Auf dem Weg zum Dritten Weltkrieg?

Bilder Screenshots Das Ukraine-Drama – Krieg in Europa / rbb/ARD/LOOKSfilm / Grafik: TP

Licht und Schatten mit blinden Flecken: Der Ukraine-Konflikt in einer ARD-Dokumentation

Zunächst möchte ich betonen, dass die Mauer, die sich in den letzten Jahren zwischen Russland und der Ukraine, zwischen den Teilen desselben historischen und geistigen Raums, gebildet hat, meiner Meinung nach unser großes gemeinsames Unglück und unsere Tragödie ist. Dies sind in erster Linie die Folgen unserer eigenen Fehler, die wir zu unterschiedlichen Zeiten gemacht haben.

Aber sie sind auch das Ergebnis bewusster Bemühungen jener Kräfte, die schon immer versucht haben, unsere Einheit zu untergraben. Die Formel, die sie anwenden, ist seit jeher bekannt: Teile und herrsche. Hier gibt es nichts Neues. Daher die Versuche, mit der "nationalen Frage" zu spielen und Zwietracht unter den Menschen zu säen, mit dem übergeordneten Ziel, zu spalten und dann die Teile eines einzigen Volkes gegeneinander auszuspielen.

Wladimir Putin, 2021

In Russland sind nur die Tiger noch gut und schützenswert – zumindest wenn man der ARD glaubt. "Der Sibirische Tiger – Seele der russischen Wildnis" hieß dort ein schöner Tierfilm, der zur Primetime ausgerechnet am gleichen Abend lief wie dann später der vom RBB verantwortete 90-minütige Fernsehdokumentarfilm "Das Ukraine-Drama – Krieg in Europa" (auch in der ARD-Mediathek).

"Russlands wilder Osten" lockte der Kommentar der Tigerdoku zuvor mit verführerischer Erzählstimme: "In diesen Urwäldern jagt ein sagenhaftes Raubtier: Der Sibirische Tiger. Der unumstrittene Herrscher der Taiga. Vor 80 Jahren bald ausgerottet, doch seither unter Schutz, gewinnt er seinen alten Lebensraum zurück." Vielleicht, bei diesem Gedanken ertappt man sich als Zuschauer für einen Augenblick, sollte die deutsche Außenpolitik sich mal um die Rechte der Rehe und der Karnickel kümmern, die vom sibirischen Tiger nicht beherrscht und gefressen werden möchten.

Hier aber, im ARD-Tierfilm, gibt es sie noch, die klaren Verhältnisse und die Schönheit des Stärkeren, Lebensraum und Geopolitik, Schutzzonen und Einflusssphären.

"Wir müssen damit rechnen, dass Präsident Putin..."

Ganz anders in der Dokumentation über die Ukraine. Schüsse knallen über einen nebelumfangenen See. Keine Jäger sind es, sondern Soldaten und Milizen, und auch vom unumstrittenen Herrscher der Taiga ist nicht die Rede. Schützengrabenbilder, brennende Gebäude und Tote werden von der weiblichen Kommentarstimme eingeordnet: "Donbass... Schlachtfeld eines jahrelangen Konflikts zwischen ukrainischen Streitkräften und durch Russland unterstützten Separatisten. In Europa aber ist der Krieg fast vergessen. 2021 heizt der russische Präsident Wladimir Putin den Konflikt an."

Von Anfang an ist damit der Ton gesetzt: Es droht eine russische Invasion. Marie Luise Beck erklärt:

Wir müssen damit rechnen, dass Präsident Putin wortbrüchig wird, dass er nicht entlang der Regeln spielt, und dass er bereit ist militärische Gewalt einzusetzen.

Damit hat sie vermutlich recht. Was von Anfang an fehlt, sind eher die Nachfragen: Hält sich die Ukraine immer an ihr Wort? Ist die USA nicht bereit, Gewalt einzusetzen? Spielt der Westen immer nach den Regeln.

Und welche Regeln sind überhaupt gemeint?

Der Vasallenstaat des westlichen Imperiums direkt am Limes

Als vor 30 Jahren, Ende 1991, die Sowjetunion politischen Selbstmord beging, die Ukraine, Weißrussland und zuvor schon die baltischen Kleinstaaten unabhängig wurden, sind der Westen und die Nato gekommen, um zu bleiben. Seitdem traten 14 Staaten in Osteuropa der Nato und damit der westlichen Einflusssphäre bei.

Die Ukraine, das ist der Vasallenstaat des westlichen Imperiums direkt am Limes, der Grenze zum Reich der Barbaren.

Der russische Truppenaufmarsch, der unbestreitbar ist, kommt nicht von ungefähr. Er ist kein isolierter Akt. Und er muss außerdem richtig gelesen werden.

Es geht Russland darum, aus seiner Sicht ein klares Stopp-Signal zu setzen gegenüber einem Prozess, der die Ukraine mehr und mehr in die Nato und in den Zusammenhang des westlichen Verteidigungsbündnisses einbindet. Bereits jetzt steht die Nato über die baltischen Staaten an der Nordflanke Russlands. Würde die Ukraine in die Nato eintreten, stünde die Nato auch an der Südflanke.

Parallel zu diesem Prozess in der Ukraine ereignete sich in den letzten zwei Jahren der Prozess der Destabilisierung Weißrusslands. Man kann darüber streiten, wo die Ursachen dieser Destabilisierung liegen, und inwieweit der inner-belorussische Prozess der vergangenen zwei Jahre rein innenpolitisch motiviert oder durch Ermunterung seitens Drittstaaten ausgelöst wurde. An der Tatsache eines Destabilisierungsprozesses und einer prekären Lage ändert dies allerdings nichts.

Bereits 2007 hatte Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz genau diese rote Linie markiert: Eine Nato-Mitgliedschaft der an Russland grenzende Staaten der ehemaligen Sowjetunion ist nicht akzeptabel.

Genau dies ist aber eine reale Gefahr aus russischer Sicht: Erst im Oktober 2021 hatte US- Verteidigungsminister Austin sehr deutlich erklärt, er wünsche sich einen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens.

"Es ist doch ganz offenkundig, dass Russland eine Ausweitung der Nato als Bedrohung seiner vitalen Sicherheitsinteressen empfindet," wie der Russland Experte Johannes Varwick (Halle-Wittenberg) sagt: "Russland hat seinen Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur noch nicht gefunden. Und wir sollten daran arbeiten, dass das anders wird." (vgl. dazu: Raus aus der Eskalationsspirale mit Russland).

Eine klare Freund-Feind-Bestimmung

Zum Auftakt der französischen EU-Ratspräsidentschaft hat Präsident Emmanuel Macron am Montag überraschend klar für einen deutlich intensiveren Austausch mit Russland geworben. Macron sagte, "einen Dialog zu führen bedeutet nicht, Zugeständnisse zu machen. Es bedeutet zunächst einmal, eine Bestandsaufnahme der Meinungsverschiedenheiten zu machen und zu versuchen, die Zukunft zu gestalten." Macron zeigte sich zudem offen, mit Russland über neue Vereinbarung zur Begrenzung er Gefahren durch Mittelstreckenraketen und Atomwaffen zu reden.

Genau diese entgegenkommende Haltung wird in dem ARD-Film einen Tag später kritisiert und latent diffamiert. Es sei "die Schwäche des Westens", so eine in London lebende ukrainische Wissenschaftlerin, "nicht an den eigenen Auflagen festzuhalten, und nicht bereit zu sein, an den eigenen Werten festzuhalten", die die Institutionen von innen heraus untergrabe. Und eine französische Historikerin sekundiert: "Frankreich träumt schon lange davon, in Europa die Ausgleichsmacht zwischen Ost und West zu sein."

Dieser Film tut damit das, was die westliche Politik unterlässt. Er leistet eine klare Freund-Feind-Bestimmung. Die Russen, so heißt es, betrieben "Gehirnwäsche" der Bevölkerung im Donbass. Deren Positionen werden also delegitimiert, können nicht ernst genommen werden. Gut, angenommen so wäre es. Aber gibt es umgekehrt keine Gehirnwäsche durch Medien in der Ukraine?

Auch sonst spricht der Text des ARD-Films Bände. Sehr oft ist nicht von "Russland" die Rede, sondern von "Putin". Russland und Putin werden miteinander identifiziert, sie sprechen offenbar mit einer Stimme, sind quasi eins.

Die Auswahl der Gesprächspartner ist überaus einseitig

Der Film von Claire Walding hat trotzdem viele gute Seiten. Es ist eine umfangreiche, detaillierte Darstellung, die die Karten auf den Tisch legt und den Zuschauern die Chance lässt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Er hat interessante Gesprächspartner, und er bietet ein – für deutsche Verhältnisse – relativ (!) differenziertes Bild des Ukraine-Konflikts.

Natürlich muss man über die Auswahl der Gesprächspartner streiten. Marieluise Beck (Grüne, "Zentrum Liberale Moderne") ist eine versierte, erfahrene Verteidigungs-Politikerin. Aber sie ist auch eine Politikerin, die sich seit 30 Jahren besonders um die ehemaligen Ostblock-Länder Osteuropas bemüht, und die nicht nur ein besonderes Verständnis, sondern auch eine besondere politische und emotionale Nähe zu Ländern wie Polen und dem Baltikum hat – das heißt zu Ländern, die ein (vielleicht mit guten Gründen, aber nichtsdestotrotz) gestörtes Verhältnis zu Russland haben.

Daneben Kurt Volker, Ex-US-Sondergesandter für die Ukraine, die Ukrainerin Orysia Lutsevych vom Londoner Think-Tank "Chatham House", der der Nato und der Adenauer-Stiftung nahesteht. Der Ukraine-freundliche Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge, die französische Historikerin und Putin-Kritikerin Marie Mendras, schließlich der ukrainische Präsident Wolodymir Selensky selbst.

Die Auswahl der Gesprächspartner ist also überaus einseitig. Es sind kluge Leute, keine Frage. Sie sind urteilsfähig und äußern sich teilweise durchaus differenziert. Aber sie vertreten eben eine bestimmte Position, und zwar nur eine sehr Ukraine-freundliche.

Ernsthafte Kritik an der Ukraine und ukrainischer Politik wird am ehesten von ukrainischen normal Bürgern geäußert. Sie erklären, warum der ukrainische Präsident Selensky sie enttäuscht hat.

Selensky - das Geschöpf der Oligarchen

Mit Selensky geht der Film angenehm differenziert um. Es wird gezeigt, wie der Komiker und Schauspieler zu aller Überraschung 2019 zum Präsidenten gewählt wurde. Dass der Oligarch Kolomolskyj seinen Wahlkampf finanzierte. Im Kommentar heißt es:

Er war nie Politiker und ist es auch heute noch nicht. Er siegte, weil er von mehreren mächtigen Oligarchen unterstützt wurde. Während er in der Pose des einfachen Mannes als ein Kämpfer gegen die Korruption darstellte, ließ er sich ausgerechnet von Oligarchen an die Macht bringen.

Selensky hat der Filmemacherin ein Interview gegeben. Darin stellt er die Dinge aus seiner Sicht dar – keine Oligarchen, Kampf gegen Korruption und für Demokratie – in Bezug auf Russland dreht er allerdings an der Eskalationsschraube: "Ich bin der Meinung, dass das der dritte Weltkrieg werden könnte."

Der Filmkommentar raunt unterstützend "Die osteuropäischen Nationen sind alarmiert. Angesichts der Geschehnisse in der Ukraine befürchten sie: Russland könnte noch weitergehen. Grenzen überschreiten. Wie 1939."

Was dagegen fehlt: Auch nur eine Stellungnahme zur russischen Position. Präsident Putins umfangreiche und lesenswerte, auch auf Ukrainisch veröffentlichte Erklärung zu Geschichte und Verhältnis beider Regionen wird ignoriert und nicht einmal zitiert, um ihr zu widersprechen.

Zweierlei Maß der deutschen Außenpolitik

Es gibt nicht nur die "vielen Russland-Freunde in Deutschland", von denen Beck einmal redet, als ob schon das eine Schande wäre; es gibt nicht nur "Russlandversteher", ein Wort, das in Deutschland gerne als Schimpfwort gebraucht wird, sondern es gibt auch Ukraineversteher. Und zwar eine ganze Menge. Und es gibt in Deutschland auch Russlandfresser, von denen Beck leider nicht redet, so wenig wie von der Russland-Feindschaft in Deutschland. So wenig wie von den Freunden des Baltikum, den Freunden Polens und von den Freunden der Schwächung Russlands.

Analog dazu es geht um den Separatismus im Donbass, als wäre der so schlimm. Wenn dem so wäre, wenn Deutschland, wie der deutsche Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch im Film ausführt, bedingungslos "für die Aufrechterhaltung des Rechts eintreten" muss – warum unterstützte Deutschland dann Anfang der 90er Jahre im Jugoslawienkrieg den Separatismus der Nationalisten gegen die jugoslawische Föderation?

Der Eindruck, dass grundsätzlich mit zweierlei Maß gemessen wird, und dass das internationale Recht so gebogen und gebeugt wird. wie es politisch passt, ist verheerender, als die einzelnen Positionen, die im Film geäußert werden.

Das Schlimmste aber ist die offenkundige Doppelmoral. Denn würde Deutschland offen sagen, was es faktisch tut: Wir betreiben Macht- und Interessenspolitik im Sinne der westlichen Allianz, im Sinne eines demokratischen Imperiums, würde es seine Ziele und Prämissen erklären, Freund und Feind definieren, dann könnte man damit umgehen, dann könnte man diese Position unterstützen oder bekämpfen.

Indem sie aber mit rhetorischen Girlanden voller Menschenrechts und Rechtsstaat und Demokratie Bekenntnisse umkränzt wird, indem ein kühler Interessenkonflikt, zu einer Art politischer Beziehungskrise emotionalisiert und in einen Konflikt von Gut und Böse umdefiniert wird,

Destabilisierung durch Befriedung?

Wie geht es weiter mit der Ukraine? Qui bono in diesem Konflikt? Die wichtigste Frage ist die, wie weit die Ukraine und ihre amerikanische Schutzmacht überhaupt an einer Lösung durch Befriedung, Ruhigstellung, "Finnlandisierung" interessiert sind? Paradoxerweise würde genau diese Befriedung unter Umständen eine Destabilisierung der alles andere als stabilen Ukraine und dieses in mancher Hinsicht grundsätzlich fragwürdigen Konstrukts bedeuten.

Es könnte sein, dass gerade dann die zentrifugalen Kräfte innerhalb des Landes freigesetzt werden und dass offensichtlich wird, dass der Ukraine manche Voraussetzungen für einen dauerhaft stabilen Staat grundsätzlich fehlen, etwa eine einheitliche und zusammenhängende Staatsbevölkerung.

Die Ukraine ist zudem ein von wenigen Oligarchen weitgehend unter sich aufgeteiltes Land. Bisher sind es der Kampf um Unabhängigkeit und staatliche Souveränität und der Weg hinein in die überstaatlichen Organisationen des Westens – Europarat, Nato, EU –, die diesen Staat zusammenhalten. Was würde geschehen, wenn dieser Zusammenhalt durch eine Stabilisierung der außenpolitischen Situation wegfiele?

"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji" - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft.