein Patent. Könnte man die Sonne patentieren?" Und die Sache mit dem mangelnden Realismus? Der "Zero-Covid"-Aufruf müsste sich schon richtig ins Zeug legen, um noch unrealistischer zu sein als die Hoffnung, die Corona-Pandemie bei geöffneten Schulen und Betrieben wirksam eindämmen zu können, bevor die Bevölkerung durchgeimpft ist.

Der Inhalt des Aufrufs ist völlig in Ordnung, aber es gibt ein gewaltiges Problem mit seinem Zielpublikum. Betrachtet man den Verlauf der Pandemie in Deutschland und die gesellschaftlichen Diskussionen zum Thema mit Nüchternheit, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Deutschen nicht ernsthaft an einem Ende der Seuche interessiert sein können.

Das betrifft sowohl die "Entscheider" in Politik und Wirtschaft als auch die Bevölkerung. Monatelang hat man die Schaffung robuster digitaler Alternativen zum Präsenzunterricht verschlafen; das starrköpfige Beharren verschiedener Kultusministerien auf dem Erscheinen der Schüler und Lehrer in den Schulen kann nur mit totaler Beratungsresistenz erklärt werden – oder mit grenzkrimineller Fahrlässigkeit.

Ernsthafte, überprüfbare, sanktionsbewehrte Konzepte für die Betriebe wurden nicht einmal diskutiert, geschweige denn durchgesetzt. Dort gilt, was immer gegolten hat: Die Demokratie und das Interesse an der Gesundheit der Beschäftigten enden an Werkstor und Einlasspforte. Eine entschlossene Gegenbewegung von unten, die eine Verwirklichung der Forderungen von "Zero Covid" erst möglich machen würde, gibt es nicht.

Arroganz und Ignoranz zu den simpelsten medizinischen und epidemiologischen Fakten sind in der "Wissensnation" Deutschland extrem weit verbreitet, genauso wie eine schockierende Empathielosigkeit und Gleichgültigkeit zu dem Leid, das durch die Pandemie hervorgerufen wird. Statt sich an die einfachsten Präventionsmaßnahmen und die ohnehin schon windelweichen Lockdown-Vorschriften zu halten, lachte man gern über Masken, ging nach Belieben feiern und zeigte sich oft betont unbeteiligt, selbst in den Altersgruppen mit dem höchsten Risiko.

Damit nicht genug: Eine lautstarke Minderheit unter den Gleichgültigen und Empathielosen verbreitete höchst eifrig Gerüchte und Unsinn, bestritt die Gefährlichkeit von Sars-CoV2 oder leugnete seine Existenz gleich ganz, wedelte mit gefälschten Attesten herum, fabulierte von tödlichen Masken und von "Merkel-Diktatur", Impfchips und anderen Hirngespinsten. Man muss vielleicht daran erinnern, dass in Berlin und Leipzig Zehntausende zusammenkamen, um sich für diese gefährlichen Märchen zu begeistern.

Also gibt es in Deutschland Mitte Januar 2021 fast 50.000 Corona-Tote. Zum Vergleich: Neuseeland hat bei rund fünf Millionen Einwohnern derzeit 25 Tote zu beklagen. Während man woanders entschlossene Impfkampagnen auf den Weg bringt, muss man sich in Deutschland über die Frage unterhalten, warum gerade beim Gesundheitspersonal die Impfskepsis so weit verbreitet ist – bei Telepolis wurde diese Frage in Bezug auf die Hebammen schon vor fast zehn Jahren diskutiert.

Lächerlicher, symbolischer Aktionismus wie zum Beispiel in Baden-Württemberg wird an diesen Rahmenbedingungen nichts ändern. Nein, das Problem an "Zero Covid" ist nicht der mangelnde "Realismus". Das Problem ist der durchdringende, ultrazynische Vernunftverrat, der in Deutschland quer durch alle Lager und Milieus geht.

Wenn der Aufruf ein Anlass wäre, über diese Tatsache zu sprechen, dann wäre schon viel gewonnen.

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