Die Mörder sind wieder unter uns

Abschnitt 29 auf dem Hauptfriedhof von Santiago de Chile. Hier finden sich Gräber anonymer Opfer der Diktatur. Bild: Mabel Vargas, CC BY 2.0

Zunehmend finden verurteilte oder mutmaßliche Straftäter aus Lateinamerika Zuflucht in Deutschland. Wie passt das zum menschenrechtlichen Anspruch der Bundesregierung?

Je mehr sich Staaten in Lateinamerika seit einigen Jahren der juristischen Aufarbeitung der Militärdiktaturen des vergangenen Jahrhunderts widmen, desto mehr zeichnet sich in Deutschland ein entgegengesetzter Trend ab: Auf der einen Seite des Atlantiks, in Lateinamerika, werden Folterer und Mörder für ihre Taten zunehmend zur Verantwortung gezogen und vor Gericht gestellt.

In Deutschland indes hingegen finden Folterer, Mörder und ihre Helfer, sogar rechtmäßig Verurteilte, Zuflucht vor der Justiz – sofern sie (auch) einen deutschen Pass besitzen oder beantragen können. Denn "kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden", wie es in Artikel 16 des Grundgesetzes heißt.

Für Menschenrechtsaktivisten muss es wie ein Zynismus der Geschichte wirken, dass Straftäter mit deutschem Pass in den vergangenen Jahren ausgerechnet unter Bundesregierungen mit SPD-Beteiligung einen sicheren Hafen in Deutschland gefunden haben, der Sozialdemokrat Heiko Maas dem einstigen Organisator der 1968er-Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", Reinhard Strecker, zugleich aber das Verdienstkreuz am Bande mit der Begründung verlieh, Strecker habe einst "das getan, was die westdeutsche Nachkriegsjustiz viel zu lange versäumt hat: die Täter (…) zu ermitteln und anzuklagen."

Nicht für alle verurteilten oder mutmaßlichen Verbrecher aus Lateinamerika mit deutscher Familiengeschichte geht die Flucht nach Europa gut aus. Vor wenigen Wochen wurde der Deutsch-Chilene Reinhard Döring in Italien festgenommen. Er wartet nun auf seine Auslieferung nach Chile. Die Justiz dort hat ihn angeklagt, weil er an der Verschleppung und Ermordung von Oppositionellen während der Militärdiktatur (1973-1990) beteiligt gewesen sein soll.

Dörings Fehler: Er missdeutete seinen Schutz durch eine gleichgültige deutsche Justiz als juristische Normalität. Die italienische Justiz belehrte ihn sowie deutsche Richter und Staatsanwälte eines Besseren. Nun wartet der ehemalige Vertraute des Gründers der ehemaligen Deutschensiedlung Colonia Dignidad im Süden Chiles auf seine Auslieferung. Zum Verhängnis könnte ihm seine mutmaßliche Beteiklugung an Entführung und Ermordung der Demokratieaktivisten Juan Maino, Elizabeth Rekas und Antonio Elizondo im Jahr 1976 werden.

2004 hatte sich Döring, wie andere Vertraute des Colonia-Dignidad-Führers Paul Schäfer, in Gronau im Münsterland niedergelassen. Seinen Unterschlupf dort wird er wohl nicht mehr wiedersehen.

Hopp, Kyburg, Klug Rivera – die Liste wird länger

Bekannter als Döring ist der Fall des ehemaligen Arztes der Colonia Dignidad, Hartmut Hopp. Der Mann lebt seit seiner Flucht nach Deutschland im Jahr 2011 in Krefeld. Nach einem jahrelangen Ermittlungsverfahren hatte die dortige Staatsanwaltschaft die Akte Hopp 2019 geschlossen. In Chile ist der Vertraute von Sektenchef Schäfer wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch Minderjähriger rechtskräftig verurteilt. Seiner Haftstrafe entzog er sich durch die Flucht in die Bundesrepublik.

Die NRW-Juristen gaben an, man habe zahlreiche Zeugen in Deutschland und Chile vernommen und damit alle Ermittlungsansätze ausgeschöpft.

Opfer der deutschen Sektensiedlung zeigten sich fassungslos und erklärten, ihr Vertrauen in die deutsche Justiz sei erschüttert. Die Anwältin Petra Schlagenhauf, die einige Opfer vertreten hat, gab an, viele der von ihr benannten Zeugen seien nie gehört worden.

Inzwischen sind ein Klageerzwingungsverfahren und eine Aufsichtsbeschwerde beim nordrhein-westfälischen Justizministerium anhängig.

Döring und Hopp – zwei der Gesichter des Schreckensregimes der Colonia Dignidad – sind Teil einer größer werdenden Gruppe auslandsdeutscher Straftäter in unserer Nachbarschaft.

Ein Jahr nach dem vorläufigen Ende des Verfahrens gegen Hopp setzte sich der ehemalige argentinische Militär Luis Esteban Kyburg nach Deutschland ab, er lebt heute in Berlin. Der Kommandant einer Elite-Einheit soll der Anklage zufolge während der Militärdiktatur in Argentinien (1976-1983) an der Verschleppung und Ermordung von 152 Menschen beteiligt gewesen sein. Auch er wird von seinem deutschen Pass geschützt.

2014 hatte sich der Deutsch-Chilene Walther Klug Rivera nach Deutschland abgesetzt, lebte fortan in der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Vallendar. Klug Rivera, dessen Großvater aus Deutschland stammte, soll den chilenischen Strafverfolgungsbehörden zufolge für Folter und Ermordung zahlreicher Demokratieaktivisten während der Diktatur verantwortlich gewesen sein.

Nach seiner Flucht nach Deutschland reiste auch er leichtsinnigerweise nach Italien, wurde festgenommen, nach Chile ausgeliefert, floh nach einjähriger Untersuchungshaft nach Argentinien und wurde dort erneut festgenommen, bevor er sich ein zweites Mal nach Deutschland absetzen konnte.

Wird Deutschland seinem Anspruch gerecht?

Wie kann es sein, dass all diese mutmaßlichen oder verurteilten Delinquenten unbehelligt in Deutschland leben können oder konnten?

"Da über viele der bundesdeutschen Ermittlungsverfahren nur wenige Informationen zugänglich sind, lassen sich über die Gründe für die Einstellung der Verfahren nur Vermutungen anstellen", schreibt der Colonia-Dignidad-Experte Jan Stehle heute bei Telepolis. Staatsanwälte, die für die Ermittlungsverfahren in Bonn zwischen 1977 und 2010 zuständig waren, seien teilweise immer noch im Justizapparat von NRW tätig, fügt Stehle an.

Das mag ein Teil der Begründung sein, offenbar steckt aber mehr hinter dem Schutz für Straftäter aus Lateinamerika. Immerhin führt das noch sozialdemokratisch geführte Auswärtige Amt "Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte" als eines der "Grundprinzipien deutscher Außenpolitik" an.

Im Fall Syriens gehört Deutschland zu den führenden Akteuren der Strafverfolgung mutmaßlicher Straftäter: Die Bundesregierung hat die Juristenorganisation Commission for International Justice and Accountability mitbegründet, die Beweise gegen Assad-Funktionäre zusammentragen soll, zugleich werden in Koblenz mithilfe dieser beweise erste Prozesse angestrengt.

Auch im Fall Kyburg bestehe ausreichender Grund zu der Annahme, dass er an der Ermordung von Oppositionellen beteiligt war, heißt es auf einer Aktivistenseite im Netz: Eine Verjährung gebe es nicht, Deutschland sei zudem aufgrund der Staatsbürgerschaft des mutmaßlichen Täters und seinem Aufenthalt in Deutschland verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten. "Am vorliegenden Fall kann sich Deutschland nun messen lassen, inwieweit es seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird", heißt es im Resümee.