Wie ich lernte, "Volt" zu lieben

Allmählich müssen wir uns überlegen, welche Stimme bei den kommenden Wahlen das kleinste Übel bedeutet - eine Reise durch die Welt der Wahlomaten

Es ist wirklich schwer einzusehen, wie Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, imstande sein könnten, diejenigen gut auszuwählen, die sie regieren sollen.

Alexis De Tocqueville, "Über die Demokratie in Amerika"; 1840

Ein Wunder, dass es noch keinen Corona-Mat gibt. Ein Tool, bei dem man über die verschiedenen Optionen der Corona-Politik von "Impfzwang" bis "Alles Aufsperren", vom "Tübinger Modell" bis "Harter Lockdown", von Streeck bis Drosten seine Vorlieben benennen kann und dann bei "Neuseeland" oder "Schweden" landet.

"Realisiere als Kanzler Deine eigenen Wahlversprechen und entscheide selbst, mit wem du regierst"

Da wir aber - kaum zu glauben, aber wahr - in gut einer Woche tatsächlich wissen, wer die Bundestagswahl gewonnen hat, wissen wir dann vermutlich auch, wer der neue Bundeskanzler wird. Oder die Kanzlerin - klar: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Jeder kann Kanzler, oder? Nur Baerbock, Laschet, Scholz nicht. Wenn wir doch bloß selber regieren dürften! Wenn wir schon nicht Bundestrainer werden können.

Für alle Naseweisen, die wirklich glauben zu wissen, wie einfach das alles ist, sei der Besuch beim Kanzlersimulator empfohlen. So etwas gibt es wirklich! Es ist zwar ein Projekt von "Planet Schule", hilft aber dabei, auch Erwachsenen wieder etwas Demut vor der Politik beizubringen. Die Aufgabe: "Realisiere als Kanzler Deine eigenen Wahlversprechen und entscheide selbst, mit wem du regierst."

Da geht es schon los: Werden auch Baerbock, Laschet, Scholz selbst entscheiden können? Für den Wahlsieg kann man dort nicht nur Sachpunkte, sondern auch Sympathiepunkte sammeln. Und wetten dass: Manchmal gehen Sachpunkte auf Kosten der Sympathiepunkte und umgekehrt - dafür könnte man sich mal mit Markus Söder unterhalten.

Nie gesondert gewichtet, schnell, knackig und instinktiv

Wahlomaten sind kein Spiel, und sie sind nicht ganz ernst. Darum macht es Spaß, sich mit ihnen zu beschäftigen; es ist aber auch ein intellektuelles Vergnügen und nicht in jedem Fall richtig bequem. Jedenfalls ging es dem Autor im Selbstversuch so. Ganze drei Stunden lang hatte er sich neulich mit Wahlomaten beschäftigt. Weil damals das Tool für die kommende Wahl noch nicht online war, mussten die immer noch online stehenden für die Europawahl 2019 und für die Landtagswahlen dieses Frühjahrs herhalten. Überdies gibt es diverse weitere Alternativen und seit Anfang September den Wahl-o-mat der Bundeszentrale für politische Bildung.

Wenn man viele davon benutzt, sind sie schon ganz gute Indikatoren für das eigene politische Unbewusste. Manches hat den Autor zwar gar nicht gewundert, aber insgesamt war er doch überrascht.

Ein paar Grundsätze galten für den Selbstversuch: Antworten wurden nie gesondert gewichtet. Und die Fragen wurden schnell, knapp und instinktiv beantwortet.

Der Politnavi hilft dabei, zunächst einmal ganz allgemein die eigene Position in der existierenden Parteienlandschaft zu bestimmen. Der Nachteil: Kleinere Parteien kommen hier bislang gar nicht vor. Und manche Einordnung der bestehenden Parteien sind aus meiner Sicht fragwürdig.

Der Voteswiper ist interessant. Der Sozialomat beschränkt sich auf komplett auf soziale Fragen, der Klimawahlcheck kennt auch nur ein Thema. Ebenso der Agraromat. Und dann ist da noch die Progressomaschine von "DeutschPlus". Dabei handelt es sich nach eigenen Angaben um eine Hilfe, um im Wahlchaos den Durchblick zu bewahren.

Gemeinsam mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis haben wir zur Bundestagswahl 2021 eine Online-Wahlentscheidungshilfe entwickelt: Die. Sie ist das erste Wahltool, das die Parteien an den Themen soziale Gerechtigkeit, faire Arbeit und Wirtschaft, konsequenter Klimaschutz, humane Migrationspolitik, Inklusion und Chancengerechtigkeit und ihrer Arbeit gegen Rassismus und Diskriminierung misst.

Progressomaschine

Es gibt auch noch den Wahlkompass und Wahltraut.

Wo bleibt der Freiheits-Wahlcheck?

Es kennzeichnet übrigens die augenblickliche Situation in Deutschland, dass es zwar diese ganzen Wahl-Checks und Ratgeber zu allen möglichen Perspektiven und Themen gibt, aber keinen Freiheits-Wahlcheck, keinen Bürgerrechts-Wahlcheck, keinen Digitalisierungs-Wahlcheck, keinen Schul- und Kinder-Wahlcheck. Sondern es sind die "first world problems", sowie die speziellen Lebensprobleme aus Sicht der Kirchen- und Sozialverbände. Und, ok, die Probleme der Klimafragen, bei denen man im Einzelnen aber genauer hinschauen muss.

"Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will", wusste Jean-Jacques Rousseau.

Vielleicht sollten wir uns einmal die Frage stellen: Wären wir denn für eine Diktatur, wenn sie nur für das Richtige ist? Wären wir für eine Einschränkung der Freiheit, wenn sie nur das Gute bewirkt?

Alternativen zum Parlament

Viele aufschlussreicher als die Themen-Checks erweisen sich die Wahlomaten zu den verschiedenen Kommunalwahlen der letzten zwei Jahre. Zum Beispiel Bonn oder Kiel. Sie sind erstaunlich gut und detailliert. Hier findet man sehr konkrete Antworten auf sehr konkrete Fragen und hier kann man auch kleinere Parteien wie die "Piraten" und "Volt" miteinander vergleichen.

Der Autor will hier nicht hinterm Berg halten, was da bei ihm herauskommt. Zumal er aus den Reaktionen vieler Leser weiß, dass Ansichten über seinen politischen Standpunkt stark auseinandergehen - was für einen unabhängigen Journalisten kein unangenehmes Urteil ist.

Manche halten ihn für einen Neoliberalen oder einen klaren FDP-Anhänger (was nicht dasselbe wäre), andere für einen Erzkonservativen, sogar Querdenker, andere wieder für einen Linken oder Linksradikalen und bis auf die AfD wurde ihm hier im Forum bereits jede Parteizugehörigkeit schon angedichtet.

Ganz falsch liegen alle nicht, allerdings ist die Partei, die in allen seinen Wahlchecks konstant ganz unten liegt, tatsächlich die CDU. Der Autor hat mit ihr einfach nichts am Hut. Was daran erschreckend ist: Die AfD liegt dort, wo er sie nicht vorher ausgeschlossen habe, konstant besser als die Union. Was hat er falsch gemacht?

Wie manche Leser hätte der Autor erwartet, dass die FDP in seinem Fall besser abschneidet. Tatsächlich liegt sie zwar deutlich vor AfD und Union, aber auch deutlich hinter allen anderen Parteien.

Die im Parlament vertretenen Parteien, mit denen er mehr Schnittmengen hat, werden in den meisten Wahlomaten von der SPD angeführt, in manchen auch von der Linken, eigentlich nie von den Grünen, die an dritter oder vierter Position liegen - klar vor der FDP, aber doch hinter SPD und Linke. Die zwei bis drei Parteien, die allerdings immer deutlich vor allen im Parlament vertretenen Parteien liegen, sind manchmal die Freien Wähler oder die Humanistische Union.

Mit sehr deutlichem Vorsprung aber führt fast immer die Piratenpartei und vor allen anderen noch mal mit klarem Vorsprung vor Volt. Diese kleine sozialliberale Partei, die man vielleicht als eine Kombination aus SPD und Piratenpartei definieren kann, die jung ist, sehr digitalisierungsfreundlich, europa-freundlich und grenzfeindlich, diese Partei konnte in der letzten Zeit einige bemerkenswerte Erfolge einfahren: Bei den Landtagswahlen in NRW und in Hessen gewannen sie viele Stimmen und sitzen jetzt nicht nur in vielen Stadtparlamenten, sondern sogar in manchen Koalitionen, etwa in Städten wie Köln oder Darmstadt.

Bei der letzten Europawahl gewannen sie genug, um mit einem Sitz im Europäischen Parlament vertreten zu sein. Der Autor glaubt, dass diese Partei Zukunft hat, weil sie Defizite von SPD, Grünen und Linken und sogar FDP ausgleicht und gewisse Stärken dieser vier veränderungsbereiten Parteien zu verbinden scheint.

Und wären Stimmen für solche Kleinstparteien tatsächlich "verlorene Stimmen"? Nach aktuellen Umfragen liegen die Sonstigen bei gut zehn Prozent, und damit vor der Linken und zum Teil auch vor der AfD. Die Freien Wähler und Volt dürften zumindest bei der übernächsten Wahl echte Chancen auf den Einzug in den Bundestag haben. Und wenn man mit einer Stimme für sie auch sonst nichts bewirken sollte, und der "Denkzettel für die Etablierten" nicht zur Motivation reicht, dann kann man einigen dieser Parteien doch zumindest die Wahlkampfkostenerstattung (3,40 bis 4,20 Euro pro Zweitstimme) gönnen.

Gegen die "postdemokratische Simulation"

Ist das alles überhaupt sinnvoll? Entscheiden Wahlen noch irgendetwas? Ist es wichtig, wer regiert? Schon vor Jahren schrieb Isolde Charim über "postdemokratische Simulation". Gemeint war damit nicht der Kanzlersimulator, sondern die Müdigkeit der Demokraten, der Eindruck, dass die Parteien sich kaum unterscheiden, Alternativen nicht zu Wahl stehen, und "das System" aus der Macht von Bürokratie und Ökonomie sowieso stärker ist, als der Wählerwille.

Widerlegen kann man solche Thesen nur, wenn man wählt und sich etwas traut. Also vielleicht nicht CDU, Grüne, SPD (hier alphabetisch), sondern eben FDP, Linke oder Volt, Piraten, Humanisten, Freie Wähler oder so etwas.