"Wertegemeinschaft Europa": Feindbilder statt Vorbild

Eine Polemik zur "europäischen Idee" und deren aktuellen Folgen (Teil 5 und Schluss)

Die Europäische Union will militärisch zu den USA aufschließen, um nicht an deren Rockzipfel zu hängen. Vielmehr will sie nun viel selbstständiger ihre Gewalt in der Welt einsetzen. Die "Digitalisierung" gilt den Europäern als der Hebel zukünftigen geschäftlichen Erfolgs. Daher helfen die Staaten ihren Unternehmen massiv bei der nötigen Aufrüstung.

Menschen aus dem europäischen Ausland, die dafür zu gebrauchen sind, dürfen gern kommen – Armutsgestalten dagegen nicht. Denn sie tragen nicht zur Gewinnproduktion bei, sondern kosten nur staatliche Sozialausgaben. Deswegen werden sie an den EU-Außengrenzen mit allen Mitteln abgewiesen.

Der Klimaschutz bildet für Europa beste Gelegenheit, ein neues Geschäftsfeld zu besetzen und sich unabhängiger von Energieimporten zu machen. Dafür nimmt die Union Schulden in bisher nicht gekannter Höhe auf. Schließlich ist für die Eroberung des Weltmarkts kein Euro zu viel – so sich am Ende tatsächlich die Gewinne im nötigen Umfang einstellen.

Ein für die Europäische Union wenig charmantes Fazit. Doch unternimmt sie nicht dies alles für einen guten Zweck? Denn sie tritt ja als "Wertegemeinschaft" auf, vertritt also "das Gute" in der Welt. Im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2016 liest sich das so:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.

Artikel 2, Vertrag von Lissabon 2016

Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.

Artikel 3, ebenda

Diese Werte sind kein Selbstzweck, wie der im ersten Teil dieser kleinen Serie zitierte Leitartikel der Süddeutschen Zeitung klarstellt: Die EU muss "...der Welt ihre Grundwerte vorleben – Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Andernfalls wird die EU zeitnah aufgerieben und ihre Einzelteile zerlegt von den Großmächten USA und China und dem Gernegroß Putin." (Josef Kelnberger: Merkels Erblast, in Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2021).

Echt jetzt? Wenn die Europäer ihre Werte beherzigen, werden sie sich gegen die konkurrierenden Weltmächte behaupten? Also braucht es keine Aufrüstungen, um zu ihnen aufzuschließen? Sondern die Werte entscheiden? Das mag vielleicht der eine oder andere Politiker in einer Sonntagsrede blumig formulieren und beflissene Journalisten das nur allzu gern glauben – die Realität trifft es nicht.

Deshalb gibt es schließlich den "Green Deal" und weitere Programme. Nur ökonomische und sie flankierende militärische Macht führen zur Durchsetzung gegen die anderen Großmächte. "Werte" bilden dabei die Begleitmusik, um den schnöden Maßnahmen eine höhere Weihe zu verleihen.

Das weiß der Journalist der SZ natürlich auch irgendwie. "Grundwerte vorleben" bedeutet wohl etwas anderes: Mit "Freiheit" und "Demokratie" erklären die hiesigen Mächtigen schließlich ihre Methoden der Herrschaft und der Ökonomie nicht einfach als Werte unter vielen.

Vielmehr ist damit die Kritik an all jene Länder verbunden, die sich diesen Prinzipien nicht vollständig oder zu wenig anbequemen – und der EU bei ihrem Treiben im Weg stehen. Wie der Westen mit seinem Volk umspringt – Menschenrechte, Freiheit der Person, Schutz des Eigentums etc. - beansprucht Allgemeingültigkeit.

Das ist das unwiderlegbare "Gute", dem sich niemand entziehen darf. Aus China oder Russland ist ein solcher Anspruch nicht zu vernehmen. Das zum Thema, wer da welches Aggressionspotenzial in der Weltpolitik zeigt.

Wobei Russland und China ebenfalls nach "Werten" ihre Staaten organisieren – nur eben andere. Noch jede Nation, die etwas auf sich hält, verfügt über eine Überhöhung der eigenen "berechtigten" Interessen.

Welche sich in den einschlägigen Nationalhymnen am pathetischsten ausdrückt; ausgiebig darüber hinaus in Kultur oder internationalen Sportwettbewerben – wie erst jüngst bei der Fußball-Europameisterschaft zu studieren, inklusive ziemlich unfreundlicher Kommentierungen (vgl. "Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus").

Jeder Staat hat halt das "beste" Volk. Denn mit dem will er schließlich in der Welt erfolgreich sein. Und dies unternimmt er auch im Namen unwiderlegbarer höherer Werte, denen er sich verpflichtet fühlt. Es ist einfach zu schön, politische Attacken mit dem Dienst an Werten zu begründen, damit selbstlos zu erscheinen und ideologisch schwer angreifbar zu sein.

Das praktiziert die EU vorbildlich, wenn sie der Volksrepublik China ihr Umgang mit den Uiguren ständig vorhält. Da geht es dann gar nicht um eine gezielte Einmischung in eine gegnerische Großmacht, um sie diplomatisch unter Druck zu setzen. Nein, da stehen natürlich nur die unveräußerlichen Menschenrechte im Vordergrund!

In anderen Fällen schaut die EU dann aber nicht so genau hin, weil es außen- und wirtschaftspolitischen Erwägungen in die Quere käme. Da ist Saudi-Arabien nur ein Fall unter zahllosen weiteren Beziehungen, bei denen die Europäer die "Menschenrechtswaffe" nicht aus dem Holster ziehen oder die "Freiheit" zu sehr bedroht sehen.

Der Wert Erfolg. Aber was, wenn er ausbleibt?

Nun gibt es in Europa aber nicht nur einen Werteartikel im Vertrag, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Die EU-Mitglieder verschreiben sich einer Reihe von Elementen, wie ihre Staaten verfasst sind. Und diese Gemeinsamkeit schweißt sie nach verbreiteter Meinung zusammen, verhindert die aus früheren Jahrhunderten bekannten Feindschaften untereinander.

Schon für die Geburtsstunde der Europäischen Union kann das nicht stimmen. Wie im ersten Teil beschrieben, trafen sich da nicht nach dem Zweiten Weltkrieg die Staatsmänner auf dem Kontinent und erkannten mit einem Mal, wie viele Gemeinsamkeiten in Sachen "Werte" sie doch hatten. Wäre auch seltsam gewesen angesichts der geschlagenen faschistischen Staaten einerseits und deren siegreichen Bezwingern andererseits.

Tatsächlich schmiedete der Hauptkriegsgewinner USA eine europäische Front gegen den neuen großen Feind Sowjetunion. Und für diese Front brauchte es sowohl einen gemeinsamen ökonomischen Wiederaufbau als auch einen erzwungenen internen Frieden.

Denn das war den Amerikanern klar: Die Zusammenarbeit der europäischen Staaten, in welcher Form auch immer, würde stets unter einem Vorbehalt laufen. Welchen Vorteil für den jeweils nationalen Erfolg hat diese Zusammenarbeit?

Noch schärfer fällt die Frage aus, kommt es zu einem Staatenbund wie der EU. Wenn dabei Staaten sogar auf Teile ihrer Souveränität verzichten – dann muss sich dieser hohe Preis umso mehr auszahlen. Rechnet sich das auf Dauer nicht, ist der Bund gefährdet, die schöne Front gegen den Osten passé. Und der Frieden untereinander möglicherweise auch.

Heute wissen wir: Die europäische Front hat gehalten, der "Ost-West-Gegensatz" wurde auch mit ihrer Hilfe von den USA gewonnen. In den seither vergangenen gut dreißig Jahren vergrößerte sich die EU Richtung Osten, entzog dem Sowjet-Nachfolger Russland fast alle einstigen Verbündeten.

Zum Machtzuwachs gesellte sich der ökonomische Erfolg des parallel vergrößerten Binnenmarkts und des Exports von Waren in alle Welt hinzu. Die EU ist zu einer Weltmacht geworden, konkurriert mit dem Geburtshelfer USA und vor allem mit China um die Pfründe.

Darin liegt der Grund für die Attraktivität Europas und den weiter andauernden internen Burgfrieden: Teil einer Weltmacht sein, am Erfolg partizipieren. Denn auf sich allein gestellt würde der Wettbewerb mit den Großmächten jeden einzelnen Mitgliedsstaat überfordern, auch Deutschland und Frankreich. Die Union ist deshalb das Mittel für Berlin und Paris, im Konzert der "Großen" mitzumischen. Bei manch anderen Staaten mehren sich allerdings seit einiger Zeit Zweifel an ihrem angemessenen Anteil am Erfolg.