Lukaschenko, Souveränität und atomare Abschreckung

US-Atom-U-Boot bei Manöver 2020 im Arktischen Ozean. Bild: Mass Communication Specialist 1st Class Michael B. Zingaro, U.S.Navy

Wie die Expansion der Nato im Osten und Norden eine weitreichende Gegenreaktion provoziert hat und was dies mit Atomwaffen und Franz Kafka zu tun hat. (Teil 3 und Schluss)

Seit 15 Monaten ist Alexander Lukaschenko nach der gestohlenen Belarus-Wahl bereits im Amt. 15 Monate, in denen er seine Bürger gefoltert, inhaftiert und zu Flüchtlingen gemacht hat. Das sind 15 Monate zu viel.

Bild

Bei aller Bevorzugung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wegen deren gut berechenbarer Stabilität bei fremden Souveränen: Der Gebrauch der staatlichen Macht nach innen durch einen fremden Souverän, auch ein noch brutales Vorgehen einer staatlichen Macht gegen Oppositionsbewegungen im eigenen Land, ist für die europäisch-abendländischen politischen Machthaber und Staatenlenker für sich genommen kein Anlass, solchen Gebrauch der staatlichen Macht zu verurteilen und zu verdammen. Ist es doch prinzipiell der richtige Gebrauch der staatlichen Macht gegenüber drohendem Staatszerfall oder gar Revolutionen.

Auch die Durchführung und der Ausgang einer demokratischen oder weniger demokratischen Wahl löst, für sich genommen, bei den europäisch-abendländischen politischen Machthabern keinen unbedingten Handlungsbedarf aus. Weder eine Wahl, ihre Durchführung und ihr Ausgang, noch der sonstige, auch noch so diktatorische Umgang eines fremden Staatenlenkers oder staatlichen Souveräns mit der landeseigenen Opposition, nötigt die politischen Machthaber in der westlichen Hemisphäre zu einem vorschnellen Urteil darüber, ob der zu begutachtende Gebrauch der staatlichen Macht nach innen durch einen fremden Souverän gutzuheißen oder zu verurteilen ist.

Einzig die wirkliche, die praktische Stellung, die der unter ständiger Beobachtung stehende Staat oder Staatenlenker zum begutachtenden Westen und dessen Ansprüchen einnimmt, entscheidet darüber, ob der Gebrauch der staatlichen Macht nach innen Gefallen findet oder missfällt.

"Falsch", zu verurteilen, zu verdammen, zu verachten ist dieser Gebrauch der staatlichen Macht dann, wenn der infrage stehende Souverän den an ihn gestellten Ansprüchen einfach nicht genügen will.

Verdächtig macht sich ohnehin eine augenfällige, über das gewöhnliche diplomatische und praktische Maß hinausgehende, stolze Betonung der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität, wie etwa:

Wir haben zum ersten Mal in unserer Geschichte einen unabhängigen und souveränen Staat Belarus aufgebaut. [...] Fest steht aber, dass Belarus ein unabhängiger und souveräner Staat ist. Das ist ein Wert.

Lukaschenko, 30.11.2021

Ein "Wert", an dem das belarussische Staatsoberhaupt von Anbeginn an sowohl gegenüber deutsch-europäischen wie gegenüber russischen Ansprüchen festgehalten hat. Bislang.

Dieser "Wert" erweist sich gegenüber den zunehmend maßlosen Ansprüchen seitens der westlich-okzidentalen Herrschenden als immer unberechenbarer und widersetzlicher. So wird aus Lukaschenko anderes und mehr als nur ein fast drei Jahrzehnte währendes Ärgernis und ein unhandlicher Störenfried an Europas östlicher Außengrenze, nahe an Russland und der Ukraine.

Es ist Abschied zu nehmen von einer europäischen Weißrusslandpolitik, gekennzeichnet durch Dialog, Kooperation, Missbilligung, Verurteilung, Umsturzstrategien, Einkreisungs- und Einvernahmeversuchen.

Ein neues Zeitalter ist angebrochen. Doch immer noch zeigt das belarussische Staatsoberhaupt keinerlei grundlegenden Abstand zu seinem unmittelbaren russischen Grenznachbar, zum erklärten Feind; wie eh und je neigt er dem zu, anstatt sich unmissverständlich und praktisch einzureihen in die Front gegen den erklärten Feind.

Gerade heute, in diesen Zeiten, leistet Lukaschenko sich diese belarussische Unabhängigkeit und Souveränität. Gerade dann, wenn die politische Feindseligkeit von der Feindschaftserklärung zur offenen Kriegsbereitschaft gegen den Feind heranreift und die geostrategische Lage die Zurichtung des Landes zum Frontstaat so dringlich, so empfehlenswert macht.

Stattdessen aber verhindert Lukaschenko einen Staatszerfall und damit die Perspektive einer gänzlichen Neuausrichtung, einer entschlossenen Westorientierung und Integration in das westliche, antirussische Kriegsbündnis. Und nimmt sich das Recht und die Freiheit heraus, in diesem historischen Augenblick die staatliche Macht dazu zu gebrauchen, Schutzsuchenden und Flüchtlingen eine Fluchtroute nach Europa anzubieten. Jetzt, da die Bündelung aller antirussischen Kräfte an der Grenze zu Russland in Angriff zu nehmen ist.

So ist die Zeit gekommen, Lukaschenko und seine seit 1994 betriebene Art, belarussischen Staat zu machen und einen belarussisch-nationalen Sonderweg einzuschlagen, vor die Frage zu stellen: Neigt er dem antirussischen Kriegsbündnis zu, oder macht er Ernst mit einer wie auch immer gearteten "Union" mit Russland? Oder gedenkt Lukaschenko, den belarussisch-nationalen Sonderweg weiterhin offenzuhalten und auf einer ausgeprägten belarussischen Unabhängigkeit zu bestehen?

Sanktionsregime, definitiver Entzug der Anerkennung Lukaschenkos als belarussischem Staatsmann und Staatsoberhaupt, weitere Sanktionsdrohungen, schließlich die Instrumentalisierung der Schutzsuchenden und Flüchtlinge an der polnisch-baltischen Schengenraum-Außengrenze in Form der unbedingten Zurückweisung: Diese diplomatischen Botschaften sind als Entscheidungshilfen gedacht und sollen Lukaschenko den rechten Weg weisen.

Lukaschenkos Antwort

Zwar hat Lukaschenko auch aus belarussischem Interesse mit Einschränkungen der eröffneten Fluchtroute begonnen und mitgeholfen, Rückflüge von Flüchtlingen in den Irak und nach (Nordost-) Syrien zu bewerkstelligen, neben der weiterhin bestehenden Forderung, Deutschland und Europa möge seine Grenzen für die verbliebenen Gestrandeten öffnen.

Auf die grundlegenden und ultimativen Entscheidungshilfen seitens der europäischen Machthaber und ihres transatlantischen Partners antwortet das belarussische Staatsoberhaupt andererseits in einem langen Interview am 1. Dezember 2021 in dreifacher Weise.

Wir alle haben verstanden, dass die Krim de facto – ich sagte damals de facto – russisch ist. Nach dem Referendum wurde die Krim auch de jure russisch.

So weit hat sich das belarussische Staatsoberhaupt erst mal gegenüber den westlich-transatlantischen Ansprüchen und Forderungen festgelegt, unter anderem mit dem Hinweis:

Ich kenne Putins Position: auf keinen Fall sollte es Nato-Truppen auf der Krim geben.

Damit nicht genug, bedeutet Lukaschenko seinen ehemaligen europäischen Partnern, dem Nato-Bündnis und seinem transatlantischen Oberbefehlshaber angesichts der Ukraine-Frage und der Tatsache, dass die Einverleibung der Ukraine ins Nato-Bündnis in der Ukraine verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, nunmehr mit diesen drastischen Worten:

Ich werde in dieser Situation, bei dieser Politik, niemals auf der Seite der Ukraine stehen. Ich werde auf der Seite derer stehen, die die Ukraine retten wollen und sie nicht in eine Brutstätte der Aggression a) gegen das brüderliche Russland und b) gegen das noch brüderlichere Weißrussland verwandeln wollen […] Ich werde alles tun, damit die Ukraine zu uns gehört. Sie ist unsere Ukraine, das dort ist unser Volk..

Sollten, womit nicht nur der belarussische Staatsmann rechnet, die offensiven, auch atomaren Einkreisungsintitiativen seitens der Nato in der Arktis, in der Ostsee, im Baltikum, um Kaliningrad herum, in Polen, in Rumänien, in Bulgarien, in und mittels der Ukraine und am Schwarzen Meer voranschreiten, dann hat Lukaschenkos ideell aufgestellte russisch-belarussisch-ukrainische Volkseinheit eine Antwort bereit:

Dann werde ich Putin vorschlagen, die Atomwaffen an Weißrussland zurückzugeben […] Darauf werden wird uns einigen, welche genau. Es wird die Nuklearwaffe sein, die für einen solchen Konflikt am effektivsten ist. Wir sind auf dem Territorium von Weißrussland dazu bereit. Als umsichtiger, Verzeihung, Hausherr habe ich nichts zerstört. Alle "Startrampen" stehen bereit. Denn wir haben eine gemeinsame Einheit des Unionsstaates.

Diese Antwort Lukaschenkos auf die nicht nur bei der Bild kursierende Frage wie Putin gestoppt werden kann, scheint sich allem Anschein nach dem zu verdanken, dass Putin und Lukaschenko gemeinsam "unter einer Decke stecken", um ihre böswilligen und hinterhältigen Pläne auszuhecken.

Mit anderen Worten: Weil und solange Lukaschenko sich nun weltöffentlich sichtbar an die Seite des absoluten Feindes der abendländisch-humanen Wertegemeinschaft stellt und sich wohl entschieden nunmehr weigert, sich in die Front der atomaren Einkreiser Russlands einzureihen, verdient er die gänzliche Verurteilung und Verachtung. Gleich dem russischen Staatsoberhaupt geschieht auch mit Lukaschenko eine seltsame, eine offenbar unerklärliche Verwandlung:

Als Alexander Lukaschenko eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Seine vielen, im Vergleich seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

Frei nach Franz Kafka, Die Verwandlung, 1912

Die Inkarnation des Bösen – Aufruf zum Staatsumsturz

Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.

Kant, 1785

1

Dass Europa und der transatlantische "Partner" grundlegend die Verkörperung des sittlich-ethischen Guten und Humanen darstellen und, abgesehen von gelegentlichen Abirrungen vom rechten Weg, vom "allein guten Willen" (Kant) in all ihren Ideen, Vorhaben und Handlungen beseelt sind, bildet, "ohne Einschränkung" (Kant), das Selbstbewusstsein und Selbstgefühl der deshalb so genannten europäisch-abendländischen Wertegemeinschaft und Werteunion.

So heiß es mit Selbstgewissheit, dass "die Europäische Union stark (ist), weil sie eine Werteunion ist" (Annalena Baerbock im Interview, 26.4.2021).

In überragender Mehrheit ist das auch das Selbstbewusstsein und Selbstgefühl der in Europa und Nato eingemeindeten Völkerschaften. Alle von der europäisch-abendländischen Werteunion und dem transatlantischen "Freund" und Partner getätigten politischen Handlungen dienen im Frieden wie im Krieg der Menschheit und der Menschlichkeit, wobei aus sittlicher Verantwortung diesem hohen Ziel gegenüber zu beachten ist:

Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht.

Baerbock

Es gäbe nicht das gute Gewissen und das (Selbst-)Gerechtigkeitsbewusstsein der europäischen politischen Machthaber und ihres US-Partners, stünde ihnen nicht von jeher der allein böse Wille, personifiziert im jeweils auserkorenen (außen-)politischen Feind gegenüber.

Erweist sich der Feind als endgültig widersetzlich, beugt er sich nicht den an ihn gestellten, zuweilen immer maßloseren Ansprüchen, gibt er seinen Widerstand nicht auf und räumt von sich aus das Feld, ergreift er seinerseits Maßnahmen, um sich gegenüber den an ihn gestellten Ansprüchen zu behaupten, anstatt Einsicht zu zeigen und aufzugeben, dann muss als Erstes gesagt werden: "Für mich ist eine wertegeleitete Außenpolitik immer ein Zusammenspiel von Dialog und Härte."(Baerbock-Interview, 01.12.2021)

Da, wie es scheint, Russland und nunmehr auch Belarus unter Lukaschenko den an sie gestellten Ansprüchen und Aufforderungen unübersehbar die Stirn bieten, beweisen sie damit nur dies: Die absolute Bösartigkeit ihres Willens wie ihrer Natur. In souveräner und ignoranter Umkehrung der Wirklichkeit heißt es vom "Deutschland völlig hilflos in der Flüchtlingskrise" (Bild):

Jetzt wird der paranoide, größenwahnsinnige Despot zu einer Gefahr für unseren Kontinent.

Bild

Also muss gegen diesen neuen, uns alle existenziell bedrohenden Fidel Castro, Ayatollah Khomeini, Slobodan Milosevic, Osama bin Laden, Muammar Gaddafi, Saddam Hussein, Baschar al-Assad, Kim Jong Un mit aller "Härte" vorgegangen werden.

Das erfordert, "den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind." (Carl Schmitt, 1932)2

Da Lukaschenko als Antwort auf die auch atomare Einkreisung durch die Nato seinerseits die atomare Wiederbewaffnung von Belarus durch Russland in Aussicht stellt und Putin nicht gewillt ist, der weiteren Nato-Einkreisung tatenlos zuzusehen, gibt es als ersten Schritt nur eins:

"Darum kann es für Brüssel und Berlin nur eine Lösung geben: Sie müssen Diktator Lukaschenko stürzen! Die Sanktionen gegen ihn und sein Regime müssen maximal verschärft und ausgeweitet werden", so empfiehlt die Bild.

Gelingt auch dies nicht gegenüber Belarus und Russland, dann ist die letzte Konsequenz in Erwägung zu ziehen, gemäß der Logik einer kriegsführenden, abendländischen Werteunion:

Die Führung des Namens "Menschheit", die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, dass dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen, dass er hors-la-loi und hors l'humanité erklärt und dadurch der Krieg zur äußersten Unmenschlichkeit getrieben werden soll.

Carl Schmitt

Dann hat das Bild des Feindes seine Prüfung gegenüber dem auserwählten politischen Feind wieder einmal bestanden.

Quellen

▪ Horkheimer, Max, Dämmerung und Notizen in Deutschland, in: Ges. Schriften Bd.2, Frankfurt/Main, 1987;

Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Berlin, 1929;

Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], Stuttgart, 1998;

Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Berlin, 1932.