Frankreich: Hundertausende protestieren gegen Gesundheitspass

In Paris und vielen Großstädten zeigten große Menschenmengen ihren Widerstand gegen die Corona-Politik von Macron. Es waren mit über 240.000 Teilnehmern mehr zuvor; die Demonstrationen verliefen weitgehend friedlich

Hundertausende machten gestern auf den Straßen in Paris und anderen französischen Großstädten, etwa in Bordeaux, Nizza, Toulon, Montpellier, Toulouse und Straßburg, darauf aufmerksam, dass sie mit den eingeschränkten Zutrittsrechten durch den Gesundheitspass (siehe Textende) nicht einverstanden sind.

Sie sind anderer Meinung als die Verfassungswächter des Conseil constitutionel, die das dafür grundlegende Gesetz (loi sanitaire) vergangene Woche als verfassungsgemäß einstuften, weil es ihrer Auffassung nach die Balance zwischen Freiheitsrechten und Maßgaben des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung einhält.

Nach einer Umfrage der vergangenen Woche, erschienen in der marktliberalen Zeitung Les Echos, Besitzer ist der Branchenführer der Luxusgüterindustrie, LVHM, mit dem Milliardär Bernard Arnault an der Spitze, sollen 77 bis 80 Prozent der Franzosen bereit sein, den Gesundheitspass im täglichen Leben zu benutzen, wie gestern Le Monde berichtete.

Gestern bot sich die Gelegenheit an, noch einmal herauszustellen, wie die Mehrheitsverhältnisse im großen Bild aussehen und auch die deutschen Medien griffen bei ihrer Berichterstattung auf dieses Umfrageergebnis zurück, um den zahlenmäßig beeindruckenden Protest ein "aber" entgegenzuhalten.

Man tut sich schwer mit diesem Widerstand, französisch "la contestation", linksrheinisch wie rechtsrheinisch.

150 Protestveranstaltungen im ganzen Land

Die Teilnahme an Demonstrationen ist aber etwas anderes als die Teilnahme und das Meinungskreuzl bei Umfragen. Sich die Proteste genauer anzuschauen, müsste der Regierung wichtig sein; Äußerungen von Macron in der vergangenen Woche zeigen, dass er dazu neigt, sie in der öffentlichen Debatte als "wenig vernünftig", um es sachte zu sagen, darzustellen - als Opfer von fake news, um es grobkörniger zu sagen, irrationale oder irregeführte Empörte. Auch Macron nutzt die Polarisierung für seine Zwecke.

Immerhin aber stellten die großen Medien gestern heraus, dass die über 150 Protest-Veranstaltungen im ganzen Land im Großen und Ganzen friedlich verliefen. Die Kritik, die man aufseiten der Regierung den Protesten regelmäßig entgegenhält, insbesondere, wenn Gelbwesten mit von der Partie sind, nämlich Gewaltausschreitungen, war gestern nicht ausgeprägt genug, um die üblichen Schlagzeilen zu produzieren.

Die Zahlen und das Geschehen

Man kann davon ausgehen, dass die Zahl von 237.000 Demonstranten in ganz Frankreich, wie sie vom Innenministerium gestern um 19 Uhr mitgeteilt wurde, die Realität nicht genau abbildet. Die Zahl ist eine "konservative Schätzung", die mit politischem Bedacht niedrig gehalten wird.

Wie viele es genau waren, ist nicht zusagen. Unter entsprechenden Hashtags findet man auf Twitter dann unterschiedliche persönliche Einschätzungen ("mit Faktor 5 multiplizieren"), wo dann ebenfalls der politische Wille mitspielt - in vielen Fällen mehr erregt als bedächtig. Die Plattform ist nun mal erregungsverknallt.

Aber man findet dort viele Aufnahmen von Demonstrationszügen in den verschiedenen Städten und selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Überzeugungskraft von Bildaufnahmen und Clips von der Perspektive abhängt, so führen sie doch vor, dass die Opposition gegen die Gesundheitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 nicht gut kleinzureden ist.

Man muss dazu gar nicht auf die Seiten der Unterstützer oder Sympathisanten der Proteste gehen. Siehe etwa das Bildmaterial von Clément Lanot, das auch von größeren Medien verbreitet wird. In Bordeaux, Marseille und Nizza, um nur diese Beispiele zu nennen, waren größere Menschenmengen auf der Straße.

Die Politik in Frankreich wird nach wie vor in Paris gemacht. Dort zählte man offiziell nur 17.000 Demonstranten, was Augenzeugen als lächerlich beurteilten. Wer sich dazu aus der Ferne ein Bild machen will, kann bei Aude Lancelin mehr erfahren. Sie hat früher bei namhaften reichweitenstarken Medien gearbeitet und wurde dann mit ihrer Kritik an der Mainstream-Berichterstattung durch den Umgang mit den Gelbwesten-Protesten darin bestärkt, mit Quartier Général (GQ) eine eigenständige Medienarbeit aufzuziehen.

Diese zeigt auch immer wieder ihre Schlagseiten und Dellen, etwa in der unkritischen Begleitung von "Heroen" der Opposition, aber die Beiträge, die auf ihrer Twitterseite zu finden sind, sind eine nützliche und gute Ergänzung dessen, was in den reichweitenstarken Medien an Informationen und Einbettungen ("framing") präsentiert wird. Und sie führt damit auch vor, dass Twitter seine guten und nützlichen Seiten hat, wenn man Informationen und intelligente Beiträge sucht.

Ab Sonntagmittag kann man auf dem You-Tube-Kanal von GQ eine Reportage zu den Protesten gestern in Paris anschauen; einen Ausschnitt gibt es hier.

Das ist freilich ein Zoom, nicht das große Bild, vermittelt aber einen Eindruck, dessen was sich auf der Straße zutrug. Die große Frage, wer denn nun auf der Straße genau protestiert, welchen Motiven und Bewegungen das genau zuzuordnen ist, wird dadurch nicht beantwortet.

Interpretationen und Motive

Das ist die Frage, die sich seit gestern mit einem gewachsenen Interesse stellt. Denn gestern war der vierte Protest-Samstag in Folge und jedes Mal werden mehr Demonstranten registriert. Am 17. Juli waren es 114.000; am 24. Juli 161.000 und am 31. Juli 204.900 - nach Schätzungen des Innenministeriums.

In Paris gab es gestern vier Demonstrationszüge. Besonders herausgestellt wurde, dass einer von den Gelbwesten (Gilets jaunes) mobilisiert wurde und einer vom rechtsextremen Politiker Florian Philippot, früher der rechte Arm von Marine Le Pen beim Front National. Den Gelbwesten wird nun öfter der Begriff "Ultra" vorangestellt, um auch da rechte Triebkräfte der wiederaufstandenen Bewegung in den Aufmerksamkeitsfokus zu stellen. Gelbwestenvertreter wehren sich gegen diese Zuschreibung und halten das für eine Verzerrung.

Solche Lagerzuschreibungen sind Etiketten für den politischen Streit; zugleich aber erscheint der einfache Schluss daraus - "alles nur Polemik, Manipulation" - bequem, einfältig und ungenau. Dass sich die Rechten in Frankreich darum bemühen, vom Widerstand und Protest zum Gesundheitspass politisch zu profitieren, ist offensichtlich. Neben Philippot traten noch andere Exponenten der extremeren Rechten bei den Demos auf - gut sichtbar, auch weil sie Wert auf diese Bühnenpräsenz legen.

Die Gelbwesten haben - je nachdem -, ihre Mühe damit, sich davon abzugrenzen oder sie wollen es nicht. Immerhin aber, und das ist nicht unwichtig, achten sie darauf, dass die Demonstrationszüge getrennt verlaufen. Man kann die große Menge an Gelbwesten und deren Unterstützer nicht in denselben Topf werfen, wenn man vorhat, sachlich zu bleiben und keine Polemik zu betreiben.

Eine gewisse Vorsicht war gestern auch in Berichten der großen Medien zu spüren, die Wert darauf legten, die Vielfalt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste herauszustellen. Es wurden viele Familien gesichtet, viele "normale" Menschen, die dann von Reportern nach Gründen ihrer Teilnahme gefragt wurden.

Herauskamen dann Meinungen von Demonstrationsteilnehmern, die der Leserschaft bekannt vorkommen dürften: "Nein, ich bin nicht gegen die Impfung, aber gegen den Impfzwang"; "Ich bin gegen die Zwangsimpfung, nicht gegen den Impfstoff. Ich halte es für freiheitsfeindlich, dass die Regierung versucht, uns zu kontrollieren, und dass das nicht normal ist. Es ist unsere Pflicht als Bürger und die unserer Generation, dagegen zu kämpfen"; "Das ist eine Logik der Erpressung im Spiel, die mich abstößt. Ich mache mit (bei der Demonstration, Anm. d. A.), um die Kontrolle über die Bürger wiederzuerlangen. Denn all dies wird ohne jegliche Kontrolle entschieden, mit einem Parlament, das mehr so funktioniert wie ein Aufnahmeraum im Rundfunk."

Le Monde beschriebt das Klima gestern bei den Protesten in Paris so:

Alle Befragten erklärten, sie wollten "die Freiheit verteidigen" und beabsichtigten, "bis zum bitteren Ende" gegen das zu kämpfen, was sie als eine Art "Segregation" zwischen den Franzosen je nach ihrem Impfstatus betrachteten. Ebenso äußern sie Zweifel an der Wirksamkeit und Relevanz von Impfungen. Dennoch ist die allgemeine Atmosphäre gutmütig, ohne dass es dieses Mal zu Anfeindungen gegenüber den Medien kommt.

Le Monde

Nachzutragen wäre, gegen welche Regelungen für den Gesundheitspass der Conseil Constitutionel keine Einwände hatte:

Der Verfassungsrat hat die Verlängerung des Gesundheitspasses genehmigt:

- in Cafés und Restaurants, auch auf Terrassen, sowie in Flugzeugen, Zügen, Reisebussen für lange Reisen, Messen, Seminaren und Ausstellungen, ab Montag;

- in bestimmten Einkaufszentren "oberhalb eines bestimmten, per Dekret festgelegten Schwellenwerts" und wenn "die Schwere der Kontaminationsrisiken" auf Ebene eines Departements dies rechtfertigt;

- für Besucher oder Nicht-Notfallpatienten in Gesundheitseinrichtungen und Altenheimen, sofern der Ausweis "den Zugang zur Versorgung nicht behindert".

Das Gesetz, das "bis einschließlich 15. November 2021" gilt, sieht auch eine Impfpflicht für Pflegekräfte und andere Berufsgruppen vor, die Kontakt zu schutzbedürftigen Personen haben. Sie haben bis zum 15. Oktober Zeit, einen vollständigen Impfplan vorzulegen. Für den Fall, dass kein Passierschein ausgestellt wird, sieht der Text auch ein Verfahren zur Aussetzung des Arbeitsvertrags ohne Bezahlung vor.

Le Monde

Gestrichen wurde eine Regelung der Regierung, die die Kündigung von Angestellten mit zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen als Möglichkeit vorsah, wenn sich die Angestellten nicht impfen lassen.

Man kann an dieser Regelung sehr gut erkennen, dass die Regierung Macron ein größeres Problem mit ihrer Sozialpolitik hat. Dieses wird, so wie sie sich auch zuletzt in der Corona-Krise verhalten hat (nach dem Prinzip von oben nach unten), mit wenig Rücksichtnahme auf die soziale Realität vieler, nicht kleiner werden, sondern eher größer.