Putin: Vom Schiedsrichter zum Angriffskrieger

Präsident Putin wird nun auch von ungewohnter Seite innerhalb Russlands kritisiert. Noch passen sich aber die meisten an. Archivbild: Пресс-служба Президента России / CC-BY-4.0

Der Wechsel auf die radikale Konfrontation durch Krieg ist im Kreml nicht nur ein neuer Kurs. Er gilt auch mehr als der alte als persönliches Werk des Präsidenten

In den letzten Jahren hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin vor allem bei innenpolitischen Entscheidungen stark zurückgehalten. Zahlreiche russische Analysten berichteten davon, dass er sich als Symbol des Systems vor allem auf seine Funktionen zum Ausgleich zwischen Interessengruppen, als beim Volk beliebtes Gesicht des Systems und der Repräsentation im Ausland beschränkte.

Die Tagespolitik schien ihn – außer bei der Verfassungsänderung im letzten Jahr – kaum zu betreffen, er wirkte von ihr entrückt. In den zahlreichen Videos auf der Kreml-Seite lauscht er nur Vorschlägen oder äußerte Kritik an mangelhafter Umsetzung von Regierungsinitiativen. Das galt auch für die gerade erst zu Ende gehenden Coronavirus-Pandemie.

Ende der kollegialen Beratung

Am vergangenen Montag zeigte Putin für viele Beobachter unerwartet ein ganz anderes Gesicht – erstmals bei der Sitzung seines Sicherheitsrates, in dem zahlreiche Staatsgrößen wie Geheimdienstchefs zusammensaßen. Gegenstand der Beratung war die Anerkennung der Rebellengebiete im Donbass als unabhängig – wie wir heute wissen ein Vorspiel zu einer umfassenden Militärinvasion im Nachbarland Ukraine.

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Die russische Regierung setzte Ende Februar 2022 als Reaktion auf die EU-Sanktionen in Zuge des Angriffs auf die Ukraine alle Raketenstarts vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana aus. Die Weltraumbehörde Roskosmos stoppe "die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern bei der Organisation von Weltraumstarts vom Kosmodrom Kourou aus", hieß es. Auch das technische Personal, knapp 90 Mitarbeiter, würden aus Französisch-Guayana abgezogen. Unser Bild zeigt ein Sojus-Raumschiff in Kourou. Bild: elisabetta_monaco / CC-BY-2.0

Der Moskauer Journalist und Analyst Andrej Perzew nannte bereits diese Sitzung eine Änderung der Machtverhältnisse. Plötzlich gab es nur eine Entscheidungsquelle. Das zuvor in allen Darstellungen des Kreml dominante Modell der kollegialen Beratung sei schlagartig abgelöst worden. Putin riss die Initiative an sich, selbst die obersten Berater hätten laut Perzews Analyse für das Moskauer Carnegie-Zentrum sehr plötzlich das Recht auf eine eigene Sicht der Lage und "vor allem auf deren Berücksichtigung" verloren.

Selbst vom Funktionsumfeld zu spät bemerkt

Dieser Wandel kam gerade für innerrussische Experten völlig überraschend – und war er vorher geplant, waren nur wenige eingeweiht. Noch beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wenige Tage zuvor bestand Putin auf Anerkennung der Minsker Vereinbarung. Der wichtigste Berater seines Außenministeriums, Andrej Kortunow, drückte noch zwei Tage vor dem Kurswechsel gegenüber der Münchner Abendzeitung seine Hoffnung aus, sein Präsident werde keine Schritte wie die Anerkennung dieser "Republiken" unternehmen, weil damit Russland als Aggressor dastünde.

Mit dem folgenden Angriff hatte Kortunow zu diesem Zeitpunkt erst recht nicht gerechnet. Dass diese Hoffnung ehrlich war, zeigt sich daran, dass er aktuell auch zu den öffentlichen Kritikern des aggressiven Kurswechsels im Kreml gehört. Obwohl er Generaldirektor des wichtigsten außenpolitischen Thinktanks in Russland ist, einer Gründung zweiter staatlicher Ministerien.

Auch die Mitglieder des Sicherheitsrates wirkten auf der Sitzung nicht wirklich informiert über das, was drohte und vorging. Das zeigte sich insbesondere dadurch, dass es auch mahnende Stimmen gab, die zur Zurückhaltung aufforderten. Der zuvor jahrelang zuhörende und abwägende Präsident zeigte ihnen gegenüber ein völlig neues Gesicht. Sein Chef der Präsidialverwaltung durfte sich gar nicht äußern, Geheimdienstchefs verkamen zu Statisten, die eine bereits getroffene Entscheidung nur noch enthusiastisch bejubeln durften.

Schock auf Schock unter persönlichem Befehl

Nach der Anerkennungsentscheidung folgte Schock auf Schock. Es wurde klar, dass Russland die Ukraine militärisch attackiert. Es wurde klar, dass es sich nicht um eine begrenzte Militäraktion im Donbass, sondern um eine umfassende Invasion handelte. Und es wurde klar, dass all das auf ureigenste Initiative des Präsidenten geschah, der das Ruder persönlich in die Hand nahm, um es komplett herumzureißen.

Das zeigte sich vor allem an Putins folgenden großen öffentlichen Ansprachen. Er stellte die Berechtigung zur Staatlichkeit der Ukraine in Frage, bezeichnete das Land als Nato-Satelliten und zeichnete ein ganz eigenes Geschichtsbild. Der Chef des russischen Umfragezentrums Lewada Lew Gudkow sah in den Reden den starken Wunsch Putins, den ukrainischen Staat zu diskreditieren, notfalls unter Vermischung wahrer und falscher Aussagen.

Diese Reden sprechen nach Ansicht des russischen Politologen Wladimir Gelman für einen "tiefen Groll und Frustration des russischen Staatsoberhaupts gegenüber der ganzen Welt um ihn herum und vor allem gegenüber der Ukraine". Putin gefalle nicht, dass er die Ukraine nicht kontrollieren könne, es gefalle ihm nicht:

Es ist, wie wenn Sie gegen Ihren Willen geschieden wurden und Ihre Ex-Frau lebt, wie es ihr gefällt. Sie können nicht so tun, als hätte die Scheidung nicht stattgefunden.


Der Politologe Wladimir Gelman gegenüber der Internetzeitung Meduza

So analysierte Gelman die Lage kurz vor Beginn der eigentlichen Invasion. Inzwischen lässt sich hinzufügen: Putin geht auch zum Äußersten, um diesen Zustand zu ändern, er will sich diese Ex-Frau über Leichen in einem Krieg zurückholen. Dieser nun öffentlich sichtbare Wandel vom Schiedsrichter zum alles bestimmenden Angreifer kann sich rückblickend nicht von heute auf morgen vollzogen haben.

Der österreichische Russlandexperte Gerhard Mangott glaubt laut einem Interview, dass sich in der Umgebung Putins in letzter Zeit vor allem Vertreter der Militärs und des Sicherheitsrates durchgesetzt hätten, die ein Eigeninteresse an einer Eskalation hätten.

Doch diese Erklärung steht nur für einen Teil des Wandels. Denn neben dem Kurswechsel in Richtung totaler Konfrontation gibt es auch noch das Heraustreten des Herrn des Kreml aus dem Kreis seiner Berater, die er nur scheinbar als schwebendes Symbol vieles in der Politik selbst organisieren ließ. Er wandelte sich vom scheinbaren Ersten unter Gleichen zu dem, der ganz alleine das Sagen hat, wie es Andrej Perzew von der Moskauer Denkfabrik Carnegie-Zentrum ausdrückt.

Er ist kein Garant mehr für Stabilität, kein Schiedsrichter mehr und nicht nur der Erste. Er ist kein Volkspräsident, kein Sprecher der Elite und nicht einmal mehr ein Vermittler zwischen Elite und Volk. Jetzt ist er der alleinige Chef.


Andrej Perzew

Noch passen sich die meisten an

Gerade im bürokratischen Apparat Russlands sind aktuell noch viele bereit, sich an diesen neuen Kurs anzupassen. Das liegt auch an der symbolischen Stellung Putins, die er auch in Zeiten geringer Aktivität nicht verloren hatte: Das Symbol des Systems ist von jeder Kritik auszunehmen.

Die Frage ist jedoch, inwieweit sich das ändert ab dem Moment, wo die Dinge in Folge des Kurswechsels für die Russen nicht mehr gut laufen. Harte wirtschaftliche Einbußen für die breite Bevölkerung werden zudem eine Folge der ebenso harten Sanktionen sein.

Bestimmte Einflussgruppen, wie etwa die Chefetagen der Staatskonzerne, gehören bei diesem Konfrontationskurs zu den absoluten Verlieren, Europa und andere werden Gazprom und Rosneft als Lieferanten so eilig wie möglich den Rücken kehren. Wie es der Programmdirektor des Waldai-Klubs, Iwan Timofejew ausdrückt, landet Russland aktuell hinter einem neuen Eisernen Vorhang.

Dieses Mal jedoch ohne umfangreiche Gesellschaft. All diese langfristigen Wirkungen werden auf Putin selbst zurückfallen, weil er für den Kurswechsel durch seine Verhaltensänderung unzweifelhaft als Person steht. Dass Putin am Sonntag unter anderem die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt hat, dürfte nicht nur im Westen vielen Menschen Angst machen.

Der bekannte russische Kremlkenner Michail Sygar hat sein Buch über die Hintergründe der Macht in Moskau mit folgenden Worten enden lassen:

Wir alle haben uns unseren Putin erschaffen. Und wahrscheinlich noch lange nicht die letzte Version.


Michail Sygar: Вся кремлёвская рать

Diese letzte Version ist nun doch da, denn das Image des Angriffskriegers wird – zumindest außerhalb Russlands – nicht mehr verschwinden.

Roland Bathon ist Autor des Sachbuchs "Putin ist nicht Russlands Zar" (ISBN 978 37557 54183), weitere Infos www.journalismus.ru

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