"Wir haben die Kollateralschäden zu spät wahrgenommen"

Der Soziologe Armin Nassehi über Aspekte und gesellschaftliche Folgen der Digitalisierung sowie Wissenschaften und Politik in Zeiten der Pandemie

Armin Nassehi lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Soziologe ist mit zahlreichen Artikeln, Interviews, Vorträgen und Beratungen präsent. Seit 2012 gibt er gemeinsam mit dem Publizisten Peter Felixberger die legendäre Kulturzeitschrift Kursbuch heraus, die aktuelle Themen aufgreift und reflektiert.

Nassehi hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt: Gab es 1968? Eine Spurensuche (2018), Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft (2019) und Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests (2020). Er gehört unter anderem dem Corona-Expertenrat der nordrhein-westfälischen Landesregierung, dem Bayerischen Ethikrat, dem Senat der Deutschen Nationalstiftung und dem Beirat des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft an.

Sie sind Soziologe, haben auch Philosophie studiert, sind durch zahlreiche Publikationen und Auftritte bekannt und sitzen auch in manchen Räten wie dem bayerischen Ethikrat oder dem Expertenrat NRW. Sie sind auf vielen Ebenen tätig, Sie singen auch in einem Chor. Verstehen Sie sich eher als Wissenschaftler, als Gelehrter oder als Intellektueller?

Armin Nassehi: Ich bin von diesen dreien nur Wissenschaftler. Gelehrte gibt es ja nicht mehr, das war einmal eine bürgerliche Existenz, die sich um nichts kümmern musste, aber gelehrt war. Was genau ein Intellektueller ist, weiß ich gar nicht genau.

Ich bin ein Wissenschaftler und würde auch hoffen, dass meine Spuren als Wissenschaftler sichtbarer sind als die anderen Rollen, wenn ich in Habitaten auftrete, die nicht meine unmittelbaren sind wie Forschung, Lehre oder Universität.

Die anderen Rollen sind die des Kommunikators, schlau daher reden zu können, zusammenhängende Sätze zu sagen, aktuell zu sein. Aber das sollte schon durch das befeuert sein, was mich als Wissenschaftler ausmacht. Wenn das nicht so wäre, müsste ich aufhören, das zu machen.

Das sind alles Eigenschaften, die man den Intellektuellen zuordnet, die ja nicht nur Literaten, sondern auch oft Wissenschaftler waren. Sie suchen die Öffentlichkeit, was auch nicht alle Wissenschaftler machen.

Armin Nassehi. Bild: Screenshot Youtube

Armin Nassehi: Das stimmt. Ohne jetzt zu biografisch zu werden, ist die spannende Frage, wer wen gesucht hat. Ich habe das gar nicht so wirklich gesucht, das hat mich eher gefunden.

Viele Dinge werden inzwischen in neuen Öffentlichkeiten ausgetragen. Dabei geht es nicht nur um das Internet, sondern auch um Beratungskommissionen, interdisziplinären Kommissionen, die nicht nur wissenschaftlich bestückt sind; Medien, bei denen man ganz andere Formen der Sichtbarkeit bekommt.

In meinem Fall ist das auch das Kursbuch, das eine Textform ist, die zwischen Wissenschaft und Feuilleton stattfindet. Das sind sehr unterschiedliche Rollen, in denen ich eine Menge lerne. Es ist viel einfacher, einen Text, der sich einer Begutachtung stellen muss, für eine wissenschaftliche Zeitschrift zu schreiben, als die gleichen Inhalte einem anderen Publikum so hinreichend klarzumachen, ohne zu stark an Substanz zu verlieren. Zu beurteilen, ob das gelingt, bin ich der falsche Gesprächspartner.

Bleiben wir bei der Wissenschaft. Wir haben jetzt ein Pandemie-Jahr hinter uns, in dem die Wissenschaft angeblich die Politik dominiert oder den Kurs vorgegeben hat, was zu tun oder zu vermeiden ist, um Covid-19 in den Griff zu bekommen. Sie sind in den NRW-Expertenrat berufen worden, in dem Sie als Soziologe beraten haben. Gibt es denn tatsächlich von solchen Beiräten einen Wissenstransfer in die Politik hinein oder tut man eher so, als würde man sich beraten lassen, aber trifft dann doch die eigenen Entscheidungen?

Armin Nassehi: Beides natürlich. Ich forsche übrigens seit 15 Jahren genau über dieses Thema, wie wissenschaftliches Wissen in andere Praxisfelder übertragen wird. Wir wissen schon lange, dass wissenschaftliches Wissen niemals von Punkt A nach Punkt B umgetopft und dort verwendet wird. Das geht schon deswegen nicht, weil diejenigen, die die politischen Entscheidungen treffen, keine wissenschaftlichen Probleme haben, sondern politische.

Dazu gehören Interessen, die Frage des Machterhalts oder mit den Entscheidungen wählbar zu bleiben, und dazu gehören auch ganz außerwissenschaftliche Gründe. Wer das nicht weiß, sollte keine Politikberatung machen, dann ist man von vorneherein enttäuscht. Beim Übertragen würde man auch innerhalb der Wissenschaften nicht zu eindeutigen Sätzen kommen.

In der NRW-Kommission ging es teilweise sehr konfliktreich zu. Da waren sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen keineswegs einig. Das lag nicht nur daran, dass es unterschiedliche Fächer waren, sondern dass ganz unterschiedliche Auffassungen aufeinandergetroffen sind.

Wir haben aber erfahren, dass ein großes Millionenpublikum an der Wissenschaft sehen konnte, dass Wissenschaft nicht einfach sagen kann, was der Fall ist. Man kann nicht sagen: "Die Wissenschaft hat festgestellt …", um zu wissen, was Sache ist. Man hat gesehen, wie schwierig es ist, überhaupt eine Fragestellung zu entwickeln oder relativ einfache Fakten evidenzbasiert darzustellen, wenn man vorher die Dinge nicht weiß.

Was Sie gesagt haben, stimmt natürlich. Politik verwendet die Art von Expertise, die ihr nutzt. Man muss sich nur eine Enquete-Kommission des Bundestags anschauen. Wenn sich die unterschiedlichen Fraktionen Wissenschaftler:innen einladen, dann immer diejenigen, die die eigenen Programme stärker machen.

Man könnte sagen, in den Kultur- und Sozialwissenschaften sei es ohnehin üblich, unterschiedliche Auffassungen zu haben, aber das gilt auch für die Medizin und die gesamten Naturwissenschaften. Es lässt sich nur sagen: Dieser Datensatz kann mir erlauben, eine bestimmte Prognose zu erstellen, aber dann kommt ein anderer und schließt anderes daraus, was auch wissenschaftlich richtig ist.

Diese komplexe Gemengenlage finde ich als Soziologe zurzeit auch richtig spannend. Ich bin natürlich ein Krisengewinnler, weil in der Situation gerade meine Forschungsgebiete, bei denen es um die Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Medizin oder Wissenschaft und Familie geht, stark verhandelt wird.