Objektivität ja, Neutralität nein

Wie objektiv berichten die Medien über die Corona-Pandemie? Im sechsten Teil unserer Serie geht es an Einzelbeispielen um diese Frage

Wenn der Chefredakteur des Tagesspiegels, Lorenz Maroldt, in seinem launigen Newsletter "Checkpoint" ohne jeden Zusammenhang einen Abgeordneten als "Verbaldiarrhötiker" bezeichnet, muss man skeptisch sein, ob mit objektiven Berichten über diesen zu rechnen ist. Ist der "Verbaldiarrhötiker" zudem noch Antwort auf die von Maroldt gestellte Frage "Welcher aus dem Checkpoint notorisch bekannte Abgeordnete klagt vor dem Verfassungsgericht gegen die partielle Maskenpflicht im Landesparlament?", und weiß man, dass Maroldt von Anfang an starke staatliche Eingriffe zur Pandemiebekämpfung (oder -verhinderung) gefordert hat, dann sollte man zumindest damit rechnen, in dieser Tageszeitung auf eine gewisse Schlagseite in der Berichterstattung zu treffen.

Wohlgemerkt: Es ist nicht nur möglich, sondern vom professionellen Journalismus stets zu erwarten, dass völlig unabhängig von persönlichen Überzeugungen und sogenannten "Blattlinien" strikt zwischen objektiver Information (richtig, vollständig, repräsentativ etc.) und subjektiver Kommentierung getrennt wird (auch innerhalb von Beiträgen). Doch die Lebenserfahrung sagt: Hab Acht.

Was wir von Richtern bedingungslos erwarten, nämlich Sachverhalte zunächst so meinungsfrei wie möglich zur Kenntnis zu nehmen, reklamieren viele Journalisten nicht einmal selbst für sich. Das "gute alte" Qualitätskriterium Objektivität wird zur Disposition gestellt, zum Teil klar abgelehnt. Dabei ist Objektivität außerhalb geisteswissenschaftlicher Ergotherapie ein Berichterstattungsziel, ohne das Journalismus obsolet wird.

Journalistische Objektivität ist schlicht das Bemühen, seinen Kunden ein Bild zu vermitteln, das nicht nennenswert verschieden ist von dem, welches sie bei eigener Inaugenscheinnahme hätten. Die Berichterstattung soll eben möglichst wenig vom Berichterstatter abhängig sein, von persönlichen Meinungen, Lebensweisheiten, Missionsgelüsten. Und sie soll für verschiedene Kunden nützlich sein, möglichst unabhängig von deren Vorerfahrungen und Voreingenommenheiten. Nicht von ungefähr gab es schon zahlreiche verlegerische Versuche, Meinungsbekundungen der angestellten Journalisten außerhalb der Kommentarspalte zu unterbinden (ausführlich: "Transparenz im Journalismus").

Objektivität hat allerdings nichts mit Neutralität zu tun, wie das in vielen Diskussionen vermengt wird (z.B. rund um einen Kommentar von Philipp Oehmke oder im DLF-Hörer-Gespräch "Haltungsjournalismus: Wie neutral müssen Medien sein? mit Stefan Fries, Sophia Hilger, Anja Reschke und Bettina Schmieding). Deshalb steht der Objektivität auch eine "Haltung" nicht im Weg. Kein Richter ist neutral, und zu allem möglichen wird er eine Haltung haben. Er hat bei jedem Fall einen ersten Eindruck, und spätestens am Ende des Verfahrens soll ein klares Urteil stehen - also das Gegenteil von Neutralität. Aber objektiv sollen Richter natürlich sein, auch über das Verfahren hinaus.

Wissenschaftlich gesprochen:

Journalistische Objektivität ist demnach der Überbegriff für ein Bündel von Normen, die dazu beitragen, dass Berichterstattung intersubjektiv als realitätsgetreu akzeptiert wird. [...] Information kann demnach als richtig - oder nach konstruktivistischer Diktion als viabel - gelten, wenn sie ein effektives und effizientes Verhalten von einer Umwelt ermöglicht, die stets nur in Ausschnitten und stets nur in den Kategorien des beobachtenden Subjekts wahrgenommen werden kann - was wohl kein ernst zu nehmender Kommunikationswissenschaftler bestreitet [...].

Lutz Hagen/ Claudia Seifert: Das Wirtschaftswachstum und die Objektivität seiner Darstellung in den Medien. Eine normative und empirische Betrachtung, S. 174

Objektivität verlangt, Gleiches gleich zu behandeln (und Ungleiches ggf. ungleich). Ein Richter soll Fälle unabhängig vom Ansehen der beteiligten Personen aufklären und beurteilen, und idealerweise sollten verschiedene Richter im selben Fall zum gleichen Urteil kommen - das ist das Bemühen um Objektivität, weil nur dieses Bemühen Orientierung bietet.

Es bleibt das, was wir tendenzielle Objektivität nennen können und damit das reflektierte und kommunizierte Bemühen um die Annäherung an ein Ideal. Ich reklamiere keine Wahrheit, aber bin wahrhaftig.

Prof. Claus Eurich: Mythos "Objektivität", 24.06.2020

Meinungsstärke muss objektiver Berichterstattung nicht im Wege stehen - wenn man sein Handwerk beherrscht. Tatsächlich aber korrelieren nicht selten öffentlichkeitswirksame Positionierungen und schlechte, weil nicht-objektive Berichterstattung (Literaturempfehlung dazu: "The Elements of Journalism" von Bill Kovach und Tom Rosenstiel, 3. Auflage). Auch wenn sich einzelne Kunden pädagogisiert fühlten von den allgegenwärtigen "Wir bleiben zuhause"-Slogans in Radio, Fernsehen und Zeitung, sie sind an sich noch kein Verstoß gegen das Objektivitätsgebot (sondern wären einer gegen ein Neutralitätsgebot).

Allerdings lohnt es sich dann natürlich genauer hinzuschauen, ob Medienunternehmen, die offen für einen bestimmten Politikkurs werben (der zudem ihrem wirtschaftlichen Eigeninteresse in Teilen entgegenkommt) in ihrer Berichterstattung über diese Politik objektiv agieren; ob sie professionell kritisch-distanziert gegenüber denen bleiben, die sie in ihren emotionalen Ausbrüchen gerade zu Helden verklärt haben.

Kein objektiver Standpunkt

Wenn wir als objektiv eine Berichterstattung bezeichnen, die möglichst unabhängig vom Berichterstatter (und damit replizierbar) ist, dann zeigt sich eine fast flächendeckende Verzerrung im Corona-Journalismus. Denn wie auch bei anderen emotionalisierten Themen geschieht die Berichterstattung von einem als richtig empfundenen Stand- und Blickpunkt aus. Statt Bemühen um Objektivität gibt es eine kaum problematisierte Subjektivität. Kritiker der Pandemie-Politik sind stets "die anderen", die jenseits der Lebenswirklichkeit der Journalisten stehen.

So nahm die Presse keinen Anstoß daran, als Bundeskanzlerin Merkel zu "Verschwörungstheorien" sagte: "Das ist ja im Grunde ein Angriff auf unsere ganze Lebensweise." Es gibt eben "uns" und "unsere Lebensweise" - und irgendwelche "anderen", die "uns" etwas streitig machen wollen. Das ist zwar in einer Demokratie absurd, gleichwohl aber allgegenwärtig.

Beispielhaft für diesen Bias ist die Darstellung erster Ergebnisse und Interpretationen der Studie "Politische Soziologie der Corona-Proteste" - und die Studie selbst. Denn diese spricht schon von "Corona-Dissident:innen" und "Corona-Dissidenz" und formuliert offenbar ironiefrei:

Im Umgang mit diesen Protesten ist es aus unserer Sicht wichtig, die Kritiker:innen der Corona-Massnahmen nicht einfach zu pathologisieren. Das ist zwar verführerisch und entlastend, hilft aber nicht wirklich weiter.

Politische Soziologie der Corona-Proteste, S. 63

Dass nun Menschen, welche die Wissenschaft pauschal für krank halten möchte, dieser Wissenschaft skeptisch gegenüber stehen, ist für die Forscher Beleg ihrer Pathologie - es grüßt Franz Kafka. Die Soziologen Prof. Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei untersuchen offenbar eine fremde "Population", wenn nicht gar eine fremde Spezies.

Die journalistische Berichterstattung setzt wie zu erwarten diese subjektive Sichtweise überwiegend fort. Lars Wienand, leitender Redakteur Recherche bei t-online, schreibt gleich im Teaser zur Erkenntnis, 21 Prozent der Protestbewegung seien Grünen-Wähler (laut Studie sind es 23%): "Jetzt gibt es an der Zahl große Zweifel", wobei die Zweifel ausschließlich in seiner eigenen Skepsis gründen (denn zur Nicht-Repräsentativität bekennt sich die Studie selbst ausführlich).

Dabei blickt Wienand, wie in den Medien weit verbreitet, von seinem persönlichen Glaubensstandpunkt auf die Welt, und nicht, wie es Objektivität fördernde Recherche verlangen würde, mit wechselnden Perspektiven. So trägt er allerhand Argumente zusammen, warum die Protestbewegung in der Studie nicht so rechtsextrem erscheint, wie sie laut Medien ist: "Besonders aufgewiegelte 'Corona-Rebellen' haben sich eher nicht beteiligt. Und die, die den Fragebogen ausfüllten, wollten die 'Querdenker' möglicherweise eher als weltoffene, gut gebildete Grünen-Anhänger erscheinen lassen."

Dass sich aber umgekehrt in Telegram-Gruppen eher die "aufgewiegelten Corona-Rebellen" tummeln, während viele Menschen, die auf Demonstrationen waren oder auch nur im Stillen Teile der Corona-Politik kritisieren, gar nicht an Befragungen auf Telegram teilnehmen können, benennt der Journalist nicht. Allerdings legt die Studie von Nachtwey, Schäfer und Frei eben selbst diese Einseitigkeit vor und verzichtet vollständig auf eine objektive Benennung möglicher Verzerrungen. Auch Telepolis hatte eine Einseitigkeit der Studie in die Überschrift übernommen: "Staatskritisch, antiautoritär, nach rechts offen".

Dabei verliert die Studie weder ein normatives Wort darüber, wie die Abgrenzung nach rechts aussehen müsste, um wissenschaftliche Akzeptanz zu erfahren, noch bietet sie Empirisches für eine Abgrenzung nach links.

Weil diese "fehlende Abgrenzung nach Rechts" in den Medien von Anfang an beklagt wird, sei auch hier auf die Subjektivität hingewiesen: Beim Fußball könnte man jedes Wochenende fehlende Abgrenzung "normaler Fans" (in der Corona-Sprache wohl "berechtigter Fans") gegenüber "Ultras" und "Hooligans" skandalisieren, analog zum "Ach so, ja, Nazis sind auch da" des Spiegel (fünfter Absatz):

"Mit solchen Fußballspielen verfestigt sich die Allianz der Rechtsstaat-Leugner, in der der organisierte Extremismus nicht die Kontrolle hat, aber zu der er jetzt ganz selbstverständlich gehört."