Corona: Menschenopfer zur Rettung der Industrie?

Während sich eine dritte Welle der Corona-Pandemie ankündigt, wollen Ökonomen eine gewisse Sterblichkeit hinnehmen

Bei lediglich rund fünf Prozent lag hierzulande im vergangenen Jahr die sogenannte Übersterblichkeit, das heißt, die Zahl der über dem Durchschnitt der in den Vorjahren Gestorbenen. So die optimistische Lesart der Sterbestatistik.

Im Vergleich zu manchem anderen Land wie etwa Spanien (18 Prozent), USA (17 Prozent), Polen (18 Prozent) oder Österreich (elf Prozent) scheint Deutschland also noch ganz gut dazustehen, wie eine Darstellung der Berliner Morgenpost oberflächlich interpretiert werden könnte.

Doch der Eindruck täuscht. Die Wahl des Beobachtungszeitraums verdeckt in diesem Falle eher das hiesige Ausmaß der Pandemie. Im Dezember lag die Übersterblichkeit nämlich bei über 20 Prozent, in der 52. Kalenderwoche 2020 gar bei 33 Prozent und seit Jahresbeginn starben beinahe nochmal so viele Menschen wie in den zwölf Monaten zu vor.

34.155 Corona-Tote wurden zwischen dem 1. Januar und dem 21. Februar in Deutschland gemeldet, wie die von der Funke Mediengruppe zusammengetragenen Daten zeigen. Inzwischen liegt die Zahl der an Corona gestorbenen in Deutschland bei nicht ganz 68.000 und weltweit bei nicht ganz 2,5 Millionen.

Noch immer sterben hierzulande pro Woche mehrere Tausend Menschen. Vergangene Woche waren es 2.839, in der Woche davor 3.386. Das ist weniger als auf dem bisherigen Höhepunkt in der ersten Januarwoche, als binnen sieben Tagen 6.146 Menschen starben, aber noch immer erschreckend viel.

Zumal die Zahl der gemeldeten Infizierten nicht mehr zu sinken scheint. In der vergangenen Woche nahm sie erstmals seit Dezember wieder zu und lag mit 53.760 Meldungen auf dem Niveau von Ende Oktober und immer noch weit über dem Scheitelpunkt der ersten Welle im März vergangenen Jahres. (Zur Frage der Dunkelziffer findet sich Näheres auf dem Dunkelzifferradar.)

Der sogenannte R-Wert, der die Ansteckungsrate beschreibt, nahm in den letzten beiden Wochen deutlich zu und liegt inzwischen erstmals wieder über eins, was eine erneute Ausbreitung bedeuten würde. Besondere Sorgen macht in diesem Zusammenhang die Variante B.1.1.7, die ansteckender und offenbar auch für Jüngere gefährlicher ist, wie der Berliner Tagesspiegel schreibt.

Gefährliche Mutante

Insbesondere Flensburg an der dänischen Grenze, das bisher von der Pandemie fast verschont schien, ist stark betroffen. Dort dominiert die neue Mutante inzwischen und der Inzidenzwert, die Zahl der in den letzten sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern infizierten, liegt bei etwa 180, weit über dem Bundesdurchschnitt. Seit dem Wochenende gilt dort eine Ausgangssperre, die nicht alle für zweckmäßig halten.

Dänemark, wo die Infektionszahlen zwar weit jenseits des Höhepunkts der letzten Welle liegen aber seit Wochen auf mittlerem Niveau stagnieren, hat einen Teil der Grenzübergänge nach Deutschland nunmehr vollständig geschlossen, nach dem es zuvor schon starke Beschränkungen des Reise- und nicht geringen Pendlerverkehrs gab.

Dennoch sollen in Schleswig-Holstein – mit Ausnahme von Flensburg und dem Hamburger Speckgürtel – ab dem heutigen Montag die Grundschüler wieder in ihre Klassen. Auch in neun weiteren Bundesländern sieht es ähnlich aus.

Druck für Öffnung

Die Anzeichen für den Beginn einer Dritten Welle häufen sich, in Flensburg arbeiten die Krankenhäuser schon jetzt am Limit, doch viele Medien und Politiker machen Stimmung für Öffnungen.

Sie geben damit offenbar dem Druck aus der Wirtschaft nach. Deren Haltung brachte kürzlich der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, auf den Punkt.

Er wirbt dafür, ein bestimmtes Maß an Sterblichkeit hinzunehmen und verweist einmal mehr auf Grippewellen und Straßenverkehr: "Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sie (die Industrie) nicht zu sehr leidet, da sie die Wirtschaft bis jetzt durch die Krise trägt."

Was er allerdings vergisst er zu erwähnen, ist, dass es nicht um seine Sterblichkeit geht, sondern um die von Erntehelfern, Arbeiterinnen und Arbeiter in Schlachthöfen, Logistikzentren und Eisfabriken, Erzieherinnen und Erzieher, Gesundheitsabeiterinnen und -arbeiter, die alle überdurchschnittlich oft von Infektionen betroffen sind.

Eine britische Studie hat Ende letzten Jahres gezeigt, dass Angehörige sogenannter essenzieller Berufe (Krankenhäuser, Logistik, Pflege, Erziehung, Lebensmittelproduktion etc.) ein siebenfach erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben und dass in dien Berufen Frau und Farbige überrepräsentiert sind.

Wie im Straßenverkehr nicht die wohlhabenden SUV-Fahrer in ihren Panzern sondern Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer die Gefährdet sind, so will Michel Hüther also einen Teil der Menschen, die die Gesellschaft am Laufen halten für die Rettung der Konzerne und Deutschlands Exportwirtschaft opfern. Menschenopfer für den Götzen Profit sozusagen.