Zeitbombe Syrien: Ein fataler Fehler von Nato-Ländern

Archivbild: Hayat Tahrir asch-Scham (Quelle: Propagandamaterial)

Wie der Angriff eines US-Spezialkommandos auf den IS-Anführer Abu Ibrahim al-Qureishi den al-Qaida-Abkömmling HTS stärkt und die Sanktionen eine repressive Herrschaft auf Kosten der Bevölkerung

Wie, die USA, die Türkei und eine al-Qaida-Nachfolge-Organisation im selben Arrangement? Die Aussage, die dieses Faktum aufstellt, stammt von jemandem, der nichts mit verschwörerischen Spekulationen am Hut hat.

Monatelang, so Wassim Nasr, französischer Experte für islamistische Gruppierungen und Milizen, seien die USA dem IS-Anführer Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi auf der Spur gewesen (siehe Video ab Minute 12:23 - in Englisch). Als kürzlich wichtige IS-Milizenführer die Flucht aus einem Gefängnis in Nordsyrien gelang, bestätigten Kontakte zwischen ihnen und "Abu Ibrahim" aller Wahrscheinlichkeit nach die Spur des US-Kommandos zur Tötung des IS-Chefs.

"Vom Schlachtfeld genommen"

Tage später wurde sein Tod gemeldet. Er wurde vom "Schlachtfeld genommen", teilte US-Präsident Biden am vergangenen Donnerstag mit. Die USA verbuchten einen weiteren Erfolg für die Tötung eines Top-Terroristen. Laut eines US-Regierungsmitarbeiters hatte sich "Abu Ibrahim" selbst in die Luft gesprengt, als die US-Spezialkräfte sein Haus stürmten.

Da al-Quraischi sein Versteck in Idlib gesucht hatte, wo er seit längerem angeblich unerkannt, "sehr geheim", mit seiner Familie lebte, in nächster Nähe zur türkischen Grenze und im Herrschaftsgebiet der dschihadistischen Miliz HTS (Hayat Tharir asch-Scham), mussten die US-Militärs Absprachen zumindest mit der Türkei treffen, so der französische Journalist Wassim Nasr.

Ob nun die USA in irgendeiner Weise an diesen Abmachungen beteiligt waren, ist offen: Aber es gab Kontakte zwischen Vertretern der Türkei und Führern der HTS. Anders sei das Verhalten der HTS nicht zu erklären, die am Abend des Angriffs des US-Spezialkommandos auf Abu Ibrahims Unterschlupf dafür sorgten, dass die Straßen blockiert blieben und das Geschehen nicht von außen gestört wurde, so Nasr. Der "Islamische Staat" ist ein Konkurrent der HTS, die den syrischen Dschihad für sich reklamieren.

Wassim Nasr kann nicht als "Assad- oder Putin-Versteher", der sich deren Kritik an der Zusammenarbeit mit Islamisten zu seiner Sache gemacht hat, abgetan werden. Er ist keiner, der sich auf eine prinzipielle Kritik an der westlichen Politik in Syrien festlegt.

Das ist wichtig zu wissen, weil man in diesem Fall davon ausgehen kann, dass die Verbindungen zwischen Terroristen und zwei wichtigen Nato-Mitgliedern nicht von jemandem hergestellt werden, der solche Kritik auf seiner politischen Agenda hat.

Nasr ist auch kein Anhänger der SDF, der es darauf abgesehen hat, die Türkei über ihre Verbindungen zu Terroristen anzuschwärzen. Er hat über viele Jahre hinweg über seine Arbeit Drähte zu Islamisten und Dschihadisten aufgebaut, die ihn mit Hintergrundinformationen versorgen.

Was folgt aus diesem Arrangement, das die Erfolgsmeldung vom US-Schlag gegen das neue Haupt des IS ermöglichte?

Die Entdämonisierung einer Terroristen-Miliz

Was den al-Qaida-Abkömmling HTS und dessen Führer al-Golani betrifft, so gibt es wenig Zweifel daran, dass sie damit weitere Rückendeckung dafür bekommen haben, ihre Herrschaft in Idlib zu zementieren und sich damit weiter ihrem Ziel nähern, als Verhandlungspartner bei politischen Verhandlungen über die Zukunft Syriens unabdingbar zu sein. Al-Golani arbeitet schon lange an der "Entdämonisierung" der HTS, die bei der UN, in den USA, in Russland, in der Türkei als Terrorgruppe gelistet ist ( Syrien: Dschihadisten-Chef Golani auf dem Weg zum Staatsmann).

Dass die HTS nun ihre Säuberungsaktionen gegen andere dschihadistische Milizen fortsetzt, offensichtlich mit noch größerer Vehemenz als vor dem Angriff auf Abu Ibrahim und mit Fokus auf ausländische Kämpfer, spricht dafür, dass die Entdämonisierungs-Imagepflege (Mission: "Wir sind keine Dschihadisten, wir sind eine syrische Opposition") mit neuem Rückenwind weiterbetrieben wird. Spekulativ, aber ziemlich wahrscheinlich ist, dass der "Rückenwind" faktisch auch mit einer Abmachung mit der Türkei in Verbindung steht.

Quellen, die den Dschihadisten in Idlib nahe stehen und mit Al-Monitor sprachen, sagten, dass HTS einige Anführer von Sham al-Islam verhaftet habe, die sie beschuldigten, türkische Konvois angegriffen und die Interessen der Zivilisten in Idlib geschädigt zu haben, indem sie gegen die türkische Präsenz hetzten.

Al-Monitor

Es gibt Spekulationen von Kennern des Geländes, die davon ausgehen, dass die Türkei in der Sache "Abu Ibrahim" mit der HTS eine Vereinbarung bestärkt hat, wonach man sich bei den jeweiligen regionalen Interessen in Syrien mindestens in Ruhe lässt, bzw. stärker zusammenarbeitet.

Und, wie es etwa der französische Syrien-Experte Francois Balanche vermutet, dass sich die Kurden der autonom verwalteten Gebiete Sorgen machen müssen, da die USA der Türkei als Gegengeschäft möglicherweise Konzessionen zugestanden haben.