Zwingt uns China, unsere Weltsicht anzupassen?

100 Jahre Kommunistische Partei Chinas: Beobachtungen eines Nichthistorikers und Nichtmarxisten zu China. Ein Essay (Teil 2)

In China geht die alte hegelianische und marxistische dialektische Philosophie aus Europa heute einher mit älterer konfuzianischer Philosophie der Gemeinschaftlichkeit, der komplexen Widerspruchsentwicklung (statt mechanisch-linearen Denkens), des Aushaltens von Anderssein und Widerspruch, der Kooperation und der Prozess- statt einseitiger Ergebnisorientierung, etwas, was im Übrigen in ganz Südostasien, von Daoismus und buddhistischen Volksreligionen verstärkt, die Kulturen prägt. Und nicht zuletzt zur relativ guten und disziplinierten Bewältigung der Corona-Pandemie in Südostasien beigetragen hat.

Die beiden berühmten singapurischen Wissenschaftler und Diplomaten Parag Khanna und Kishore Mahbubani verzweifeln fast daran, den "Wessis" zu erklären, dass sie doch endlich versuchen sollen, die südostasiatische(n) Kultur(en) zu verstehen.

Wenn China zum Beispiel von globalen Kollektivgütern spricht oder von den "Menschheitsproblemen" Pandemie oder Klima, haben wir nur Verachtung, Häme oder Verdächtigungen über hinterhältige Absichten parat (in Wirklichkeit eine Projektion der 200 Jahre eigener Schandtaten), und die Halb- und Pseudo-Liberalen, -Grünen und -Linken dozieren vom hohen Ross.

Ihre eigenen Biografien dabei verachtend: Was haben sie selbst in vier bis fünf Jahrzehnten an Alternativen- und Esoterik-Debatten im Westen erreicht, außer den einen oder anderen Ministerposten?

Die Klimareduktionsziele sind im Westen zwar ein großes Thema, aber das erklärte 1,5-Grad-Ziel bei dem wenigen, was hier tiefenstrukturell passiert, praktisch nicht mehr erreichbar. Denn wo ist die öffentliche Handlungs- und Durchsetzungs-Fähigkeit, hunderttausende von Diesel-Trucks, diese rollenden Endloszüge von unseren Autobahnen, die unsäglichen Diesel-Container- und -Kreuzfahrt-Schiffe von den Meeren zu holen oder die zwanghafte Party-, Konsum- und Amazon-Lieferando-Gesellschaft zu durchschlagendem, tagtäglichem ökologisch verantwortlichem Handeln zu reorganisieren?

In China wurden in zwei Jahren eine Million Dieseltrucks aus dem Verkehr gezogen, und der Seidenstraßen-Zug durch Eurasien ist zum ökologischsten globalen Transportmittel geworden.

Menschenrechtelnder Werteuniversalismus und, wenn man so will, -Imperialismus kommen in Südostasien und der heutigen Welt insgesamt gar nicht mehr gut. Die VWs, Boschs, Siemens oder SAPs und die vielen Mittelständler haben begriffen, dass wir unsere Weltsicht anpassen müssen: Die letzten 200 Jahre europäischer Dominanz der Welt waren eben nicht die ganze Geschichte - und sie sind unwiederbringlich vorbei.

Da mag unser Herr Maas noch so sehr ums Feuer hüpfen, und da mag Frau Kramp-Karrenbauer Beijing noch so sehr zittern machen mit ihrer mächtigen Bundeswehr-Fregatte vor den chinesischen Küsten. (Von den militärischen Dinosauriern, vulgo: Flugzeugträgern, der USA, die von Hypergleitern mit bis zu 25 Mach Geschwindigkeit aus der Stratosphäre heraus in Minuten ausgelöscht werden können, fangen wir gar nicht erst an.) Man stelle sich nur vor, die chinesische Marine (womöglich noch zusammen mit der russischen) würden Dauermanöver vor Helgoland, Sylt oder Fehmarn abhalten – natürlich nur, um die "Offenheit der Meere" durchzusetzen.

UN-Millenniumziel Nummer Eins erreicht

Nun konnte die Volksrepublik also im Oktober 2019 ihren 70. Jahrestag feiern und dabei auf den vermutlich beeindruckendsten Entwicklungserfolg der Geschichte blicken. Das Land hat innerhalb weniger Dekaden für sich eine ganze Reihe von grundlegenden Menschheitsproblemen gelöst. So hat es etwa die Lebenserwartung der Bevölkerung mehr als verdoppelt, die Armut im Land genauso beseitigt wie das Analphabetentum und die Gleichstellung der Geschlechter realisiert.

Die meisten Starts-ups in China sind inzwischen von Frauen geleitet! Zwar mit jahrzehntealten gesetzlichen Rechten ausgestattet, aber ganz ohne "identitäre" Quoten-Regelungen, die Politikerinnen der etablierten Parteien die Wege in die Konzernvorstände ebnet, für die Arbeiterin, die Pflegerin und Kassiererin im Supermarkt aber bedeutungslos ist.

China ist das erste und bisher wohl auch das einzige Land der Welt, das das UN-Millenniumziel Nummer Eins, die Bekämpfung der Armut, laut UN die Halbierung des Anteils der Menschen, die weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zum Leben haben, zwischen 1990 und 2015, "übererfüllt" hat. Die weltweite Armutsreduktion zwischen 1990 und 2015 ging so zu mehr als 70 Prozent auf Chinas Beitrag zurück.

Und im Jahre 2020 ist die absolute Armut in China vollständig beseitigt worden. Die chinesische Armutsschwelle von 3,20 US-Dollar, unter der die chinesische Armutsquote also null Prozent beträgt, liegt global noch bei etwa 28 Prozent!

Die Armutsschwelle, die in China angewendet wird, 3,20 US-Dollar Mindesteinkommen pro Tag, ist die "Lower Middle-Income Class Poverty Line" nach Weltbank-Definition. Da China zwischenzeitlich aber mit knapp 12.000 US-Dollar Pro-Kopf-Jahreseinkommen schon in die "Upper Middle-Income Class" aufgerückt ist, ist das Kapitel Armutsbekämpfung in China natürlich alles andere als abgeschlossen.

Aber auch die nächste relevante Schwelle von 5,50 US-Dollar für die "Upper Middle-Income Economies" wird nicht das letzte Wort sein, denn die neuen nachhaltigen und resilienten Wirtschaftsförderungs- und -Entwicklungs-Konzepte für die letzten Kleinstethnien und entlegensten Bergdörfer oder die traditionellen Wüstenrand-Regionen sind so, dass die Bauern, Dorfgenossenschaften und TVEs (Township and Village Enterprises) nicht nur das schnelle Internet, die Laptops und die Kleinst-E-Laster bekommen haben, sondern auch gelernt haben, ihre Spezialprodukte auf Taobao selbst zu vermarkten. Taobao ist die chinesische Onlineplattform für Bauern, KMU und Einzelhandel, die 2003 vom Mutterkonzern Alibaba eingeführt wurde.

Und in den neu aufgepflanzten riesigen Waldregionen, die heute die Wüsten zurückdrängen, bieten sich Gelegenheiten für viele neue Spezialprodukte: Nüsse, Früchte und Waldprodukte aller Art - und für Bauern als Touristenführer. Denn die junge Frau in Beijing oder Shenzhen, die mit ihrer App Ant Forest seit Jahren spielerisch durch Kauf- und Alltagsverhalten Punkte gesammelt, virtuelle Bäume "gewässert" hat und am Ende reale Bäume von Umweltagenturen, NGOs oder Unep hat pflanzen lassen, will ihre Bäume nicht mehr nur per Drohnenaufnahme sehen können, sondern anfassen.

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