Nordirak: Erneute Angriffe von türkischen Kampfdrohnen auf Eziden

Symbolbild: Bayhaluk/CC BY-SA 4.0

Der Krieg gegen die Eziden im Shengal hat Folgen, die auch an der Grenze zwischen Polen und Belarus zu sehen sind

Türkische Kampfflugzeuge bombardierten am vergangenen Samstag das Gebäude der lokalen Volksversammlung in Khanasor im nördlichen Shengal-Gebiet, berichtete der NRT-Reporter Nazir Shengali aus Khanasor. Bei dem Luftangriff wurden zwei Menschen verwundet und das Gebäude schwer beschädigt.

Vier Tage zuvor war der Ko-Vorsitzende des Autonomen Verwaltungsrates von Shengal und Kommandant der autonomen ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ (Yekîneyên Berxwedana Şingal), Marwan Badal, durch einen gezielten Drohnenangriff auf sein Fahrzeug getötet worden. Seine beiden Töchter überlebten den Anschlag schwer verletzt.

Eine von der ezidischen Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad gegründete Nichtregierungsorganisation verurteilte den Bombenanschlag in einer Erklärung. "Die Türkei, ein NATO-Mitglied, terrorisiert die jesidische Bevölkerung, anstatt ISIS zu bekämpfen. Die internationale Gemeinschaft hat die moralische Pflicht, sich gegen die türkische Aggression auszusprechen", hieß es in der Erklärung der NGO. Aber weder von der internationalen Gemeinschaft noch von der kurdischen Autonomie-Regierung im Nordirak oder der irakischen Regierung gab es bislang offizielle Stellungnahmen.

Das Gebäude des Volksrates von Khanasor war gleichzeitig auch das Kulturzentrum der ezidischen Bevölkerung. Der Tiroler Franz Hoellwarth, der mit verschiedenen Organisationen wie "Y.E.S" (Yezidi Emergency Support) und dem Land Tirol zahlreiche humanitäre Hilfsprojekte für die Eziden im Nordirak realisiert, ist entsetzt: "Wir haben vor Kurzem in diesem Dorf eine so nötige Lebensmittelverteilung durchgeführt, bei der ich selbst anwesend war. Und jetzt zum 2. Mal in dieser Woche die Bombardierung. Ich bin sprachlos! Wohin verdammt noch mal sollen die Yeziden zurückkehren???"

Die Menschen seien es leid, dieser ständigen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Aber auch Bagdad schweige zu diesem völkerrechtswidrigen Angriff.

Eziden, Kurden und PKK

In der Türkei sind die Eziden nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Sie werden als "Teufelsanbeter" diffamiert und diskriminiert. Ihre Dörfer wurden während der letzten Jahrzehnte in der Türkei entvölkert und zerstört, ihre Friedhöfe geschändet. Heute lebt die überwiegende Mehrheit der türkeistämmigen Eziden deshalb in Deutschland und in Schweden.

Vor 2014 gab es trotzdem erste Versuche ausgewanderter Eziden, in der Türkei ihre Dörfer wieder aufzubauen und mit Leben zu füllen. Erdogan zerstörte diese Hoffnungen, indem er der demokratischen kurdischen Bevölkerung (worunter auch die Religionsgemeinschaft der Eziden zählt) den Kampf ansagte, ganze Stadtviertel in Diyarbakir, Nuseybin und Cizre dem Erdboden gleichmachen ließ, kurdische Dörfer in den Bergen mit Übergriffen aus Helikoptern terrorisierte und dort Wälder in Brand setzte.

Im Nordirak rechtfertigt Ankara seine völkerrechtswidrigen Angriffe auf das ezidische Siedlungsgebiet mit dem Argument, die Region diene als Rekrutierungsgebiet der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die türkische Regierung definiert die ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ eigenmächtig als Ableger der PKK.

2014

Im Shengal schwelt seit Jahren ein Konflikt innerhalb der ezidischen Bevölkerung, der durch den Völkermord an den Eziden durch den IS im Jahr 2014 offen zutage trat. Ein Teil der Eziden sympathisiert nach wie vor mit der konservativen kurdischen KDP-Regierung des Barzani-Clans, die eng mit der Türkei zusammenarbeitet. Ein anderer Teil organisiert sich in Volksräten, die das Leben in den Dörfern und Städten autonom regeln und mit den ezidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ die Region militärisch schützen.

Als 2014 eben jene Peschmergas der KDP, die zum Schutz der Eziden im Shengal stationiert waren, vor dem IS flohen und die Eziden ihrem Schicksal überließen, war es die PKK, die ihnen zu Hilfe eilte und einen Fluchtkorridor nach Nordsyrien freikämpfte. Dadurch rettete sie damals Zehntausenden das Leben. Aus dieser Erfahrung lernten die Eziden, dass sie sich letztendlich selbst verteidigen müssen. Deshalb ließen sich viele Eziden von der PKK ausbilden, um heute als Selbstverteidigungseinheiten ihr Siedlungsgebiet selbst zu schützen.

Autonome Strukturen

Andererseits kamen bis heute weder von der kurdischen KDP noch von der irakischen Zentralregierung in Bagdad verlässlicher Schutz und Wiederaufbauhilfen. So entstanden im Shengal-Gebiet die heutigen autonomen Strukturen. Der nordirakischen KDP und der irakischen Zentralregierung und auch der Türkei, die dort eigentlich nichts zu suchen hat, sind diese Strukturen ein Dorn im Auge. Die Türkei erklärte das Shengal-Gebiet zum zu bekämpfenden PKK-Terrain, obwohl die PKK dort längst nicht mehr präsent ist.

Viele internationale Hilfsorganisationen sind in der Region aktiv, um humanitär zu helfen. Auch das ist der Türkei ein Dorn im Auge. Durch die ständigen Drohnenangriffe wird zwangsläufig auch das Engagement der internationalen Hilfsorganisationen ausgebremst: Natürlich möchten diese ihre Beschäftigten nicht gefährden und ziehen sich angesichts der dauernden türkischen Drohnenangriffe zurück.

Die Folgen an der polnisch-belarussischen Grenze

Die Folge davon können wir heute u.a. beim Drama an der polnisch-belarussischen Grenze sehen: Unter den Geflüchteten aus dem Irak an dieser Grenze sind auffällig viele Eziden. Eigentlich ist das zwangsläufig, denn im Irak werden sie nicht als Minderheit akzeptiert, von der Türkei werden sie bombardiert, Wiederaufbauhilfe kommt weder von der kurdischen Regionalbehörde noch aus Bagdad.

Obendrein sind die Eziden untereinander noch uneinig, ob sie zur Regionalregierung der Barzanis gehören oder im Schutz Bagdads stehen wollen; ob sie sich der jeweiligen Verwaltung unterordnen oder selbstverwaltet eine eigene Autonomie anstreben sollen.

Seit Jahren leben viele in Flüchtlingscamps außerhalb ihres Siedlungsgebietes unter menschenunwürdigen Bedingungen, traumatisiert und arm - Rückkehrperspektiven gehen gegen null. Weder die kurdische Autonomie-Regierung noch die irakische Regierung sind willens oder in der Lage, Rückkehrperspektiven zu bieten.

Türkische Angriffe gezielt gegen YBŞ-Funktionäre und Selbstverwaltungsstrukturen

Im August 2018 wurde der PKK-Kommandant Zeki Shingali bei einem türkischen Luftangriff gezielt getötet. Shingali, selbst Ezide, war in seinem weißen Pick-up auf dem Nachhauseweg von der zentralen Gedenkveranstaltung zu dem Massaker an der ezidischen Bevölkerung im August 2014. Zeki Shingali wurde von der ezidischen Bevölkerung verehrt und als Retter in der Not gefeiert, da er mit zwölf anderen PKK-Kämpfern den Rettungskorridor freikämpfte.

Im Januar 2020 kamen der YBŞ-Kommandant Zerdeşt Şengalî und drei weitere Kämpfer bei einem Drohnenangriff ums Leben.

Im August 2021 wurde durch einen türkischen Drohnenangriff der YBŞ-Kommandant Said Hassan, und sein Neffe getötet. Auch Said Hassan gehörte der Gruppe von Kämpfern an, die den Fluchtkorridor nach Nordsyrien freigekämpft hatten. Kurze Zeit später bombardierte die türkische Luftwaffe ein Krankenhaus, das im Zuge der Corona-Pandemie in einer Schule als Notfallkrankenhaus eingerichtet wurde und in dem auch Verletzte des letzten Angriffs behandelt wurden.

Neun Menschen wurden dabei getötet, darunter auch Krankenschwestern, die sich um Covid-Patienten kümmerten. Selbst eine medizinische Notversorgung will die Türkei in dieser Region des Nordiraks nicht zulassen. Das ist nur eine der vielen, eindeutig völkerrechtswidrigen Aktionen der türkischen Regierung.

Anfang Dezember 2021, am ezidischen Feiertag Rojiya Êzî, wurde der nächste YBŞ-Kommandant, Marwan Badal, durch eine türkische Killerdrohne gezielt liquidiert. Er war eine hochrangige Persönlichkeit, die an vielen Gesprächen mit der irakischen Regierung teilgenommen hatte. Im Moment des Drohnenangriffs war der in Khansor aufgewachsene Badal mit seinen Töchtern gerade für Feiertagsvorbereitungen unterwegs.