Die versteckten Corona-Toten

Die Dunkelziffer der an Covid-19 Verstorbenen ist hoch. Medizinstatistiker aus den USA haben sie ermittelt

Sind weltweit noch viel mehr Menschen an Covid-19 gestorben, als die offiziell gemeldeten Zahlen vermuten lassen? Zu dieser Einschätzung kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA, die für ihr Land von bisher über 900.000 Toten ausgehen, wie die in Hongkong erscheinende South China Morning Post am Freitag berichtete.

Das an der Universität des US-Bundesstaates Washington in Seattle angesiedelte Institute für Health Metrics and Evaluation (IHME) beobachtet seit Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 das Geschehen und hat bisher für seine Statistiken und die Modellierung der Ausbreitung die von den Behörden der unterschiedlichen Länder übermittelten Zahlen verwendet.

Doch die spiegeln das reale Geschehen nur teilweise wider, wie das Institut am Donnerstag in einem Bericht ausführte. Man sei daher dazu übergegangen, realistischere Werte zu berechnen.

In den reichen Ländern seien in der Anfangszeit der Pandemie viele in den Alten- und Pflegeheimen gestorbene Menschen nicht als Covid-19-Fälle gemeldet worden. Außerdem würden in vielen Ländern nur die in den Krankenhäusern an Covid-19 Gestorbenen gemeldet.

Doch mancherorts erliegen viele Menschen der Krankheit, bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert werden können, denn in vielen, vor allem ärmeren Ländern ist die Versorgung mit Ärzten und Kliniken noch schlechter als im von zwanzig Jahren Neoliberalismus, Privatisierungen und Fallpauschalen gebeutelten deutschen Gesundheitswesen.

Übersterblichkeit

In vielen Ländern liegt die Zahl der Todesfälle, wenn man sich die wöchentlichen Werte anschaut, über dem, was zur jeweiligen Jahreszeit zu erwarten ist. Das hat mit den an Covid-19 Verstorbenen zu tun. Diese Abweichung wird Übersterblichkeit genannt.

In einigen Ländern wie Russland, Peru oder Ecuador ist aber die Übersterblichkeit erheblich größer als die jeweilige Zahl der gemeldeten Pandemie-Toten, ein deutlicher Hinweis darauf, dass nicht alle Todesfälle in den Corona-Statistiken auftauchen.

Allerdings folgt daraus nicht unmittelbar, dass alle zusätzlichen Toten auf das Konto des Virus gehen. Das IHME berechnet vielmehr aus den meist als wöchentliche Werte vorliegenden Daten der Übersterblichkeit die reale Zahl der Covid-19-Todesfälle, indem die offiziell gemeldeten Zahlen sowie fünf weitere Faktoren berücksichtigt werden:

Zum einen sind da zwei Faktoren, die die Sterblichkeit erhöhen. Menschen sterben häufiger a) aufgrund der von der Pandemie verursachten schlechteren Gesundheitsversorgung und b) vermehrt an Depressionen, anderen psychischen Problemen und gesteigertem Alkohol- und Drogenmissbrauch.

Zum anderen vermindert die Pandemie die Sterblichkeit durch c) Abnahme der Unfälle aufgrund verminderter Mobilität, d) verminderte Übertragung anderer Viren, insbesondere Influenza, Atemwegserkrankungen und Masern, und schließlich dadurch, dass e) weniger chronisch an Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen Leidende an diesen sterben, weil sie zuvor an Covid-19 erkrankt sind und als Covid-19-Todesfälle in die Statistik eingehen.

Mehr als doppelt so viele Opfer

Aufgrund dieser Berechnungen ergeben sich dann von März 2020 bis Anfang Mai 2021 für die USA statt der gemeldeten 574.043 Fälle etwa 905.000. Dort bewegt man sich also bereits auf eine Million Corona-Tote zu.

Auch im ohnehin schwer getroffenen Indien ist die Bilanz noch schlimmer, als es die offiziellen Statistiken erahnen lassen. Statt der gemeldeten 221.000 starben dort bereits 654.000.

Eine besonders große Diskrepanz gibt es in der Russischen Föderation, die offiziell bisher 109.000 Todesfälle meldet, aber nach den Berechnungen des IMHE schon 593.000 Corona-Tote zu beklagen hat.
Weltweit sind demnach statt der für den genannten Zeitraum gemeldeten 3,24 Millionen mehr als doppelt so viele Menschen an dem neuen Virus gestorben, nämlich 6,93 Millionen.

Und in Deutschland kommen zu den bis Anfang Mai gemeldeten rund 83.000 Corona-Opfern (aktuell sind es rund 84.500) noch einmal mehr als 37.000 hinzu. (Hier die deutschen Todesfalldaten mit der Übersterblichkeit.)