Muhammad Ali: Gibt es eine Poesie der Brutalität?

Der "Rumble in the Jungle" zwischen Muhammad Ali und George Foreman am 30. Oktober 1974 in Kinshasa. Foto: El Gráfico / CC0 1.0

"Rumble in the Jungle" und "Thrilla in Manila": Gewaltorgien vor dem Hintergrund politischer Diktaturen – und was den Boxsport vom Kapitalismus unterscheidet. (Teil 2 und Schluss)

Die Begleitumstände der zwei größten Kämpfe, die Muhammad Ali ausfocht, am 30. Oktober 1974 in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa und am 1. Oktober 1975 in Manila auf den Philippinen, sind in vielerlei Hinsicht bizarr. Aus politisch-emanzipatorischer Sicht waren Alis Auftritte in diesen Ländern mehr als das – sie waren katastrophal.

Für Ali und seine Entourage ging es bei den beiden Fights fernab von den USA darum, US-Steuern zu vermeiden und den eigenen Gewinn zu mehren. Das ist legitim. Doch aus politischer Sicht standen beim "Rumble in the Jungle" im Kongo und beim "Thrilla in Manila" auf den Philippinen die Sicherung der Langzeit-Diktatur von Mobutu beziehungsweise die Stabilisierung der damals noch jungen Diktatur von Ferdinand Marcos im Zentrum.

Das Regime von Mobuto Sese Seko ist hinsichtlich des Themas Emanzipation der schwarzen Bevölkerung besonders abstoßend. Mobutu war 1960 als Oberst an der Ermordung von Patrice Lumumba beteiligt; Lumumba wiederum steht in Afrika wie kaum ein zweiter für den antikolonialen Kampf – für die Selbstermächtigung der afrikanischen Bevölkerung und für deren Befreiung von den belgischen weißen Ausbeutern.

Es war der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der 1960 den Befehl zur Liquidierung Lumumbas gegeben hatte. Dieser wichtige Hintergrund des Mobuto-Regimes wird in der ansonsten hervorragenden Burns-McMahon-Doku ausgelassen. (Eine umfassende Darstellung der Zusammenhänge ist in David Van Reybrouck Werk "Kongo – Eine Geschichte" nachzulesen – auf Deutsch erschienen im Suhrkamp-Verlag 2013.)

Ausführlich wird dagegen in der Doku dagestellt, wie Ali im Privatjet Mobutus nach Kinshasa eingeflogen wurde, wie er dort in einer Luxusvilla des Diktators lebte und wie die ehemalige Kolonialmacht Belgien die Ausrüstung für den Kampf und die Luxusgüter für das Weltspektakel bereitstellte.

Gegner zu Monstern gemacht

Dass Ali seinen Gegner George Foreman als Mann der Weißen hinstellte, dass er ihn als jemanden denunzierte, der – so wegen eines mitgebrachten "deutschen" Schäferhunds – der alten belgischen Kolonialmacht nahe stehen würde, war fragwürdig. Foreman war wie Ali schwarz. Er stammte aus einem Schwarzen-Ghetto. Dass Ali dann dutzendfach, auch im Stadion, den Schlachtruf "Ali, Bomaye – Ali, töte ihn!" unterstützte und dabei die Massen dirigierte, war schlicht abstoßend.

Das gilt auch für das Ende dieses Kampfs. Wenn der Kommentator der Süddeutschen Zeitung schreibt, dieses Niederprügeln habe "Wärme und Würde" ausgestrahlt, so ist das eine irritierende Feststellung. Nach dem Reglement hätte Ali auf den niedergehenden Gegner gar nicht weiter eindreschen dürfen.

Ein Jahr später gab es in Manila ein Setting mit vielen Parallelen. Drei Jahre zuvor, am 21. September 1972, hatte Ferdinand Marcos das Kriegsrecht verhängen, 30.000 Oppositionelle – Studierende, Journalisten, Gewerkschaftsmitglieder – in Militärlager inhaftieren lassen und sich als Alleinherrscher, der mit Präsidialdekreten regierte, etabliert.

Er war dabei eng mit der US-Regierung verbunden. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, als er noch gewählter Präsident war, hatte er 2000 philippinische Soldaten zur US-Unterstützung in den Vietnamkrieg entsandt. In den 1970er-Jahren wiederum gab es auf den Philippinen die Nationale Befreiungsfront der Moros (Moro National Liberation Front, MNLF), deren rund 30.000 Mitglieder sich – wie Ali – zum Islam bekannten und die gegen das korrupte Regime der Familie Marcos kämpften.

Beim eigentlichen "Thrilla in Manila" 1975 dann erneut das verstörende Bild: Ali trat zusammen mit Marcos auf Pressekonferenzen auf. Er wohnte in der Zeit seines Aufenthalts in Manila in einer Luxusvilla der Familie Marcos. Er beleidigte seinen Herausforderer Joe Frazier aufs Übelste, ja rassistisch – indem er ihn als "Gorilla, hässlich und dumm" bezeichnet und eine Lyrik von sich gab, die einerseits gute PR und andererseits pervers war:

It's gonna be a thrilla / and a chilla / and a killa / when I got the gorilla / in Manila"

Er erklärte öffentlich, dass er "dieses Tier" – seinen schwarzen Bruder Joe Frazier, der ihm in Notzeiten viel Geld geliehen hatte – töten werde. Und er konstatierte, die Leute in Manila seien "wild nach Blut, wie ich es in keinem Stadion der Welt je erlebt habe". Der Kommentar in der Burn-McMahon-Doku über Ali und Frazier ist zutreffend: "Sie haben sich gegenseitig zu Monstern gemacht".

Lob des Boxens

Der Boxsport hat zweifellos auch eine emanzipatorische Tradition. Boxen war – insbesondere in den USA – eine Sportart zur Selbstverteidigung. Sie bot auch Schwarzen lange Zeit die Möglichkeit, zu Ruhm und Reichtum zu kommen. Während im Alltag Rassentrennung herrschte, verschaffte sich der junge Amateurboxer Cassius Clay seinen Eintritt in die Boxwelt. Mit 18 Jahren war er Olympiasieger in Rom. Danach startete er seine Karriere als Berufsboxer. Mit 22 war er erstmals Profi-Weltmeister.

In den aktuellen Berichten über Ali gibt es kaum Unterschiede zwischen der Sportwelt der Amateure und der Welt der Berufsboxer. Die wesentlich härtere Gangart der Berufsboxer ahnt man zwar, doch dies ist nirgendwo ein Thema. Dabei sind die Unterschiede weitreichend; beim Amateurboxen sind alle Regeln darauf ausgelegt, dass sich die Sportler so wenig wie möglich verletzen; das Tragen eines Kopfschutzes sowie eines Oberteils ist Pflicht. Die Krankheit Parkinson als Folge von Schlägen gegen den Kopf, die Alis Leben in den letzten drei Jahrzehnten bestimmt hat, tritt bei Amateurboxern eher selten auf. Bei Berufsboxer muss sie wohl als Berufskrankheit bezeichnet werden.

Alle Lobpreisungen von Alis Boxkunst betreffen Profi-Boxkämpfe, also solche, bei denen gesundheits- und oft auch lebensbedrohend aufeinander eingedroschen wird. Warum gibt es keine Artikel mit hohen Einschaltquoten beim Amateur-Boxsport? Weil Geld die Sportwelt regiert? Weil offene Brutalität als sexy gilt? Weil 99,9 Prozent aller Artikel über Muhammad Ali von Männern verfasst wurden?

Thomas Hüetlin schrieb 2016 im Spiegel: "Ali ging es immer um mehr. Ausgerechnet Boxen, die brutalste Sportart, verwandelte er in ein Schauspiel von Schönheit und Hoffnung. In Kunst." Jan Philipp Reemtsma, der 2013 ein Buch über Muhammad Ali schrieb, erkennt dabei durchaus eine Widersprüchlichkeit, so wenn er anlässlich des Todes von Mohammad Ali äußerte:

"Mein Herz schlägt, wenn ich das so sagen darf, für den Virtuosen im Boxring, dem es gelungen ist, einem an sich nicht sehr diffizilen Sport eine so eigene Note zu geben, dass auch so gewalttätige Auseinandersetzungen auf einmal Schönheit gewinnen. Alis Kämpfe haben eine eigene Choreographie, und das habe ich immer mit großem Genuss gesehen."

Raphael Hillebrand, Tänzer und Choreograph, schrieb in einem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juni 2016: "Ali besaß absolute Körperkontrolle und einen hocheffizienten Umgang mit Energie." Wie ein Tänzer habe er Begeisterung für seinen Körper ausgestrahlt. "Bewundernswert war aber auch die Haltung, mit der Ali seine Krankheit in die Öffentlichkeit trug. Wie dieses einst so irrsinnig eitle, testosterongesteuerte Kraftpaket den Schicksalsschlag akzeptierte, auch das war eine Lebenslektion für mich."

Wobei man auch über Ali Muhamads letztem großen Auftritt, dem in Atlanta, unterschiedlicher Auffassung sein kann. Bei der in der Burn-McMahon-Doku wiedergegebenen Szene, in der Ali im vollen Scheinwerferlicht da steht und, am ganzen Körper zitternd, die Fackel kaum halten kann – da hatte ich eher den Eindruck, dass die Millionen Zuschauer sich in Voyeure verwandelt sahen.

Doch zurück zum Thema "Schönheit des Berufsboxertums": In den meisten aktuellen Beiträgen zur Würdigung von Ali Muhammad – ansatzweise auch im Schlussteil der Burns-McMahon-Doku – springt die Verherrlichung des Profi-Boxkampfs ins Auge. Es finden sich so gut wie keine kritischen Worte zu dieser Art "Sport" als solchem. Und immer wieder wird Ali als Kämpfer gegen Rassismus und überzeugender Vertreter von schwarzer Würde präsentiert.

Ali sei "zur wichtigsten Identifikationsfigur der Schwarzen weltweit" geworden, heißt es in einem Artikel des öffentlich-rechtlichen Portals "Planet Wissen". Der Frankfurter Journalist Hartmut Scherzer vergleicht Ali gar mit dem südafrikanischen Freiheitskämpfer Nelson Mandela: "Der eine hat sein Leben und seine Freiheit hingegeben, der andere seine Titel und seine Karriere."

Wenn Weiße zuschauen, wie Schwarze sich verprügeln

Aber waren nicht insbesondere Alis Boxkämpfe in Kinshasa und Manila nicht just so, wie die Weißen jahrhundertelang die Schwarzen sahen – und wie sie sie auch behandelten? Wiederum: So wie Muhammad Ali seine Kontrahenten vielfach behandelte?

Wer sich die millionenfach angeklickten Youtube-Videos dieser beiden großen Kämpfe – die zum Zeitpunkt ihrer "Uraufführung" von Dutzenden Millionen Menschen vor den Schwarz-Weiß-Bildschirmen live verfolgt wurden – heute ansieht, der kann darin eigentlich nur eines erkennen: eine pure Gewaltorgie, das Einprügeln auf den Gegner und das Hinnehmen drohender schwerer Verletzungen und heftigster gesundheitlicher Spätfolgen.

Wir leben in einer Zeit, in der Stierkämpfe zu Recht als Tierquälerei gelten und weitgehend verboten werden. Warum sollte der Profi-Boxsport nicht ebenso behandelt, ja verboten werden? Muhammad Ali hatte bei dem Thema durchaus seine hellen Momente – und dann überzeugende Einsichten: "Boxen ist, wenn viele Weiße dabei zuschauen, wie zwei Schwarze sich verprügeln."

Nach dem "Thrilla in Manila" äußerte er: "Wir kamen als Champions und wir gingen als alte Männer." 1969 sagte er offen, er kämpfe mit dem alleinigen Ziel, um seine Schulden los zu werden. Worauf ihn Elijah Mohamed Ali aus dem "Nation of Islam" verstieß. Was dann revidiert wurde; die Sekte benötigte schließlich das Geld der Kampfmaschine Ali.

Sieht man einmal von der Formel 1 ab, so gibt es keinen Massensport, der derart direkt die Grundprinzipien des Kapitalismus verkörpert: Das Jeder gegen Jeden, das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, die Verherrlichung des männlichen "gesunden" Körpers, die Weckung primitivster Instinkte bei den Zuschauern, der Einsatz von Dutzenden Millionen US-Dollar, womit elementare menschliche Grundsätze wie Schutz der körperlichen Unversehrtheit, Respektierung der Gesundheit des Mitmenschen im Wortsinn k.o. geschlagen werden.

"K.o." meint: Knock-out, meint, den Gegner durch Schläge – bevorzugt gegen den Kopf – zu Boden zu schlagen und auf diese im Reglement bevorzugte Weise einen Boxkampf zu gewinnen. Ali hat 37 seiner 61 Profikämpfe durch K.o. beendet.

Es war Adolf Hitler, der – neben dem Rennsport – Boxen als die angemessenste Sportform des Faschismus bezeichnet hat. In "Mein Kampf" hob er hervor:

Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist in gleichem Maß fördert, blitzschnelle Entschlusskraft verlangt, den Körper zur stählernen Geschmeidigkeit erzieht.


Adolf Hitler Mein Kampf, zwei Bände, Berlin 1933, S. 454f.

In "Erziehungsgrundsätze des völkischen Staates" argumentierte Hitler auch, dass eine Bourgeoisie, die den Boxsport zu ihrer Tugend gemacht hätte, die Novemberrevolution verhindert und von vornherein die Konterrevolution ermöglicht hätte. Inmitten des Zweiten Weltkriegs benutzte dann Joseph Goebbels Bilder aus dem Boxring, um den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu festigen.

Nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad formulierte der deutsche Propagandaminister:

Wir wischen uns das Blut aus den Augen, damit wir klar sehen können, und geht es in die nächste Runde, dann stehen wir wieder auf den Beinen. (…) Ein Volk, das bisher mit der Linken geboxt hat und eben dabei ist, die Rechte zu bandagieren, um sie in der nächsten Runde rücksichtslos in Gebrauch zu nehmen, hat jetzt keine Veranlassung mehr, nachgiebig zu sein.


Joseph Goebbels, zitiert bei Victor Klemperer / LTI, S. 247

Sagte ich, die Grundprinzipien des Boxsports seien zugleich die Grundlagen des Kapitalismus? Das stimmt. Und es stimmt auch wieder nicht. Selbst beim Profi-Boxsport gibt es eine Reihe Regeln, die gemeinhin eingehalten werden. Es gibt Gewichtsklassen; ein Schwergewicht darf nicht gegen ein Leichtgewicht in den Ring gehen. Es gibt Ringrichter, die zwischen die Kämpfenden gehen und sie trennen können.

Und es gibt auch ein paar feste Regeln – Schläge unter der Gürtellinie sind nicht gestattet. Man kann den Kampf aufgeben und das Handtuch werfen. Und man darf nicht auf einen niedergehenden und am Boden liegenden Kontrahenten einprügeln.

Im entgrenzten, deregulierten Kapitalismus gibt es vergleichbare Einschränkungen nicht oder nicht mehr. Man schickt längst Leichtgewichte in einen Boxring, den Schwergewichte beherrschen. Siehe die Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten. Schläge unter die Gürtellinie sind erlaubt, ja, sie sind die Regel. Siehe die medialen Kampagnen, wie wir sie in den Jahren 2010 bis 2016 im Fall Griechenland erlebt haben.

Wenn ein Land ausgepowert zu Boden geht, darf man mit Spardiktaten, die lebenswichtige Infrastruktur bedrohen, weiter auf dieses Land eindreschen. Siehe das Vorgehen der EU-Troika in dieser Zeit gegenüber den Eurozonen-Peripheriestaaten.

Und wenn der Weltkapitalismus nach der Corona-Krise 2020/21 für neues Wachstum und für ein "weiter so" trommelt, dann gehen die Entscheider stillschweigend davon aus, dass die Leichtgewichte im globalen Süden die Folgen des Klimanotstands im Wortsinne ausbaden müssen.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie.

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